(Gegenwind 312, September 2014)
Der Psychologe und Hochschullehrer Prof. Dr. Rolf Verleger arbeitet an der Uniklinik Schleswig-Holstein in Lübeck. Bis 2005 war er im Vorstand der Jüdischen Gemeinde Lübeck, 2005-2006 Vorsitzender des Landesverbandes Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein. Gleichzeitig gehörte er dem Direktorium des Zentralrates der Juden in Deutschland an. Im Jahre 2006 kritisierte er den Krieg Israels gegen Gaza, zunächst innerhalb des Zentralrates, dann öffentlich. Bis 2009 verlor er daraufhin alle Positionen innerhalb der Jüdischen Gemeinde.
2008 veröffentlichte er sein Buch „Israels Irrweg” (siehe Gegenwind 244, Januar 2009, Seite 33). Es liegt heute in der 3. erweiterten und aktualisierten Auflage vor.
Am 26. Juli fand in Kiel eine Kundgebung für „Frieden in Gaza” statt, von drei Studentinnen organisiert. Hauptredner war Rolf Verleger. Wir nutzen die Gelegenheit für ein Interview.
Gegenwind:
Was passiert gerade in Israel und Gaza? Ist das ein Krieg? Ein Angriffskrieg, ein Verteidigungskrieg?
Rolf Verleger:
In meinen Augen ist das ein Massaker von Israel gegen Gaza. Ich habe es auch ein Pogrom genannt, wegen der überbordenden „Volkes Stimme” in Israel, die nach Blut von Arabern verlangt. Das ist eine Entwicklung. Die israelische Gesellschaft hat sich immer mehr nach rechts entwickelt, in der Regierung sind ja inzwischen Leute drin, die bei uns gesellschaftlich geächtet wären für das, was sie sagen an Rassismus und menschenverachtenden Dingen. Es fing ja damit an, dass die Regierung Netanjahu die Einheitsregierung zwischen Hamas und Fatah verhindern wollte und deshalb Hunderte von Hamas-Funktionären eingesperrt hat. Es wurde begünstigt durch die Ermordung der drei Siedler-Jugendlichen. Man weiß ja bis heute nicht, wer das eigentlich war. Die israelische Regierung wusste sehr bald genau, dass sie tot sind, aber hat noch lange weiter die Razzien gemacht unter dem Vorwand, nach diesen Jungs zu suchen. Netanjahu sagte dann: „Sie [also die Araber] haben eine Kultur des Todes, wir haben eine Kultur des Lebens.” Es wurde systematisch polarisiert, nur um an einen Punkt zu kommen, wo den Worten auch Taten folgen mussten. Man musste den Arabern mal wieder zeigen, wo der Barthel den Most holt.
Gegenwind:
Jetzt werden ja aus dem Gaza-Streifen Raketen relativ primitiver Bauart ungezielt abgeschossen. Die Hamas weiß nicht, wen sie damit treffen wird. Ist das aus Ihrer Sicht eine geeignete Begründung für die israelische Politik, die Angriffe, den Einmarsch?
Rolf Verleger:
Es erscheint ja von unserer Warte aus einfach dumm, solche Raketen abzuschießen. Und es erscheint in jedem Fall auch moralisch nicht rechtfertigbar. Auf der anderen Seite möge man sich mal in die Situation einer Bevölkerung hineinversetzen, die seit 2006 nicht mehr raus und rein kann, keine Wirtschaft mehr hat. Es ist alles niedergemacht worden durch die Einsperrung. Der Flughafen ist kaputt, Fischen kann man nur höchstens drei Meilen, Reisen geht nicht, der Strom läuft nur vier Stunden am Tag. Natürlich kommt man da auf Ideen, auf die unsereins nicht käme, nämlich zum Beispiel auf den Feind solche Raketen zu schießen. Klug ist das nicht.
Ob es ein Kriegsverbrechen ist, wie manche Leute behaupten, das kann man bezweifeln. Das würde ja bedeuten, man müsste diesen armen Menschen, die nichts haben, vorschreiben, dass sie High-Tech-Waffen haben müssten, die zielgenau sind. Wo sollen sie die denn herhaben? Darf sich nur wehren, wenn man High-Tech-Waffen hat und Milliarden dafür ausgeben kann? Das würde ja den Sinn jeder Rechtsnorm außer Kraft setzen. Recht lebt ja davon, dass der Schwächere auch was zu sagen hat.
