(Gegenwind 313, Oktober 2014)
Die Zeitschrift „Osteuropa” ist seit Jahren für wissenschaftlich seriöse Artikel bekannt. Der Schwerpunktband „Zerreißprobe” zur Ukraine macht da keinen Unterschied, auch wenn die Bezeichnung „Zeitschrift” täuscht: großes Format, aber 351 Seiten verleihen ihm nicht nur wissenschaftliches Gewicht.
Die Autorinnen und Autoren gegen das Thema systematisch an. Unter der Überschrift „Konflikt und Krise” wird zunächst die schwierige Staatsbildung abgehandelt. Die Ukraine hat mit ihrer Unabhängigkeit, der auch die russische Minderheit im Lande überwiegend zustimmte, der Sowjetunion den Todesstoß gegeben, die ohne die zweitgrößte Republik nicht mehr lebensfähig war - eine Entscheidung, die in Russland unter der Oberfläche bei der gegenwärtigen Führung noch sehr präsent ist. Anschließend wird die Revolution vom November 2013 bis Februar 2014 beschrieben, und zwar werden die „Revolution und ihre Feinde” dargestellt. Dann geht es um die Besetzung der Krim und deren Annexion, wobei die verschiedenen Zahlen für das Referendum nebeneinander gestellt werden.
Im zweiten Teil geht es um den Weg in den Krieg. Hier hilft ein Mittelteil mit vielen farbigen Karten, auf den Wahlergebnisse, Pro-EU-Proteste, Pro-Russland-Proteste und viele weitere nach Gebieten aufgeschlüsselt dargestellt werden, zusammen mit einer Darstellung der Anteile an Minderheiten und der Anteile der Muttersprache, hier vor allem natürlich Ukrai-nisch und Russisch. In einem eigenen Artikel werden die russischen Medien, dort ja staatlich gesteuert, als „zynisch mit journalistischem Antlitz” vorgestellt.
Ein eigner Artikel widmet sich den Oligarchen in der Ukraine, die einzeln mit den von ihnen beherrschten Sektoren der Wirtschaft, aber auch Provinzen des Landes vorgestellt werden. Auch dabei ist der gegenwärtige Präsident. Weitere Artikel diskutieren die Möglichkeiten der Föderalisierung und der gegenwärtigen Sprachenpolitik, die mit möglichen Plänen der Zukunft verglichen werden.
Die Demonstrationen vom Maidan werden bekanntlich von Moskau gefürchtet und deshalb diffamiert, für russische Medien sind diese „faschistisch”, was allerdings erfahrungsgemäß nicht politisch gemeint ist, sondern einfach eine gängige Beschimpfung Andersdenkender ist. Die Autorinnen und Autoren gehen da weitaus gründlicher heran und untersuchen das auf dem Maidan gepflegte Geschichtsbild, und zwar nicht nur bezogen auf den Widerstand während des Zweiten Weltkrieges (Stichwort: Bandera), sondern auch bezogen auf die Geschichte der Ukraine, zum Beispiel bezogen auf die Phantasieuniformen mancher Demonstraten, die Kosaken darstellen wollten.
Außerdem beschäftigt sich der Band mit dem Umgang mit Religion auf dem Maidan, der Beteiligung unterschiedlicher Religionsgemeinschaften, dem Zurverfügungstellen von Kirchen als Zufluchtsort und den entsprechenden Stellungnahmen der jeweiligen Kirchenleitung, die oftmals die gerade aktuelle Regierung unterstützen.
Der Abschlussteil ist den Perspektiven gewidmet. Hier geht es um Russ-lands Position, was nicht nur die inhaltliche Position zur Ukraine und der geplanten Eurasischen Union meint, sondern auch die Machtposition gegenüber der EU als Lieferland für Öl und Gas. Den deutschen Medien wird vorgeworfen, zu sehr auf Moskau und dessen Haltung zu starren und ukrainische Positionen nicht wirklich wahrzunehmen, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass kaum ein deutsches Medium dorthin eine feste Korrespondentin oder einen Korrespondenten entsandt hat. Die „Ukraine-Berichterstattung” aller deutschen Medien erfolgte bekanntlich seit dem Zerfall der Sowjetunion aus Moskau, ebenso wie vorher.
Ein besonderes Kapitel ist der Minderheit der Krim-Tataren gewidmet. Hier geht es insbesondere um deren „Schutzmacht”, die Türkei, die sich noch aus Zeiten des Osmanischen Reiches (über Jahrhunderte gehörte die Krim ja keineswegs zu Russland, sondern zur Türkei) eine besondere Verbindung dorthin hat. Diese beruht auf einer großen Bevölkerungsgruppe, die nach der russischen Eroberung der Krim in die heutige Türkei geflohen ist.
Wie immer sind die letzten Seiten einer Literaturübersicht gewidmet. Mehr als ein halbes Dutzend Bücher, vor allem wissenschaftlichen Charakters, zur Ukraine wird ausführlich (und in sehr kleiner Schrift) vorgestellt.
Insgesamt lohnt sich die Lektüre für alle, die sich wirklich über die Hintergründe informieren wollen und auch die notwendige Zeit für die Lektüre haben.
Reinhard Pohl