(Gegenwind 311, August 2014)


Stefan Buchen: Die neuen Staatsfeinde. Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden. Dietz Verlag, Bonn 2014, 199 Seiten, 14,80 Euro

Schlepper oder Fluchthelfer?

Wie die Bundespolizei Flüchtlinge bekämpft

In Syrien herrscht Krieg. Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Deutschland erkennt Flüchtlinge, die ihre Flucht selbst organisieren und Asyl beantragen, zu über 95 Prozent an. Außerdem hat Deutschland zugesagt, 20.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Faktisch sind nur einige Hundert aufgenommen worden, die anderen sind noch in Jordanien, Libanon oder der Türkei, weil die „Aufnahme-Bürokratie” nicht auf Rettung von Menschenleben, sondern die Verwaltung von Anträgen eingerichtet ist. Viele Familien organisieren deshalb die Flucht ihrer Angehörigen nach Deutschland, ohne auf die Einhaltung des Versprechens zu warten.

Die Bundespolizei hat die Aufgabe, die deutschen Grenzen zu schützen, und zwar die Außengrenzen zu den Nachbarländern genauso wie den Einlass über die Flughäfen. Wer aus Syrien kommt und ohne Visum reist, -reist illegal. Die Bundespolizei bemüht sich, durch Kontrollen und weitere Fahndungsmaßnahmen nicht nur diese „illegalen Grenzübertritte” zu verhindern, sondern auch die Hinterleute und „Drahtzieher” aufzuspüren.

Am 19. Oktober 2011 wurden in Brandenburg in der Nähe der Grenze 14 Personen festgenommen. Es waren syrische Flüchtlinge, die ohne Visum morgens zwischen 6 und 7 Uhr in einem LKW über die Grenze gebracht wurden, der LKW-Fahrer war schon weg, als die Bundespolizei den LKW umstellte. In der Nähe wurden neun andere Syrer und (eingebürgerte) Deutsche festgestellt, die die Flüchtlinge mit ihrem PKW abholen wollten. Die Abholer kamen aus Bayern, Nord-rhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt. Die „unerlaubt Eingereisten” waren zwischen 15 und 45 Jahre alt, männlich, alle sollten in Syrien zu Assads Armee eingezogen werden und sind deshalb geflohen.

Die Bundespolizei weiß durch die Abholer, dass es sich um eine organisierte Flucht handelt. Hier lebende Verwandte der Flüchtlinge wussten, an welcher Stelle und wann die Flüchtlinge über die Grenze kommen. Es wurde festgestellt, dass sie drei Tage vorher von der Türkei nach Bulgarien gekommen waren. Durch „Imsi-Catcher” bekam die Bundespolizei alle Telefonnummern, über die im fraglichen Zeitraum in der Gegend mobil telefoniert worden war, zum Teil mit polnischer oder türkischer Mobiltelefon-Vorwahl.

Die 14 Flüchtlinge beantragten Asyl und wurden anerkannt. Aber gegen die Abholer wurden Strafverfahren eingeleitet, und in der Folge beantragte und bekam die Bundespolizei eine Reihe von Abhör-Erlaubnissen für Mobilfunk-Telefonnummern. Die führten zu Syrern in Griechenland und Frank-reich, zu Syrern und (eingebürgerten) Deutschen in Deutschland.

Fast zwei Jahre später, am 29. Januar 2013 werden in 37 Orten in Deutschland Wohnungen durchsucht und Verdächtige festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, seit Kriegbeginn 270 Flüchtlinge nach Deutschland „geschleust” zu haben. Die hier lebenden Familien hätten zwischen 4.500 und 17.000 Euro pro Schleusung bezahlt, die höheren Summen betrafen Familien mit Kindern. Die Schleuser hätten, so die Bundespolizei, mehrere Hunderttausend Euro daran verdient. Um einen Punkt vorweg zu nehmen: Diesen Vorwurf nahm die Bundespolizei in der späteren Hauptverhandlung zurück, insgesamt sind vielleicht 4.000 Euro an den 270 Schleusungen verdient worden.