Gegenwind:
Wie sehen Sie die Politik der deutschen Regierung oder auch der EU? Sind sie Teil des Problems oder Teil der Lösung?
Rolf Verleger:
Beides. Ich finde, dass die EU vernünftigerweise letztes Jahr beschlossen hat, dass die besetzten Gebiete vom EU-Assoziationsabkommen ausgenommen werden. Es ist mir unverständlich, warum jetzt alle prominenten Politiker, alle die etwas zu sagen haben in dieses Mantra zurückverfallen sind, dass Israel das Recht habe, seine Bürger gegen diese Raketen zu verteidigen. So als ob die Gazaner nicht das Recht hätten, sich gegen die Besatzung zu wehren, ebenso das Westjordanland. Das ist einer konstruktiven Konfliktlösung völlig abträglich. Und es stößt ja auch in breiten Teilen der Bevölkerung auf Unglauben.
Gegenwind:
In den letzten Tagen gab es eine ganze Reihe von Demonstrationen und Kundgebungen. Es entstand eine öffentliche Diskussion, ob das nicht Antisemitismus sei, der da zum Ausdruck kommt. Wo ziehen Sie persönlich die Grenze? Was ist Kritik an der israelischen Politik, was ist Antismitismus?
Rolf Verleger:
Ganz einfach: Wenn mich jetzt jemand nicht hätte reden lassen auf dieser Kundgebung, weil ich Jude bin, das wäre Antisemitismus. Aber wenn man zum Beispiel auf einer Demonstration in Streit gerät mit jemandem, der eine Israel-Fahne trägt, und in Diskussion gerät, weil er das Massaker in Gaza richtig findet, dann ist es kein Antisemitismus, mit ihm in Streit zu geraten, sondern politische Auseinandersetzung.
Gegenwind:
Wie ist Ihre Position innerhalb der jüdischen Gemeinden? Werden Sie dort verstanden, werden Sie dort angefeindet? Diskutiert man mit Ihnen?
Rolf Verleger:
Diskutieren wollen die offiziellen Funktionäre mit mir nicht, jedenfalls nicht von höchster Ebene. Wir haben ja jetzt am Montag (gemeint war der 28. Juli) im Deutschland-Funk die Sendung „kontrovers”, und da sitzen dann in verschiedenen Studios drei Juden, der eine heißt Levi Salomon, ist Vorsitzender des Berliner Arbeitskreises gegen Antisemitismus, der diskutiert dann doch mit mir. Ansonsten bilden ich und meine Gesinnungsgenossen eine kleine Minderheit in der kleinen jüdischen Gemeinschaft Deutschlands. Das ist so. Das sieht anders aus in Ländern wie in den USA oder Großbritannien, wo es eine starke und kontinuierliche jüdische Tradition gibt. Aber hier ist das deutsche Judentum tot und künstlich wiederbelebt, da hängt man an Israel aus Gründen der Identitätsbildung.
Gegenwind:
Jetzt haben Sie in Ihrem Kundgebungsbeitrag auch Forderungen gestellt. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Forderungen an die Konfliktbeteiligten, um zu einer friedlichen Lösung zu kommen?
Rolf Verleger:
Meine Forderungen richten sich in meinen Augen an die deutsche Regierung. Diese Forderungen sind die Aussetzung des EU-Assoziationsvertrages wegen grober Menschenrechtsverletzungen, die Sanktionierung dieser Menschenrechtsverletzungen und Nicht-Erfüllungen von UNO-Beschlüssen. Im Allgemeinen geht es darum, dass endlich Druck auf Israel ausgeübt wird, damit Israel kompromissbereit wird, um zu einer friedlichen Lösung mit den Palästinensern zu kommen.
Gegenwind:
Aus der Ferne hat man den Eindruck, es knallt zwischen Israel und Gaza alle paar Jahre. Gibt es eine Veränderung zwischen den letzten Kriegen im Vergleich mit diesem Krieg?
Rolf Verleger:
Im internationalen Klima denke ich schon, auch in den westlichen Ländern. Israel wird immer unbeliebter. Das ist natürlich jetzt nicht mehr nur das Problem von Israel, sondern fällt dann auch auf uns Juden zurück, insbesondere wenn unsere Vertreter von der Jüdischen Gemeinschaft kein Blatt zwischen Israels rechtsradikaler Politik und der jüdischen Gemeinschaft hier kommen lassen. Das ist völlig dumm. Und dem versuche ich entgegen zu treten. Und die Medien suchen dann so einen wie mich.
Interview: Reinhard Pohl