(Gegenwind 307, April 2014)
Seit mehr als 500 Jahren leben Sinti in Schleswig-Holstein. Sie leben eher am Rande als in der Mitte der Gesellschaft. Die wichtigste Ursache dafür ist der Völkermord 1941 bis 1944, dem auch in Schleswig-Holstein der größte Teil der Sinti zum Opfer fiel. Und selbst 2014 erweisen sich Integrationsbemühungen als schwierig.
Dass ein zentraler Punkt der Integration in die Gesellschaft die Bildung ist, scheint eine Binsenweisheit. Denn es vergeht kaum eine Landtagsdebatte, schon gar nicht ein Wahlkampf, ohne dass von Vertreterinnen und Vertretern aller Parteien betont wird, wie wichtig die Bildung für die Integration ist. Dass die Sinto lange keinen Zugang zur Bildung bekamen, ist auch ein bekanntes Problem. Die Nachkriegsgeneration besteht zu einem großen Teil aus Analphabetinnen und Analphabeten, die heutigen Jugendlichen schließen die Schule entweder mit der neunten Klasse einer Förderschule und in seltenen Fällen mit einem Hauptschulabschluss ab. Die Zahl der Studentinnen und Studenten ist bundesweit gering, viele kennen in der eigenen Familie niemanden, der es zu einem höheren Bildungsabschluss gebracht hat.
Hier sollte 2012 ein Projekt ansetzen, das in Kiel gestartet wurde: 12 junge Sintezzas und Sintos wurden in Kooperation des Bildungsministeriums Schleswig-Holstein, des Jobcenters Kiel und des Berufsschulzentrums Schleswig zu Bildungsberaterinnen und Bildungsberatern fortgebildet. Sie sollen, fertig ausgebildet im März 2014, zwischen Kindern, Schulen und Eltern vermitteln, durch persönliches Eingreifen und Förderung die Bildungschancen gerade dort verbessern, wo Kinder das Potential haben, die Eltern aber alleine die Chancen nicht wahrnehmen können.
Doch der Ansatz erwies sich als schwieriger als gedacht. Zwar startete die Fortbildung pünktlich, und fast alle Sintezzas und Sintos konnten sie auch am 24. März erfolgreich abschließen. Doch die im Laufe des Jahres 2013 geplante Organisation der Arbeitsplätze stockte - das Bildungsministerium hatte keine Arbeitsplätze vorgesehen, Gespräche wurden kurzfristig abgesagt. Der „Landesverband Deutscher Sinti und Roma e.V.”, dessen Geschäftsstelle und dessen Vorstand als Treffpunkt und Zentrum der Sintezzas und Sintos diente, forderte im März eine Sondersitzung des „Gremiums für Fragen der Minderheit der deutschen Sinti und Roma”, das beim Landtag unter Vorsitz des Landtagspräsidenten eingerichtet ist. Denn seit der letzten Änderung der schleswig-holsteinischen Verfassung gehören Schutz und Förderung der Minderheit zu den staatlichen Aufgaben, das Bildungsministerium darf also nicht einfach nichts tun, nicht antworten und nicht erscheinen, wenn es um die Umsetzung zugesagter Maßnahmen geht.
Am 12. März entspannte sich die Situation: Staatssekretär Dirk Loßack aus dem Bildungsministerium traf persönlich mit dem Vorstand des Landesverbandes zusammen. Für die 12 Absolventinnen und Absolventen der Fortbildung wird es- so das Resumee des Gespräches - ab August 2014 zwölf Halbtagsstellen geben. Sie sollen zunächst in Kiel und Dithmarschen, wo sie wohnen und sich am besten auskennen, ihre Bildungsberatung an den Schulen anbieten. Soweit möglich und erforderlich, soll die Beratung dann auch auf andere Kreise und Städte wie Neumünster, Lübeck und Flensburg ausgedehnt werden.
Mein Treffen mit den Beraterinnen und Beratern am 13. März findet deshalb in einer weit lockereren Atmosphäre statt als befürchtet. Wir hatten uns bereits eine Woche vorher verabredet, primär zu dem Zweck, den schwankenden Kurs der Landesregierung und speziell des Bildungsministeriums zu besprechen und öffentlich zu machen. Jetzt freuen sich alle auf den Abschluss des Kurses und die im nächsten Schuljahr startende Arbeit.
Von den Bildungsberaterinnen und -beratern, davon gibt es zwei, wohnen elf in Kiel und eine in Heide. Dass elf der zukünftigen Mediatoren/innen in Kiel wohnen und deshalb ihre Beratung ab August an Kieler Schulen anbieten, halten sie keineswegs für ein Überangebot, sondern für dringend notwendig. Die meisten berichten, dass die eigenen Eltern nicht oder kaum lesen und schreiben können, einige von ihnen selbst haben den Abschluss der Hauptschule so erst im zweiten Anlauf geschafft. Sie kennen also die Probleme, die sie bearbeiten sollen, sehr genau. Alle sind zweisprachig, was für diese Arbeit unterlässlich ist.
