(Gegenwind 313, Oktober 2014)
Seit dem Oktober 2013 gab es in der Ukraine Proteste gegen die korrupte Regierung, die für alle überraschend explodierten, als Präsident Janukovich sich weigerte, das fertig ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben. Innerhalb von Tagen schwollen die Demonstrationen auf über eine Million Menschen an. Das langfristig organisierte Protestlager auf dem zentral in der Hauptstadt Kiew gelegene Maidan führte zu schweren Auseinandersetzungen, Spezialeinheiten der Polizei erschossen rund 100 Demonstranten. Der angekündigte Sturm des Parlaments führte zur Panik in der Regierung, der Präsident und viele seiner Unterstützer flohen nach Russland.
Die Panik bei der Führung in Kiew steckte an: Die russische Regierung will seit dem Februar 2014 um jeden Preis verhindern, dass der von der Straße erzwungene Regierungswechsel in der Ukraine oppositionellen Strömungen in Russland als Vorbild dient. Als erstes wurde die mehrheitlich russisch bewohnte Halbinsel Krim militärisch besetzt, eine Woche später fand eine „Unabhängigkeitserklärung” mit anschließender Abstimmung über den Anschluss an Russland statt, was von Russland am gleichen Tag bestätigt wurde.
Anschließend wurden Proteste in mehreren Städten im Osten der Ukraine initiiert, wo „Separatisten” die Unabhängigkeit forderten. Auch hier handelte es sich aber nicht um „unzufriedene Ukrainer”, wie russische Medien schrieben, sondern um schwer bewaffnete Einheiten russischer Herkunft, die mit Panzern und Flugabwehrraketen ausgerüstet wurden. Die Führungsspitze bestand bis Mitte August ausschließlich aus Militärs aus Russland, die angeblich als „Freiwillige” agierten. Sie mussten allerdings wöchentlich nach Moskau reisen, durften nicht selbst Entscheidungen treffen. Nach dem erfolgreichen Vorrücken der ukrainischen Armee und der Aufspaltung des Kampfgebietes in mehrere Kessel wurde die Führungsspitze Mitte August gegen weitgehend unbekannte Einheimische ausgetauscht, gleichzeitig rückte die russische Armee unter hohen Verlusten ein und konsolidierte das Gebiet wieder, das rund 1,5 Prozent des Staatsgebietes der Ukraine ausmacht.
Auffällig ist das fast komplette Schweigen der „Friedensbewegung” in Deutschland zum russischen Angriff. Das liegt vor allem daran, dass sie aus der Zeit der Block-Konfrontation kritisch gegenüber der NATO (und inzwischen auch gegenüber der EU) eingestellt ist, während die neo-nationalistische Regierung Russlands trotz der beiden Tschetschenien-Kriege auf Verständnis rechnen kann. Die EU-Assoziierung, nicht der Einmarsch russischer Truppen wird als Angriff auf die Ukraine wahrgenommen.
Der deutsch-russische Handel beträgt rund 80 Milliarden Euro und sinkt. Er ist auch sehr ungleich verteilt: Russland liefert fast nur Rohstoffe und kauft vor allem Maschinen und Anlagen. Von 2012 auf 2013 ist vor allem der russische Import um rund 5 Prozent gesunken, Grund war die Wirtschaftskrise in Russland. Für 2014 ist ein viel stärkerer Rückgang zu erwarten. Dieser Rückgang war schon Anfang 2014 deutlich zu spüren, also bevor in der Ukraine die Regierung gestürzt wurde und Russland sich zur Intervention entschloss.
Die Ursache dafür ist, dass Russland in den letzten 15 Jahren zu einem Rohstoff-Lieferanten abgesunken ist. Heute bestehen die Exporte zu rund 80 Prozent aus Rohstoffen, vor allem Öl, Gas und Metalle. Diese Exporte finanzieren den Staatshaushalt zu rund 50 Prozent (Abgaben auf Öl und Gas machen 44 % des Gesamthaushaltes aus). Die Einnahmen wurden zum Konsum verwendet. Die einheimische Industrie wurde nicht modernisiert, weil das Geld ja reichte, moderne Maschinen einzuführen. Heute hat die russische Industrie auf vielen Gebieten den Anschluss an die USA, Europa oder Japan verloren, auf einigen Gebieten ist Russland von China überholt worden.
Russland hat aber die Verschuldung eindämmen können und große Reserven angelegt. Die Währungsreserven betrugen Anfang 2014 rund 500 Milliarden Dollar, angelegt vor allem auf Banken in der EU. Um die Sanktionen, die Russland seit der Annexion der Krim treffen, auszugleichen, reicht die Hälfte dieser Rücklagen aus. Deshalb ist Russland in der Lage, auch verschärfte Sanktionen eine ganze Zeit auszuhalten, verspielt damit aber seine Zukunft.
