(Gegenwind 305, Februar 2014)
Bernhard Harms, der Gründer des Institutes, wurde 1876 in Ostfriesland geboren, studierte nach einer Buchbinderlehre von 1897 bis 1906 Staatswissenschaften und Volkswirtschaftslehre, wurde 1901 promoviert und habilitierte sich 1906. Im Jahr 1908 wurde er an das Staatswissenschaftliche Seminar der Christian-Albrechts-Universität berufen. Harms hatte das Interesse an internationalen Fragen nach Kiel mitgebracht. Er entdeckte das Thema „Weltwirtschaft” für die Wissenschaft und betrieb energisch den Aufbau eines Institutes für Weltwirtschaft. Dieses sollte sich nach Harms Vorstellungen zu einer „umfassenden sozialwirtschaftlichen Bildungsanstalt” entwickeln.
Das war mehr als die klassische Universität als reine Eliteanstalt [1] bot. Es ging Harms auch um „Handwerkersöhne an höheren Lehranstalten”, wie der Titel eines Aufsatzes von 1901 zeigt. Des Weiteren schwebte Harms die damals neuartige Absicht vor, über das Thema Weltwirtschaft eine praktische Wissenschaft zu entwickeln, die mehr sein sollte, als nur die Einheit von Forschung und Lehre. Er beabsichtigte die Forschungsergebnisse für wirtschaftliche, politische und (im damaligen Sinne) soziale Zwecke bereit zu stellen und umgekehrt auch Praxiselemente in die Forschung hinein zu nehmen [2]. Insgesamt handelte sich um ein Riesenprojekt, das mit dem Fokus Weltwirtschaft die „gesamte Sozialwirtschaftslehre” umfassen sollte und das hieß: theoretische und empirische Wirtschaftswissenschaften, die Finanzwissenschaften, statistische Methoden und die Soziologie. Zur Verbreitung der Forschungsergebnisse gab Bernhard Harms bereits seit 1910 die Schriftenreihe „Probleme der Weltwirtschaft” und seit 1913 die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift „Weltwirtschaftliches Archiv” heraus, die übrigens auch Lenin bei seinen Imperialismusstudien in Zürich nützlich waren [3]. Zur Finanzierung des Vorhabens suchte Bernhard Harms private Finanziers. Nach 1911 hatten sich international 100 Personen und Organisationen von der Idee anstecken lassen und die Institutsgründung nahm Gestalt an. Am 18. Februar 1914 war es dann soweit: Das „Königliche Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft” in Kiel wurde am 25. Jahrestag der Thronbesteigung Kaiser Wilhelm II als privat finanziertes Institut gegründet und nur zwei Tage später eröffnet. Zunächst sollte es Nachrichten und Daten der Volkswirtschaft sammeln, systematisieren und aufbereiten und dann interessierten Stellen zur Verfügung stellen.
Nur wenige Monate später überrollte der Erste Weltkrieg Gymnasien und Universitäten. Oberstufenschüler, Studenten, Lehrer und Dozenten meldeten sich so zahlreich als Kriegsfreiwillige, dass der geregelte Schul- und Universitätsbetrieb in örtlich unterschiedlicher Wucht zusammenbrach. Man brachte trotzdem zusätzlich seit 1915 „Kriegswirtschaftliche Nachrichten aus dem Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft” heraus, die dann ab 1918 als „Weltwirtschaftliche Nachrichten” fortgeführt wurden.
Das Ende des Krieges in Deutschland fiel mit der Novemberrevolution zusammen. Diese nahm ihren Ausgangspunkt nicht zufällig in Kiel. Die rebellierenden Matrosen fanden in den Kieler Arbeitern rasch Verbündete. In den kriegswichtigen Industriebetrieben in der Stadt (Torpedowerkstätten) waren hervorragend ausgebildete, zupackende Arbeiter aus dem ganzen Reich zusammengezogen worden. Sie waren selbstorganisationsfähig und gingen mit dem Beginn der Revolution auf Suchbewegungen in Richtung Rätekommunismus, Sozialisierung und Wirtschaftsplanung.
