(Gegenwind 305, Februar 2014)
Im Februar finden in Sotschi am Schwarzen Meer die Olympischen Winterspiele statt. Für Russlands Präsident Putin geht es um seinen Ruf in der Welt - und gefährdet werden die Spiele durch die Repression, den überdimensionalen Einsatz von „Sicherheitskräften”. Begründet wird das mit der Gefahr von Anschlägen, vor allem von Organisationen der Völker des Nordkaukasus. Es geht aber auch darum, jeden Protest gegen die Herrschaft Putins zu unterdrücken.
Ein Konflikt kommt dabei kaum zur Sprache, wohl auch, weil die eine Partei nicht mehr existiert. Denn Sotschi war einst die Hauptstadt von Tscherkessien. Die Tscherkessen wurden im Zuge der russischen Eroberung des Nordkaukasus Opfer eines der ersten Völkermorde in der Geschichte der Menschheit. Daran erinnert rechtzeitig zu den „Spielen” in Sotschi ein Buch von Manfred Quiring, das auch für einige Medien wie die Tagesschau, die FAZ oder „Die Zeit” Anlass war, über die Tragödie der Tscherkessen zu berichten.
Tscherkessen ist der Oberbegriff für eine Reihe von kaukasischen Völkern wie den Kabardinern, Schapsugen und Ubychen, die alle Adygejer als Sprache haben. Inzwischen empfehlen die Organisationen dieser Völker, die Sprache im Ausland einheitlich als „tscherkessisch” zu bezeichnen, um die Herkunft und Zuordnung einfach zu zeigen. Die heutigen russischen Republiken Adygeja, Karatschai-Tscherkessien und Kabardino-Balkarien, alle drei zwischen Nord-Ossetien und dem Asowschen Meer gelegen, erinnern bis heute an diesen Volk.
Im 15. und 16 Jahrhundert besiedelten die Tscherkessen ein Gebiet, das vom Asowschen Meer und der Stadt Asow im Norden bis fast zum Kaspischen Meer reichte und fast den gesamten Nordkaukasus umfasste.
Im 15. Jahrhundert wehrten sich die Tscherkessen vor allem gegen die Expansion des Osmanischen Reiches, das ausgehend von der Krim und von Armenien das Schwarze Meer zu einem Binnenmeer des Reiches machen wollte. In dieser Phase gab es mehrfach Bündnisse mit Moskau, das aber eigene Interessen verfolgte. Während die Türken eine Reihe von Festungen in Tscherkessien unterhielten und das als Beherrschung des Landes interpretierten, sahen die Zaren in Moskau im Bündnis mit Tscherkessien einen „freiwilligen Anschluss” an das Russische Reich.
Die Eroberungen Russland im Nordkaukasus führten zu einem mehr oder weniger permanenten Krieg, der 1763 begann und 1864 mit der Vernichtung der Tscherkessen endete. Anfang der 1860er Jahre wurde es klares Ziel der russischen Zarenregierung, die Tscherkessen als Volk zu vernichten: Sie sollten nach jedem Russischen Sieg vor die Alternative gestellt werden, in neu errichtete und russisch, von Kosaken, kontrollierte Siedlungen umgesiedelt zu werden oder selbst ins Exil in die Türkei zu gehen. Die russische Regierung hielt das für Angehörige eines mehrheitlich moslemischen Volkes für angemessen.
Die Zahlen sind, wie immer bei solchen Verbrechen, unklar. Zwischen 900.000 und 1,2 Millionen Angehörige der Kaukasusvölker, darunter die Mehrheit Tscherkessen, wurden in die Türkei deportiert oder in die Türkei vertrieben, insgesamt konnten wohl 2 Millionen Tscherkessen und Angehörige anderer Kaukasusvölker vor der vollständigen russischen Eroberung ihres Landes fliehen.
Walter Richmond, Berichterstatter des Europäischen Parlaments, nahm für 1860 eine tscherkessische Bevölkerung von 1,5 Millionen Menschen an. Bei einer normalen Bevölkerungsentwicklung müsste es heute rund 30 Millionen Tscherkessen geben - es gibt aber nur sechs Millionen Tscherkessen, davon leben nur 700.000 in Tscherkessien und Russland. Nach den Recherchen von Richmond sind rund drei Viertel der tscherkessischen Bevölkerung in den Jahren 1863 und 1864 von den russischen Truppen vernichtet worden.
Die Türkei hatte sich damals bereit erklärt, 50.000 Flüchtlinge aufzunehmen, es kamen aber mehrere Hunderttausend. Vermutlich überlebten rund 650.000 Tscherkessen die Deportationen nicht, die meisten wurde während der Überfahrt über das Schwarze Meer über Bord geworfen. In der Türkei wurden sie Opfer von Entführung, Versklavung und weiterer Deportationen. Im Osmanischen Reich sollte kein geschlossenes Siedlungsgebiet von Tscherkessen entstehen, deshalb wurden sie über das gesamten Reich verteilt. Oftmals konnten sie dadurch ihre Sprache und Kultur nicht bewahren, in der jungen Türkischen Republik unter Atatürk wurde ihre Sprache verboten. Zwischen zwei und drei Millionen Tscherkessen leben heute in der Türkei, meistens als „Türken”, größere Gruppen gibt es in Syrien, Jordanien, Irak und Israel, alles ehemalige Bestandteile des Osmanischen Reiches. Viele leben auch in Deutschland, tscherkessische Vereine gibt es in München, Köln, Bremen, Münster, Wuppertal und Berlin. Der bekannteste Tscherkesse in Deutschland ist vermutlich Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen.
Heute fordern einige tscherkessische Verbände die Anerkennung des Genozids von 1863/64, was die russische Regierung allerdings ablehnt. Eine Begründung ist, dass es den Begriff „Genozid” erst seit der Internationalen Juristenkonferenz des Völkerbundes 1933 gibt und er sich ausschließlich auf die Vernichtung der Armenier in der Türkei 1915/16 bezog.
Heute nimmt die Russische Föderation übrigens begrenzt wieder Tscherkessen auf, vor allem solche, die in Syrien eine hohe Regierungsposition innehatten und von dort fliehen.
Es gibt viele Spekulationen darüber, inwieweit die Kenntnisse vom Völkermord an den Tscherkessen, die die Regierung in der Türkei nicht nur hautnah miterlebt hatte, sondern von dem sie auch Tausende von Augenzeugen und Überlebenden im Land hatten, später eine Inspiration für die Vernichtung der Armenier 1915/16 wurde. Damals wurden alle Armenierinnen und Armenier systematisch erfasst, von der türkischen Armee sowie Milizen deportiert und in speziell eingerichteten Lagern im Norden Syrien und des Irak vernichtet, man geht von rund 1,5 Millionen Opfern (bei einer Gesamtbevölkerung von 2,2 Millionen Armeniern) aus. Dass der Völkermord an den Tscherkessen damals nicht geächtet wurde, nicht international bekannt wurde, kann eine Ursache für den weitgehend ungestörten Völkermord an den Armeniern sein. Die Alliierten (Großbritannien, Frankreich, Russland) drohten zwar schon im Mai 1915 der türkischen Regierung einen Internationalen Gerichtshof an, hatten aber während des Weltkrieges keine direkten Einflussmöglichkeiten.
Es trifft sich also gut, dass Präsident Putin gerade seinen Urlaubsort Sotschi dazu ausgewählt hat, Austragungsort für die Olympischen Wintersspiele 2014 zu werden. Denn das gibt Gelegenheit, an die Geschichte der Hauptstadt Tscherkessiens zu erinnern.
Reinhard Pohl