(Gegenwind 302, November 2013)

Rote Flora 1996
Rote Flora 1996, Foto von Hendrike

Hamburg

Riot Couture aus der Roten Flora

Im Hamburger Schanzenviertel rumort es. Das dortige, seit 24 Jahren besetzte autonome Zentrum Rote Flora befürchtet angesichts von Gerüchten über einen Verkauf eine neue Bedrohung durch Immobilienhändler. Jetzt veranstaltete die Solidaritätskampagne „Flora bleibt unverträglich” eine „Autonome Modenschau” in einem Stadtteil der Reichen Hamburgs.

Die große symbolische Bedeutung der Roten Flora in Hamburg wurde zum Ende des Sommers einmal mehr deutlich: Seitdem die tonangebende Lokalzeitung Hamburger Abendblatt in einem ganzseitigen Artikel am 15. August 2013 die Verkaufsgerüchte thematisiert hat, ebbt die Debatte um die Rote Flora nicht ab. Seit 2001 gehören das zweistöckige alte Theatergebäude und das 1770 qm große Grundstück im Schanzenviertel dem Eventmanager und Immobilienhändler Klausmartin Kretschmer. Die auch damals regierende SPD wollte der CDU im Wahlkampf 2001 den Wind aus den Segeln nehmen für die geplante Law-and-Order-Kampagne gegen die „Chaotenburg”. Kretschmer zahlte 370.000 DM und versprach, die Nutzung des besetzten Zentrums zu dulden und konnte offensichtlich im Gegenzug ein städtisches Filetstück erwerben: Die direkt an der Wasserkante gelegene traditionelle Gaststätte Riverkasematten. Aber mit allen seinen teuren Events und Immobilienprojekten hat sich Kretschmer übernommen. Bereits 2011 versuchte er die Stadt zu erpressen: Entweder Hamburg kaufe die Rote Flora für 5 Millionen Euro zurück, oder er würde sie an ein US-Unternehmen veräußern. Gleichzeitig malte er wortreich das Szenario der zu erwartenden wochenlangen militanten Proteste der UnterstützerInnen der Roten Flora aus. Die Stadt ließ ihn abblitzen.

Anfang diesen Jahres gingen Kretschmers bekannteste Immobilien in die Zwangsversteigerung. Niemand wollte die völlig überschuldeten Objekte erwerben. Als neuer Akteur trat Gerd Baer von „Baer und Baer Consulting” in Erscheinung und erklärte, er sei der Berater von Kretschmer und für dessen Geldprobleme werde es bald eine Lösung geben. „Kretschmer hat dann ganz offensichtlich auf einen Schlag Verbindlichkeiten in Höhe von 5 Millionen Euro bedienen können, so dass alle Versteigerungstermine gerichtlich aufgehoben wurden”, so Andreas Blechschmidt, Aktivist aus der Roten Flora: „Wir gehen davon aus, dass diese Mittel durch seinen damaligen Berater und Immobilieninvestor Gerd Baer organisiert wurden”. Eine Vertreterin der Roten Flora, nennen wir sie Floriana, ergänzt: „Diese finanzielle Hilfe beruhte auf Gegenleistungen. Wir haben es nicht schriftlich von Herrn Kretschmer, aber wir gehen davon aus, dass er die Flora an Baer oder einem Baer nahestehenden Investor vermietet hat. Ein zusätzlicher Anhaltspunkt ist das Interesse von Herrn Baer an dem hinter der Flora gelegenem Bunker”.

Am 4. Oktober, dem letzten möglichen Termin für einen Einspruch gegen den Bebauungsplan, der die Nutzung der Flora als Stadtteilkulturzentrum festschreiben soll, reichte Gerd Baer im Auftrag des Besitzers Kretschmer Widerspruch ein und legte Pläne für eine sechsstöckige Bebauung des Florageländes mit einem großen Konzertsaal bis zu für 2.500 BesucherInnen und weiteren groß dimensionierten kommerziellen Veranstaltungsräumen vor. Baer und Kretschmer wollen sich notfalls vor Gericht eine Baugenehmigung erstreiten, um das Gelände im Verbund mit einem US-amerikanischen Fonds gewinnbringend zu verwerten.