Das Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft hatte neben dem „weltwirtschaftlichen” Attraktor Bernhard Harms einen zweiten, den Nestor der deutschen Soziologie, Ferdinand Tönnies. Dieser hatte sich früh mit Fragen der Arbeiterbewegung, speziell der Gewerkschaften befasst. Nach seiner Emeritierung 1916 war Tönnies weiter am Institut aktiv. Die Inflation hatte sein Vermögen bereits 1920 ruiniert und so ließ er sich 66jährig im Jahr 1921 in Kiel wieder reaktivieren. Beide trafen sich im Bestreben, über die Entwicklung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit junge talentierte Leute an die Hochschule zu holen und ihnen akademische Ausbildungen zu ermöglichen. Hinzu kamen der Finanzwissenschaftler Karl Fritz Mann, der Soziologe und Syndikalismusexperte Kurt Albert Gerlach [4] und Franz Eulenburg, der bereits 1908 die große Zahl von Habilitierten an deutschen Universitäten ohne Lehrstuhl kritisiert hatte, was ihm den Weg an die staatliche Universität verstellen sollte. Diese und weitere Akteure öffneten nun nach 1918 das Institut für soziologische Fragestellungen aus der Arbeiterbewegung. Das wiederum wirkte attraktiv auf junge Männer, die ihre Kriegserfahrungen nicht rechts-, sondern linksdrehend verarbeiten wollten.
In den Jahren 1918 bis 1922 entstand in dieser Atmosphäre - ein offenes, privat finanziertes Institut und eine linke politische Bewegung - eine reichsweit einmalige linksradikale wissenschaftliche Subkultur [5]. In diesem Kreis versammelten sich Linke aus dem gesamten politischen Spektrum von der SPD über die USPD, Spartakisten, Unabhängige und auch führende Leute der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschland (die Rätekommunisten, in Kiel 4.500 Organisierte) wie der Neumünsteraner Adolf Dethmann, der später Direktor des Junkers-Konzerns, dem damals größten Hersteller ziviler Flugzeuge in Deutschland, werden sollte [6]. Darüber darf nicht vergessen werden, dass Sozialisierung und Wirtschaftsplanung ein gemeinsames Thema von christlichen, liberalen und stark differenzierten sozialistischen Strömungen war [7], die quer durch die Parteien umstritten war. So war Rudolf Wissell (SPD), gelernter Maschinenbauer und erster Wirtschaftsminister der Weimarer Republik entschiedener Planer [8]. Sein Nachfolger Robert Schmidt (SPD) war hingegen Planungsgegner.
In dieser radikalen Phase des Weltwirtschaftlichen Institutes entstanden wissenschaftliche Arbeiten, deren Themen hier nur auszugsweise wiedergegeben werden können.
Hochschullehrer und Studierende beteiligten sich auch an einer praktischen Bildungsarbeit in „Matrosenzirkeln”, hielten Vorträge zu Wirtschaftsfragen und trafen sich mit Arbeitern zu Debattiertreffen, auch um ihre Dissertationsthemen zu besprechen. Detlef Siegfried zitiert Karl Rickers (damals Sozialistische Arbeiterjugend, später Chefredakteur der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung): „Ein Phänomen war, dass in diesem Kreis der Jugend Toleranz und entschiedenes politisches Engagement nebeneinander ihren Platz hatten. Man bekannte sich leidenschaftlich zur Idee des Sozialismus und den dazugehörigen Organisationsformen des politischen Kampfes. Aber man war auch immer bereit, über alle Dinge zu debattieren, mit ursprünglicher Lust am Streit, auch den Witz im Disput suchend, doch stets mit einem Instinkt für Toleranz dem Andersdenkenden gegenüber - jedenfalls solange man nicht auf eine Gesinnung blinden Eifers oder der Gewalt stieß.” [9]
Mit dem Erkalten der revolutionären Möglichkeiten nach 1922 verging auch die linke Kieler Subkultur. Die Studierenden am Institut für Weltwirtschaft hatten sich mit ihren Themen ins Brotlose promoviert und die Hoffnungen auf einen radikalen politischen Wandel nach links wurden von der Wirklichkeit dementiert.
Die Weltwirtschaftswissenschaft am Institut bildete nun aber keinen eigenen Forschungsschwerpunkt in dem 1918 bis 1922 erarbeiteten Terrain des Organisationsvermögens und der Erwartungen von Industriearbeitern. Bernhard Harms und Kollegen sympathisierten deutlich mit den jungen Wilden und schmetterten die Kritik an ihren wissenschaftlichen Arbeiten mit dem Hinweis auf Werturteilsfreiheit ab. Und auch die Finanziers des Institutes zeigten sich großzügig. Ihre Zahl stieg bis Ende 1922 auf über 6.000. Dazu gehörten international anerkannte Stiftungen, wie zum Beispiel die Rockefeller-Foundation aus den USA. Dem Institut ging es zu diesem Zeitpunkt finanziell besser denn je. Das Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft war das wohl am besten ausgestattete der Weimarer Republik.