Deutschland hat ein großes Interesse daran, diese Beziehungen nicht zu gefährden, und gilt deshalb innerhalb der EU als der „größte Bremser” bei allen Diskussionen über Sanktionen. Deutschland hatte sich frühzeitig gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine ausgesprochen, ebenso gegen einen EU-Beitritt. Deutschland hat sich in der EU immer dafür eingesetzt, die Verhandlungen zur Visaerleichterungen mit Russland und der Ukraine parallel zu führen und niemanden zu benachteiligen. Man wollte die Ukraine auf die westliche Seite ziehen, ohne die Beziehungen zu Russland zu gefährden.
Russland will langfristig ein Gegengewicht zur EU schaffen, beginnend mit einer Zollunion mit den Nachbarstaaten. Diese sollte in diesem Sommer zu einer „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft” werden, später dann zu einer „Eurasischen Union”. Die Schritte sind der Entwicklung der EU von der Montanunion bis zur heuten Union nachempfunden, allerdings in einem viel kürzeren Zeitraum geplant. Russland ist es jetzt nicht gelungen, das wichtigste Nachbarland, die Ukraine, dafür zu gewinnen. Die beiden einzigen Partner blieben Belorus und Kasachstan, von der Bevölkerung und der Wirtschaftskraft gesehen weit weniger gewichtig. Kandidaten sind Armenien und Kirgisien, eher kleine Staaten also. Und Kasachstan zeigt sich bereits höchst irritiert über die Ausfälle Putins gegen die angeblich künstlichen Grenzziehungen der Nachbarrepublik, die eine große russische Minderheit einschließen. Der dortige Präsident, undemokratisch wie der in Russland und Belorus seit 24 Jahren im Amt, kritisierte die Annexion der Krim scharf und drohte auch schon mit Austritt aus der Eurasischen Union.
Der Handel zwischen Deutschland und der Ukraine betrug 2012 rund 8 Milliarden Euro und lag damit bei rund 10 Prozent des Umfangs des deutsch-russischen Handels. In der Ukraine ist seit der Unabhängigkeit der Staatsaufbau nie gelungen, behindert wird die Entwicklung der Wirtschaft vor allem durch die starke Korruption und die Veruntreuung von Gelder, die ins Ausland gebracht wurden und werden. So waren zum Beispiel die Fußballstadien zur Europameisterschaft 2012 rund ein Drittel teurer als die Stadien in Polen, eine Folge der Korruption.
Insbesondere das Regime des Präsidenten Janukovich plünderte das Land aus, das im Herbst 2013 praktisch zahlungsunfähig war. Die Importe sanken um rund ein Viertel, weil insbesondere Staatsbetriebe nicht mehr zahlen konnte.
Die Ukraine exportiert Rüstungsgüter, Metalle, Maschinen, Textilien und Nahrungsmittel. Dabei sind Rüstungsgüter und Maschinen vor allem in Russ-land gefragt, in der EU sind sie kaum konkurrenzfähig. Importiert werden Metalle, Fahrzeuge, Nahrungsmittel und Kleidung - bis auf Fahrzeuge also Güter, die bei besserer Entwicklung auch selbst hergestellt werden könnten. Deutschland ist einer der kleineren Handelspartner, bei den Importe mit etwas über 10 Prozent, den Exporte bei rund 4 Prozent vertreten.
Das Interesse Deutschland, und gemeint ist hier die Bundesregierung und die Wirtschaft, an der Ukraine besteht vor allem darin, das Land bei allen Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber Russland zu unterstützen, damit die Eurasische Union nicht zu einer Konkurrenz zur EU heranwächst. Das ist aus deutscher Sicht am besten durch eine demokratische Entwicklung und, nach dem Zurückdrängen der Korruption, durch den Aufbau eines Rechtsstaates zu gewährleisten.
Deutlich erkennbar ist auch ein unterschiedliches Interesse Deutschlands und der USA: Beide wollen, dass die Ukraine dem Westen angehört und sich von Russland trennt. Deutschland möchte aber die Beziehungen zu Russland, vor allem den Bezug von Rohstoffen, so wenig wie möglich gefährden, möchte auch eine möglichst intakte Ukraine als EU-Partner, weil man in der Pflicht ist, Wiederaufbauhilfe zu leisten. Die USA brauchen weder Rohstoffe von Russland noch sind sie zur Hilfe für die Ukraine verpflichtet, sie können im Konflikt mit Russland auch die Ukraine über die Klinge springen lassen.