Das Schanzenviertel ist ein für Immobilienhändler sehr profitables Quartier, sowohl Eigentumswohnungen als auch Gewerberäume dort sind sehr begehrt. Für die beschleunigte Inwertsetzung mussten bereits viele ärmere MieterInnen und Kleingewerbetreibende weichen. „Der mögliche Konflikt um die Rote Flora ist nur ein Beispiel für die Verwertung des städtischen Raums, die der gesamtgesellschaftlichen Ökonomisierungslogik folgt”, erklärt Floriana. Auf dem Grundstück der Roten Flora ließen sich mit einer Ladenzeile, Büros und Lofts sicher mehr als die 5 Millionen Euro an Gewinn erzielen, die jetzt von ungenannten Immobilienhändlern an Kretschmer geflossen sein sollen. Die in der Roten Flora aktiven radikalen Linken gehen davon aus, dass für eine solche Gewinnmarge potente KäuferInnen auch bereit sind, einen offenen Konflikt mit den BesetzerInnen auszutragen.

Ganz anders sieht es das offizielle Hamburg: „Wir sehen das gelassen” erklärte Hamburgs Polizeisprecher Andreas Schöpflin. Die Bürgerschaftsabgeordnete Antje Möller, innenpolitische Sprecherin und letzte linke Mohikanerin der örtlichen Grünen, sekundierte ihm in seltener Eintracht: „Es ist nicht so, dass ein neuer Besitzer der Roten Flora machen kann, was er will.” Auch Dirk Kienscherf, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der Bürgerschaftsfraktion der allein regierenden SPD. „Dort darf lediglich ein Kulturzentrum bestehen bleiben. Kretschmer weiß das. Ein möglicher neuer Besitzer weiß das auch.” Kienscherf spielt hiermit auf den Kaufvertrag von Kretschmer an, der eine Nutzung als Kulturzentrum festschreibt, sowie auf die Veränderungssperre, die der zuständige Bezirk Altona für das Gelände erlassen hat. Aber: Der zur Festschreibung des Erhalts der Roten Flora nötige Bebauungsplan ist noch nicht rechtskräftig. „Nach unserem Kenntnisstand besteht aber bis zum Inkrafttreten derzeit noch ein Zeitfenster,” so Andreas Blechschmidt, um „kommerzielle Nutzungen, eine saftige millionenschwere Rendite” durchzusetzen. Das Plenum der Roten Flora hat in eindrücklicher Einmütigkeit und ungewohnter Schnelligkeit beschlossen: „Wir werden die Flora auch in Zukunft mit allen Mitteln verteidigen.” Dabei setzt die Flora nicht auf den staatlichen Rechtsweg, sondern vielfältigen, selbstorganisierten Protest: „Geschützt werden wird das Projekt allein durch die entschlossene Unterstützung aller Menschen, die vielleicht nicht mal alles teilen und gut finden, was die Rote Flora politisch sagt und tut, denen aber im Grundsatz ein Ort wie die Flora wichtig ist und den es daher zu verteidigen gilt”, so Floriana: „Und da glauben wir, dass das nicht wenige sind.”

Floratheater um 1900
Floratheater um 1900

Autonome Modenschau

In Pöseldorf sind an normalen Tagen Damen und Herren im karierten Sakko und mit echten Golduhren auf der Straße unterwegs, Frauen auch in Kostümen oder teuren Kleidern. In dem kleinen Wohnquartier, beschaulich direkt an der Außenalster zwischen Eichenpark und dem Hamburger Spielcasino gelegen, sind die Villen weiß und die Fußwege schmal. Edelboutiquen reihen sich hier an Antiquitätenläden, eine hochpreisiger als die andere. Ein in sich nahezu geschlossenes Quartier für Fahrer von Sportwagen und Designerkinderwägen. Das Gegenstück zu einem Arbeitslosenschließfach, wie auf der Veddel. Hamburg ist sozial stark segregiert und so verwundert es nicht, dass es außer einer Punkversammlung im Mai 1981, bei der einige Schaufenster eingeschmissen wurden, in diesem distinguierten Ambiente Protestaktionen nicht stattfinden.

Am 24. September war Pöseldorf jetzt im Ausnahmezustand: die Kampagne „Flora bleibt unverträglich” hatte zu einer „Autonomen Modenschau” aufgerufen. „Die Zeichen der Zeit stehen zweifelsohne auf Sturm”, schrieb die Solidaritätskampagne „Flora bleibt unverträglich” in ihrem Aufruf zur Modenschau: „Während in der Schanze und in Wilhelmsburg die Trends der kommenden Aufstände zu finden sind, während sich in Steilshoop und Neuwiedenthal die Think Tanks der kommenden Street Art befinden, bilden gutbetuchte, konservative Stadtteile wie Blankenese oder Pöseldorf immer noch die rückständigen Problemviertel der Marke Hamburg von morgen.”