Nach langer Suche holte Bernhard Harms 1926 Adolf Löwe [10] an das Institut, der seit 1924 Lehraufträge in Kiel durchgeführt hatte und dabei den ungehobenen Schatz an weltwirtschaftlichen Materialien am Institut begonnen hatte für seine Zweck als Leiter der internationalen Abteilung des Statistischen Reichsamtes zu nutzen. Adolf Löwe hatte 1914 in einer ersten eigenständigen Untersuchung als 21jähriger den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität untersucht und nachgewiesen, dass die Zunahme gewerkschaftlicher Organisation mit einer Abnahme von Gewaltkriminalität korrespondierte. 1916 kam er in einem Projekt unter, das die Zukunft des Steuersystems nach dem Weltkrieg untersuchen sollte. Löwe machte daraus die Frage, ob man nach dem Krieg „zur freien Wirtschaft der Vorkriegszeit zurückkehren würde” [11], denn davon hing die Beantwortung der Steuerfrage ab. In den Bereichen Arbeitslosigkeit, Infrastruktur und Landwirtschaft machten er und Andere dann Vorschläge jenseits der Marktwirtschaft, die 1918 unter dem Titel „Soziale Forderungen für die Übergangswirtschaft” veröffentlicht wurden. Danach arbeitete Löwe im Wirtschaftsministerium unter anderem in der frühen Sozialisierungskommission und in der Inflationsbekämpfung. Als Leiter der internationalen Abteilung des Statistischen Reichsamtes schlug er als letzte Amtshandlung die Gründung eines deutschen Instituts für Konjunkturforschung vor. Die Denkschrift „Die weltwirtschaftliche Lage Ende 1925”, an der er maßgeblich beteiligt war, führte zur Gründung des Deutschen Instituts für Konjunkturforschung. Heute handelt es sich um das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.
Adolf Löwe hatte aus seinen Tätigkeiten im Reichswirtschaftsministerium die Erfahrung gemischter Wirtschaft mitgebracht. Eine „Freie” Wirtschaft war für ihn ein gedankliches Konstrukt ohne jeden Realitätsbezug. In modernen Gesellschaften ist der Staat immer auch Wirtschaftsakteur [12]. Noch 1964 formulierte Löwe:
„Wenn es zutrifft, dass sich die traditionelle Wirtschaftstheorie mit dem Studium ‚freier’ Märkte befasst, die durch die politisch und sozial ungehemmten Entscheidungen der einzelnen Marktteilnehmer gelenkt werden, so braucht man sich kaum über den mangelnden Realismus ihrer Aussagen zu wundern. Existiert doch wohl heute nirgendwo das empirische Gegenstück eines solchen Modells, wenn sich ein solches je in der Vergangenheit auffinden ließ. Eine kurze Epoche im 19. Jahrhundert kam dem Laissez-faire ziemlich nahe. Aber sie ist längst durch die >gemischten< Systeme abgelöst, in denen sich dezentralisierte und zentralisierte Entscheidungen kombinieren ...” [13]
Löwe hielt zeitlebens, er wurde 102 Jahre alt, an dieser Überzeugung fest. Und wenn es sich bei modernen Gesellschaften um gemischte Wirtschaften handelt, so hat der Staat die Pflicht öffentliche Planungsinstanzen zu entwickeln [14]. Wird der Aufbau von öffentlichen Institutionen der Planung vernachlässigt, werden wirtschaftliche Katastrophen programmiert.
Adolf Löwe war auch Marktwirtschaftler. Er hielt den Markt für die Arbeiter unverzichtbar, weil durchgehende Planung ihre Lebensumstände bedeutend verschlechtert und der Markt ihnen individuelle Freiheit gewährt. Es geht aber nicht um ´freie´ Marktwirtschaft, weil diese einerseits irreal ist und andererseits, wenn sie denn angestrebt wird, hochgradig instabil ist. Der Vorstellung, dass Märkte die Fähigkeit haben sich selbst zu stabilisieren fehlt jede empirische Evidenz. Löwe ersetzte das Paradigma des Gleichgewichtes in Märkten durch das realitätsnahe Paradigma eines Wechsels zwischen Aufschwung und Abschwung (Depression). Diese Idee entfaltet er 1926 in seiner Schrift „Wie ist Konjunkturtheorie überhaupt möglich?”.