Hier lebende Einwanderer aus Russ-land und der Ukraine fühlten sich bis zum November 2013 oft als Einwanderer aus den gleichen Herkunftsländern, auch wenn es gegenseitige Vorurteile gibt - die existieren allerdings zwischen Einwanderern aus Moskau und Sibirien genauso. Seit Beginn des Krieges gibt es teils heftige Auseinandersetzungen, vor allem aber Schweigen. Viele haben sich stumm darauf verständigt, nicht über die Ereignisse zu diskutieren.
Fast ebenso schwierig ist es, einzelne Menschen zu einem Interview zu gewinnen.
Die Diskussion in den Online-Ausgaben der großen Medien verläuft sehr merkwürdig: Viele nutzen das Thema, um relativ wenig verbreitete Verschwörungstheorien einem vermeintlich großen Publikum zu präsentieren. Die russische Regierung hat darüber hinaus eine eigene PR-Firma gegründet, die mit ungefähr 300 Hilfskräften Online-Kommentare schreiben lässt, die meist durch die geringe Tiefe und mangelhafte Sprachkenntnisse einfach zu erkennen sind, die Firma selbst ist mit ihrem Call-Center in St. Petersburg ansässig.
Die Online-Diskussionen sind zum Teil sehr speziell. Zu Beginn der Besetzung der Krim stellte die russische PR-Firma Kopiervorlagen bereit wie „Dafür gibt es keine Beweise”, die fleißig unter Zeitungsartikel über russische Besatzungssoldaten auf der Krim kopiert wurden. Alle Diskussionsteilnehmer wurden dann von Präsident Putin kalt lächelnd blamiert, der eben diesen Besatzungssoldaten später in Moskau Orden verlieh und erläuterte, selbstverständlich sei es die reguläre Armee gewesen, die den Anschluss der Krim an Russland abgesichert habe.
Als dann später, nach dem Einmarsch russischer Truppen in der Ost-ukraine, ab Mitte August von hohen Verlusten, Hunderten von heimlichen Beerdigungen in Russland und Schätzungen der Soldatenmütter berichtet wurden, die Zahl der Gefallenen habe die 2.000 überschritten, wurden genau die alten Vorlagen „Dafür gibt es keine Beweise” direkt unter die Fotos der Beerdigungen kopiert, ohne dass die Diskutierenden die Absurdität ihrer Beiträge bemerkten. Und selbst als der russische Finanzminister Mitte September bekannt gab, zwei Drittel des Rentenfonds müssten aufgelöst werden, um die Auswirkungen der Sanktionen auf die Ölkonzerne abzufangen, wurde noch tapfer gepostet, die Sanktionen wäre in Russland überhaupt nicht zu spüren, während die EU aufgrund der abgesagten Obstexporte kurz vor dem Ruin stünde.
Die Regierung und ihre Vertreter sind äußerst zurückhaltend. Obwohl bereits Minuten nach dem Abschuss des malayischen Verkehrsflugzeuges MH17 zwischen Donezk und Lugansk am 17. Juli Dutzende von Belegen für die Urheber vorlagen, so zum Beispiel der Funkverkehr zwischen der Raketenstellung, der Einsatzleitung in Donezk und dem Oberkommando in Moskau, wurden diese in Berlin als „geheim” eingestuft und auch Bundestagsabgeordneten gegenüber die Einsicht verweigert. Dabei hatten die russischen Fernsehnachrichten unmittelbar nach dem Abschuss die Urheberschaft der Milizeinheit gemeldet, und zwar in den 90 Minuten, in denen man davon ausging, das abgeschossene Flugzeug wäre ein Transportflugzeug der ukrainischen Armee. Auch alle russischen Nachrichtenagenturen meldeten den „Erfolg” unter Nennung der Einheit und der Verantwortlichen. Insofern gehen diejenigen, die diese Urheberschaft leugnen, ein hohes Risiko ein, denn die meisten Menschen werden dem offiziellen Untersuchungsbericht glauben.
Die Bundesregierung hielt sich vor allem deshalb zurück, um ein Faustpfand gegen Russland in der Hand zu behalten, vor allem aber um die Handelsbeziehungen nicht zu gefährden. Auch ehemalige Bundeskanzler wie Gerhard Schröder drangen darauf, Russland nicht bloßzustellen.
Ansonsten benutzen viele die Diskussion, um die NATO und die EU zu kritisieren. Das ist berechtigt, verliert aber leicht an Glaubwürdigkeit, wenn man bei aller Kritik an der Aggression des Westens und drohender Kriegsgefahr zum real stattfindenden Angriffskrieg schweigt. Um den Konflikt wirklich diskutieren zu können, ist allerdings auch eine verbale Abrüstung der Nationalisten beider Seiten nötig: Weder ist Putin ein „neuer Hitler” noch regieren in Kiew „Faschisten”.