Der Journalist Stefan Buchen zeichnet in diesem Buch das Ermittlungsverfahren „Cash” der Bundespolizei akribisch nach. Die Bundespolizei unterstellt den „Schleppern” Gewinnabsicht, obwohl alle Flüchtlinge Familienmitglieder sind oder aus dem gleichen Dorf kommen. Die Bundespolizei unterstellt den Flüchtlinge „Illegalität”, obwohl alle 270 Flüchtlinge, ohne Ausnahme alle 270, in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt worden sind. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention kann der Grenzübertritt der Flüchtlinge also nicht illegal sein. Die Beihilfe dazu, so die Bundespolizei, ist sehr wohl illegal, in Deutschland verboten.

Die gute Nachricht: Auch in der Bundespolizei gibt es einen Menschen. Dieser hat der Panorama-Redaktion (NDR), für die der Autor arbeitet, anonym die gesamte Ermittlungsakte kopiert. Sie enthält tausende von Seiten abgehörter Telefonate, alle im Wortlaut oder als Zusammenfassung ins Deutsche übersetzt. Der Autor hatte so Gelegenheit, mit den Flüchtlinge (die alle mit Namen und Adresse in der Ermittlungsakte stehen) genauso zu sprechen wie mit den Angeklagten und auch den ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen, die beim Abhören geholfen haben. Er hat mit Bundespolizisten, Staatsanwälten, Verteidigern und Richtern gesprochen, wobei nicht alle mit ihm gesprochen haben, viele Fragen blieben auch unbeantwortet.

Der Hauptbeschuldigte ist ein Deutscher, Ingenieur in einer großen Firma, der selbst vor langer Zeit als Ausländer nach Deutschland gekommen ist. Er hatte es für viele Familien übernommen, das Geld für die Flucht von Deutschland nach Griechenland, in die Türkei oder nach Syrien zu bringen. Dabei hatte er sich in den letzten Jahrzehnten einen Ruf aufgebaut, besonders zuverlässig zu sein. So gab er den Fluchthelfern in Syrien und der Türkei Nachricht, wenn er das Geld erhalten hatte, überwies es aber erst, wenn die Flüchtlinge selbst wohlbehalten in Deutschland angekommen sind, fungierte also als Treuhänder. In der Anklage wurde ihm vorgeworfen, das Leben der „Geschleusten” gefährdet zu haben, und zwar aus Gewinnsucht. Auch in Presseerklärungen der Bundespolizei und der Staatsanwaltschaft wurde mehrfach darauf verwiesen, dass die Flucht für die Flüchtlinge gefährlich wäre und die „Schlepper” dafür verantwortlich seien. Wie gefährlich die Entscheidung gewesen wäre, nicht aus Syrien zu fliehen - darauf wollten weder Bundespolizei noch Staatsanwaltschaft antworten.

Der Vorwurf der „Gewinnabsicht” wurde später von der Staatsanwaltschaft fallen gelassen, da die Angeklagten nur wenige Prozent der pauschal bezahlten Beträge behalten hatten, die in der Summe wohl geringer waren als die Kosten. Der Vorwurf des „Einschleusens” wurde allerdings vor Gericht verhandelt, alle Angeklagten wurden zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt. Dass die Fluchthelfer die Verwandten, Brüder, Schwestern, Onkel und Tanten der Flüchtlinge waren, wurde zwar berücksichtigt, sollte aber ausdrücklich nicht zur Begründung einer Straffreiheit dienen. Ein Zeuge, der Geld an einen Angeklagten gezahlt hat, bedankt sich im Gericht für die sichere Ankunft seines Verwandten in Deutschland. Ein anderer Zeuge erklärt, er werde nach der Zeugenaussage jetzt auch die Flucht seines Vaters organisieren.