So unverzichtbar Märkte auch sind, so war Löwe zugleich der Überzeugung, dass es um die Versöhnung von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Stabilität geht. „Oder ökonomisch gesprochen: eine harmonische Verbindung von Markt und Plan” [15]. Von heute aus reformuliert stand im Zentrum des ökonomischen Verständnisses von Adolf Löwe die Vorstellung individuelle und kollektive Lösungen pragmatisch und empirisch gestützt zu verbinden.
Löwe wurde nun der erste Forschungsdirektor des Weltwirtschaftlichen Institutes in Kiel und Leiter der rasch zu Berühmtheit gelangenden Abteilung für statistische Wirtschaftskunde und internationale Konjunkturforschung (Astwik). Er traf bereits auf die größte wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek der Welt und widmete sich Fragen der internationalen Konjunktur, der Kapitaltheorie und höchst innovativ der Folgen des technischen Fortschritts für den Arbeitsmarkt. Unter der Ägide Löwes erwarb das Kieler Institut rasch Weltgeltung. Der internationale Ruf war vor allem der Fähigkeit Löwes geschuldet, vollständig uneitel auch Wissenschaftler für Kiel zu begeistern, die eine andere Meinung hatten oder einfach nur sehr gute Ökonomen oder talentiert waren. Sie mussten nur teamfähig sein, also kollektiv lösungsorientiert. Als Spiritus Rector inspirierte Adolf Löwe eine Gruppe herausragender und sich wechselseitig intellektuell befruchtender Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen.
Adolf Löwe holte schnell seine Freunde Gerhard Colm und Hans Neisser nach Kiel. Gerhard Colm hatte bereits 1920 die Schrift „Beitrag zur Geschichte und Soziologie des Ruhraufstandes vom März - April 1920” verfasst und habilitierte sich 1927 am Institut mit der fulminanten Schrift „Volkswirtschaftliche Theorie der Staatsausgaben”. Dort formuliert er erstmals den Gedanken, dass Staatsausgaben nicht als Kaufkraftverlust der Wirtschaft verstehbar sind, sondern, dass sie stets in der Wirtschaft stattfinden und damit unter definierbaren Umständen ökonomisch funktional sind. Hans Neisser wurde 1928 mit seinem von Georg Simmel inspirierten Werk „Der Tauschwert des Geldes” international bekannt. Löwe holte auch Wassily Leontief (1928 bahnbrechend: „Die Wirtschaft als Kreislauf”, Nobelpreis 1974 für Input-Output-Analyse) und Jakob Marschak (1930: „Elastizität der Nachfrage: Zur empirischen Feststellung relativer Marktkonstanten durch Beobachtung von Haushalt, Betrieb und Markt”) nach Kiel.
Fritz Burchardt erarbeitete eine anspruchsvolle Synthese des ökonomischen Stufenmodells mit dem Sektorenmodell und etablierte damit eine hochmoderne vertikale Betrachtungsweise wirtschaftlicher Abläufe. Burchardts Doktorand Alfred Kähler erforschte als erster Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt in der Folge technischen Fortschritts und stellte diese in seiner Dissertation „Die Theorie der Arbeiterfreisetzung durch die Maschine” im Jahr 1932 dar. Walther G. Hoffmann beschrieb in seiner von Löwe betreuten Doktorarbeit 1931 „Stadien und Typen der Industrialisierung” erstmals statistisch den historischen Prozess der Industrialisierung. Hoffmann wurde später mit seinen Forschungen zu Fragen des Wirtschaftswachstums und der Einkommensverteilung international bekannt, wurde allerdings auch Mitglied der SA.