Veranstaltungen zum Thema sind - im Vergleich zur Bedeutung des Themas und der Größe der Einwanderer-Communities - sehr selten. Im gesamten Programm der Interkulturellen Wochen in Schleswig-Holstein, wie es im vorigen Gegenwind abgedruckt war, gibt es nichts, obwohl viele Einwanderer aus Russland und der Ukraine an der Vorbereitung von Veranstaltungen mitgewirkt haben. Selbst war ich bei einer sehr informativen Veranstaltung in Itzehoe, Referentin war Nataliya Schapeler, ukrainische Politikwissenschaftlerin, aber solche Veranstaltungen sind selten. Am 14. Oktober wird in Kiel eine Veranstaltung mit Kai Ehlers stattfinden, der eher auf Seiten der russischen Regierung steht.
In diesem Krieg zeigen sich wieder die Widersprüche innerhalb der deutschen Friedensbewegung. Bereits in den Nachfolgekriegen in Jugoslawien (Bosnien, Kosova) schlugen sich einige auf die Seite von Milosevic, andere auf die Seite der Opfer des Nationalismus. Problem war, dass die NATO auf einer Seite in den Krieg eingriff, insofern war Milosevic Gegner der NATO (und Massenmörder).
Eine ähnliche Konstellation er-gab sich und ergibt sich immer wieder in den Kriegen im Nahen Osten, wo ein Teil der Linken und / oder der Friedensbewegung je nach Saison die Regierung des Iran, die Hamas, den syrischen Diktator Assad, früher den irakischen Diktator Saddam Hussein unterstützt bzw. unterstützt hat, immer begründet mit der Gegnerschaft zur NATO oder dem Westen.
„Geschützt” vor solch einer pauschalen Parteinahme - NATO und Westen sind schlecht, also unterstützen wir deren Gegner - waren immer die, die Kontakte zu zivilgesellschaftlichen Organisationen, vor allem aber zu hier ankommenden Flüchtlingen hatten. Diese Menschen flohen vor Milosevic, Assad, Saddam Hussein und ließen den Gedanken daran, diese „starken Männer” zu unterstützen, gar nicht erst aufkommen.
Ebenso geht es denen, die bereits während der Tschetschenien-Kriege politisch aktiv waren. Putin organisierte diese Kriege zunächst als FSB-Chef, dann als Ministerpräsident, schließlich als Präsident. Wesentlicher Bestandteil seines Wahlkampfes 1999 bildeten die Beschuldigungen „tschetschenischer Separatisten”, sie seien für die Bombenanschläge auf Wohnhäuser im September 1999 in Moskau (und anderen Städten) verantwortlich, bei denen 300 Menschen getötet wurden. Ein Anschlag wurde durch aufmerksame Nachbarn rechtzeitig entdeckt und vereitelt, die Bombenleger waren allerdings FSB-Agenten. Später gaben einige weitere FSB-Agenten und Journalisten Einzelheiten zu Protokoll, alle starben aber kurz danach.
Im anschließenden Tschetschenien-Krieg, den Putin werbewirksam im Cockpit eines Kampfflugzeuges eröffnete, wurden vor allem Zivilisten getötet, in beiden Kriegen zusammen rund 160.000 Menschen, mehrere Hundertausend wurden zur Flüchtlingen (vgl. die Artikel von Ekkehard Maaß dazu). Vor diesem Hintergrund ist man davor geschützt, im Krieg Russlands gegen die Ukraine unbedacht Partei für Putin zu ergreifen, auch irgendeiner Erklärung oder einem Versprechen von ihm Glauben zu schenken, zumal die Opposition in Russland wie die Zivilgesellschaft in der Ukraine übereinstimmend entgegengesetzte Informationen gibt.
Zudem macht sich eine Stimme in der Öffentlichkeit unglaubwürdig, die „Kollateralschäden” der US-Angriffe auf den Irak zu Recht beklagt, zu den weit umfangreicheren Massakern der russischen Armee aber schweigt. Und wer überall auf der Welt zwischen Regierung und Bevölkerung unterscheiden kann, sollte das im Falle der Ukraine und Russlands auch können. Und dabei die Bevölkerung der Krim oder der Ost-Ukraine nicht vergessen.
Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten. Diese früher mal bekannte Weisheit muss man heute hervorkramen und darauf hinweisen: Der Krieg wird von Putin oben vorbereitet und durchgeführt. Unten, in der russischen Bevölkerung, wird er anscheinend mehrheitlich abgelehnt, deshalb die ständige Regierungsmitteilung, es gäbe ihn gar nicht, es wären Soldaten auf Urlaub. Allein die Tatsache, dass in Russland entsprechende Diskussionsbeiträge mit bis zu sechs Jahren Haft bedroht sind, sollte zu denken geben.
Reinhard Pohl