Sie berichten begeistert, was sie alles seit Oktober 2012 gelernt haben. Ihre Dozentinnen und Dozenten haben sie mit der Entwicklung von Kindern, dem Verhalten und Verhaltensauffälligkeiten und dem Umgang mit Behinderungen vertraut gemacht. Sie haben die Gespräche mit Eltern und Lehrern nicht nur theoretisch gelernt, sondern auch in Rollenspielen und danach in Hospitationen an vielen verschiedenen Schulen geübt. Sie haben Bewerbungen und Bewerbungsgespräche trainiert, so dass sie das künftig an Kinder weitergeben können, deren Eltern damit überfordert sind.
Sie haben das Bildungssystem vom Kindergarten über die Grundschule, Förderschule, Gemeinschaftsschule bis zum Gymnasium kennen gelernt. Über Ganztags- und Halbtagsschulen, über die Durchlässigkeit und Quereinsteiger, über den ersten und zweiten Bildungsweg wissen sie jetzt weit mehr als alle Eltern und sicherlich auch mehr als manche Lehrerinnen und Lehrer.
Auch das Sozialrecht gehörte zu der Fortbildung - denn wirkungsvoll kann die Bildungsberatung nur sein, wenn die Familien in ihrer Gesamtheit beraten werden können.
Als ein weiteres Problem sehen die BildungsberaterInnen den Rassismus an. Hier sind sie gespannt, auf welche Probleme sie bei der praktischen Arbeit stoßen. Alle sagen, dass Kinder, die sich auf dem Schulhof streiten, für die dabei zutage tretenden Vorurteile nicht verantwortlich sind. Außerdem wissen sie aus ihrer eigenen Schulzeit, dass sich Vorurteile gegen jede Gruppe (und jedes Kind) richten können.
Doch wissen sie noch nicht, ob die Zusammenarbeit mit allen Lehrerinnen und Lehrern, mit allen SchulleiterInnen von Anfang an reibungslos klappen wird.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind zwischen 24 und 46 Jahre alt und wollen sich monatlich austauschen. Und auch wir verabreden und zu einem neuen Treffen, sobald das Projekt wirklich begonnen hat und erste Erfahrungen gesammelt wurden.
Der Bedarf an Bildungsberaterinnen und Bildungsberatern ist landesweit hoch. Das haben die zwölf jetzt ausgebildeten Beraterinnen und Beratern bei ihren Hospitationen in Flensburg, Lübeck erfahren, und privat war ihnen das schon längst bekannt.
Dennoch halten die meisten die Arbeit an einer Kieler oder Heider Schule mit einer Halbtagsstelle für umfangreich genug. Sie glauben, es müsste an Schulen in anderen Städten Schleswig-Holsteins eigene Stellen und eigene Fortbildungskurse geben. Fast alle schließen aus, für die Beratung an einer anderen Schule umzuziehen, denkbar ist nur die Wahrnahme einzelner Beratungstermine.
Das mag Schulen in anderen Orten des Landes „ungerecht” erscheinen - aber so ist das Projekt vom Bildungsministerium im ersten Anlauf angelegt worden. Die Sintezzas und Sintos, mit denen ich mich treffen, weisen mich auch darauf hin, dass kein Roma sich für die Fortbildung angemeldet hat. Auch das ist eine Lücke im Projekt. Zwar sind alle bereit, bei Problemen aller Art auch anderen Kindern zu helfen - nicht nur Roma aus Schleswig-Holstein, Bulgarien oder Ungarn, sondern auch griechischen, spanischen oder kurdischen Kindern. Allein die Verständigung mit den Eltern ist hier nicht so leicht. Mit dem schleswig-holsteinischen Romanes ist schon die Verständigung mit Roma aus Bulgarien sehr schwierig, und hierfür sind sich auch nicht speziell ausgebildet. Dennoch sind sie voller Enthusiamus, allen Kindern zu helfen, die diese Hilfe wollen und annehmen.
Zudem ist das Projekt nicht ganz neu. Ähnliche BildungsberaterInnen oder MediatorInnen gibt es auch in Straubing (Bayern), in Berlin und Hamburg. Auch in Kiel gibt es schon länger Mediatoren an einigen Schwerpunktschulen, die allerdings keine so gründliche und systematische Fortbildung durchlaufen hatten, aber durch die praktische Arbeit vor Ort in den Schulen und mit den Kindern und Jugendlichen eine große Erfahrung besitzen, die sie mit großem Gewinn in den Fortbildungsunterricht der Qualifizierungsmaßnahme einbringen konnten.
Die jungen Sintizzas und Sintos, mit denen ich mich treffe, haben in ihrer Fortbildung nicht nur viel Spaß gehabt, sondern können sich auch vorstellen, später weiterzumachen: Ja, man könnte sicherlich den Realschulabschluss ohne Probleme nachholen. Ja, ein Studium der Sozialpädagogik wäre möglich, wenn man von der Fachhochschule die Zulassung erhält. Denn man kennt jetzt die eigenen Fähigkeiten, und für alle liegen sie weit oberhalb des Schulabschlusses, den man „damals” erreicht hat.
Die Landesregierung wäre also gut beraten, wenn sie nicht nur die Probleme, sondern auch die jetzt erarbeiteten Lösungen im Auge behält. Denn erfolgreiche Schulkarrieren nicht nur von Sintos sind nicht nur viel wert, sie ersparen auch mehr Kosten als solch ein Projekt verursacht.
Reinhard Pohl