Die große Depression 1929 bestätigte die theoretischen Arbeiten am Institut auf das Schmerzvollste. Die Kieler gehörten zu den wenigen deutschen Wirtschaftswissenschaftlern, die sich dann gegen die Brüningsche Deflationspolitik stemmten. Löwe war der Überzeugung, dass Deflation der ökonomisch schlechteste Fall war, weil es daraus nur ein Entkommen durch notwendig massives öffentliches Gegensteuern geben kann. Das bedeutet einerseits, dass der Staat viel Geld in die Hand nehmen muss, also auf Sicht auch verliert (was nicht so schlimm ist wie die Deflation), und anderseits setzt dies einen politischen Konsens voraus, der nicht selbstverständlich ist (in den dreißiger Jahren beschäftigte er sich dann mit der Frage nach den Bedingungen für eines „spontanen Konformismus”, also die Selbstbefähigung der Gesellschaft zu kollektiven Lösungen). Die damals schon vorherrschende Theorie sah in der Deflation allerdings so etwas wie einen notwendigen „Reinigungsprozess” der Wirtschaft, der dann selbstregulierend zu einer wirtschaftlichen Erholung führen würde. Ein im Grunde absurdes Argument, weil es ausschließlich Ländern in einer prosperierenden Umwelt mit funktionierenden Märkten und Institutionen gelingen kann, auf diesem Wege wieder Anschluss an einen Aufschwung zu finden - Voraussetzungen, die extrem selten sind. Empirische Evidenz kann beanspruchen, dass die Deflation solange läuft, bis der Staat gegensteuert. Löwe argumentierte 1930 gegen die allgegenwärtigen Lohnsenkungen, dass in Deutschland nicht die Löhne das Problem seien, sondern völlig überzogene Monopolrenten der kartellierten Grundstoffindustrie. Die Senkung der Löhne würde das Problem aber eher verschärfen. So kam es ja auch.
Auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften hatte sich aber bereits seit Mitte der 20er Jahre eine vorher unbekannte Trennung in links und rechts angebahnt, die vor allem von den Österreichern Hayek und Mises betrieben wurde. Diese organisierten unter der Spruchformel „Freie Wirtschaft” eine damals neue Rechte. Diese utopische Vorstellung von Wirtschaft, als eines rein individualistischen Wettbewerbs war für den politischen Vitalismus des aufkommenden Faschismus inspirierend. Genau so wie die Individuen wirtschaftlich frei von allen staatlichen Gängelungen konkurrieren sollten, so sollten die Individuen auch politisch, frei von den in 10.000 Jahren erworbenen Werten und Normen menschlicher Zivilisation agieren [16].
Und das taten sie dann auch. Nachdem die liberalen und konservativen Parteien im März 1933 der NSDAP im Reichstag per Ermächtigungsgesetz freie Hand gaben, verließ Adolf Löwe bereits Anfang April Deutschland. Seine Mitarbeiter wurden von SA-Schlägern aus den Räumen des Institutes geprügelt [17], ohne das auch nur einer der Anhänger einer „freien Wirtschaft” sich schützend vor seine Kollegen gestellt hätte.
In England und den USA wurden die Kieler Wissenschaftler an den Universitäten aufgenommen, und nicht selten verzichteten die etablierten Mitarbeiter dort kollektiv auf einen Teil ihres Einkommens, um den Vertriebenen des Institutes für Weltwirtschaft ein Auskommen zu gewähren.
Die im Kampf gegen die Deflation entwickelten Rezepte, Erhöhung der Steuern, Erhöhung des Staatsdefizites zur Erhöhung der Staatsausgaben verwendeten die Nazis. 1988 sagt Adolph Lowe im Zeitinterview:
„ZEIT: Wollen Sie damit sagen, dass die Nazis gute Ökonomen hatten?
Lowe: Nein, sie handelten zum Teil auf Grund ganz falscher Theorien. Das war eine meiner peinigendsten Erfahrungen: Man muss keineswegs die richtigen Gedanken haben, man muss nur das Richtige tun. Die Autobahnen sind ja nicht primär gebaut worden, um Arbeit zu schaffen, sondern als eine Vorbereitung für die militärischen Abenteuer. Aber die Konsequenz war in der Tat eine sehr wesentliche Reduktion der Arbeitslosigkeit und damit natürlich auch eine moralische Stärkung des Regimes in der breiten Bevölkerung.”
Die Privatfinanziers stellten die Zahlung ein. Ab 1934 war das Institut, das dann seinen heutigen Namen - Institut für Weltwirtschaft - bekam staatlich finanziert. Der Aderlass am Institut war unwiederbringlich. Die Hälfte der Wissenschaftler musste Deutschland verlassen. Nie wieder sollte das Institut eine derartige internationale Bedeutung erlangen wie in der fabelhaften Zeit.
Thomas Herrmann
Anmerkungen