Am Schluss sitzen Angeklagte aus Griechenland, Polen, Frankreich und Deutschland auf der Anklagebank. Ihnen wird vorgeworfen, Geld bewegt zu haben, Flüchtlinge betreut zu haben, Flüchtlinge transportiert zu haben, Papiere gefälscht oder verfälscht zu haben, Flüge gebucht zu haben. Alles wird durch abgehörte Telefonanrufe, aber auch Aussagen von Flüchtlinge oder ihren hier lebenden Familienangehörigen, den Angeklagten belegt. Mehrere Angeklagte erzählen offen, was sie getan haben, damit Eltern und Geschwister, Nichten und Neffen nach Deutschland kommen. Einige sagen, auch wenn sie dafür bestraft würden, sie würden es selbstverständlich immer wieder tun. Denn Bruder oder Schwester im Krieg sterben zu lassen, nur weil Deutschland außer einem Protestbrief an den Innenminister alle weitere Hilfe unter Strafe stellt, kommt für niemanden in Frage.

Die „Bande”, die sie gebildet haben und die Grundlage der Anklage ist, kommt erst im Gefängnis zustande. Sie haben zwar den gleichen Flüchtlingen geholfen, der eine von Syrien bis Griechenland, der nächste von Griechenland nach Frankreich, der nächste von Frankreich nach Deutschland, der letzte schließlich in Deutschland, kannten sich vorher nicht. Erst im Gefängnis lernen sie sich kennen, und gemeinsam stehen sie schließlich vor Gericht. Sie stammen aus der gleichen Stadt in Syrien, wo sie allerdings keinen Kontakt hatten, da sie zu sehr unterschiedlichen Zeiten in unterschiedliche Länder ausgewandert oder geflohen sind. Nur die beiden angeklagten Taxifahrer, die Flüchtlinge vom Pariser Flughafen zum normalen Fahrpreis, aber ohne Visum nach Deutschland gefahren haben, kennen sich aus Paris.

Gegen den Angeklagten Syrer aus Griechenland beantragt die Staatsanwaltschaft zwei Jahre und vier Monate Haft. Er habe zumindest an einem der 270 „Fälle” rund 300 Euro verdient, zumindest Kosten in dieser Höhe nicht nachgewiesen. Im Schlussplädoyer sagt der Staatsanwalt aber auch, er habe in Griechenland die Flüchtlinge betreut, ihnen geholfen und sie versorgt. Das Gericht verhängt drei Jahre Gefängnis. Begründet wird das mit der „abstrakten Gefahr” bei der Überquerung von Flüssen und anderen Grenzen, der zwar kein Flüchtling in diesem Verfahren ausgesetzt war (sie sind allesamt in Griechenland in ein Flugzeug gesetzt worden), es sei aber eine Begleiterscheinung des Schleusens an sich. Außerdem habe sich der Angeklagte öffentlich als humanitärer Helfer dargestellt, für das „Panorama”-Interview im Gefängnis gibt es also einen Zuschlag. Der deutsche Hauptangeklagte bekommt eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren auf Bewährung und soll 110.000 Euro Strafe bezahlen, davon 30.000 an den Staat, den Rest an Hilfsorganisationen für Flüchtlinge. Die Fahrer bekommen etwas über zwei Jahre Haft, die sie absitzen müssen. Der Prozess endet vorläufig im Dezember 2013, allerdings will die Staatsanwaltschaft noch weitere Schleusungen anklagen.

Das Buch erzählt ein Stück deutsche Wirklichkeit. Wer im Fernsehen Innenminister und andere hört, die beklagen, die Nachbarländer Deutschlands würden viel zu wenige Flüchtlinge aufnehmen, während nur Deutschland ein größeres Kontingent zugesagt habe, sollte dies Buch zum Vergleich lesen. Man erfährt mehr über das Land, in dem wir leben.

Reinhard Pohl

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