Auf dem Plakat für die Modenschau tänzelt vor einer edlen, von pyrotechnischen Explosionen illuminierten Hauszeile ein Autonomer mit schwarzem Hemd, Stiefeln und Gasmaske, im weißen Röckchen auf der Straße. Die lokalen Boulevardmedien erregten sich über den Aufruf: Die „Rote Flora droht: Wir stürmen Pöseldorf” titele die Hamburger Morgenpost und Bild Hamburg „300 Chaoten wollen Milchstraße stürmen. Wasserwerfer sollen Pöseldorf schützen!”. Der Anlass waren Formulierungen im nicht ohne Selbstironie formulierten Aufruf wie: „Die Menschen haben dort häufig kaum Erfahrung und große Scheu, wenn trendige Sturmhauben, schwarze Helme oder andere innovative Accessoires im Straßenbild auftauchen. Dabei gehören Barrikaden, Scherbendemos oder zerstörte Luxuslimousinen im Fall einer Räumung der Roten Flora bald möglicherweise zum Alltag in genau diesen Stadtteilen.”

An der Kundgebung mit „autonomer Modenschau” nahmen am 24. September über 400 Menschen teil - und demonstrierten so für den Erhalt der besetzten Roten Flora. In Pöseldorf auch deswegen, weil Gerd Baer hier unlängst eine Luxuseigentumswohnung gekauft habe, hieß es aus dem Lautsprecherwagen: „Mit hohem finanziellen Einsatz und trotz aller Risiken für sich selbst und das geschäftliche Umfeld in Pöseldorf hat er die Rote Flora in sein Immobilien-Portfolio aufgenommen”, so der Aufruf.

„Sie kannten Autonome bisher nur aus der Zeitung? In Ihrer Straße gab es noch keine Vermummten? Pink and Silver halten Sie für ein Duo? Dies wird sich ändern”, erklärten die Organisatoren der polizeilich angemeldeten Veranstaltung. Nachdem die Hamburger Morgenpost und Bild-Zeitung daraus Meldungen über angeblich bevorstehende Krawalle und militante Auseinandersetzungen gemacht hatten, äußerten Ladenbesitzer Unmut über die geplante Autonome Modenschau: „Ich finde das Ganze total schwachsinnig. So eine Demo bewirkt gar nichts”, zitierte die Morgenpost eine Jessica H., Tanja B. findet die Demonstration „schrecklich und störend für alle”, Thomas Stiebritz, Inhaber des Pöseldorfer Vodafone-Shops stellte gleich das Versammlungsrecht in Frage: „Ob Krawalle oder nicht, ich bin sowieso gegen Demos. Das ist doch nur störend und belästigend für alle anderen.” Entsprechend schlossen zahlreiche Geschäfte am 24. September früher, einige Inhaber vernagelten vorsorglich ihre Schaufenster mit Spanplatten wegen der befürchteten Ausschreitungen, Deutsche Bank und „Pöseldorf Center” meinten obendrein, ihre Kundschaft warnen zu müssen. Ein nahe gelegener Hockeyclub sagte das Kinder- und Jugendtraining ab, zahlreiche Polizisten patrouillierten vor Läden und Villen.

Tatsächlich blieb es ausgesprochen friedlich. Nach Redebeiträgen zur Situation um die Rote Flora, nutzten weitere Initiativen die Kundgebung für Statements zur Situation von Flüchtlingen in Hamburg und zu Mobilisierung für die bundesweite Mietendemonstration am kommenden Samstag. Die dann in einem durchaus professionellen Rahmen gezeigten „Modestrecken” thematisierten Protestkulturen vom Punk bis Pussy Riot. Begleitet von Musik, einer Lichtshow waren auf einem eigens aufgebauten Laufsteg autonome Straßenkämpfer im Outfit der 80er zu sehen - mit Motorradhelm, Palästinensertuch, weiten Hosen für Wasserflaschen zum Ausspülen von Tränengas, und für den handlichen Bolzenschneider, wie begleitend erläutert wurde. Auch Castor- und Bauwagenaktivisten zeigten ihre Styles. Letztere hatten sich in einen kleinen Kinderbauwagen gesetzt. Nach zwei Stunden endete die Kundgebung, ohne das die in den Nebenstraßen zahlreich postierte Polizei einen Anlass zum Eingreifen gesehen hatte. Die Polizei hatte es nur zur Auflage gemacht, dass die Accessoires des Straßenkampfes auf dem Laufsteg und im Lautsprecherwagen verbleiben und sich nur auf dem Laufsteg vermummt wird. Eine rundum gelungene Parodie im feinen Pöseldorf. Kreativ, informativ, witzig. Und trotzdem ein Wink mit dem Pflasterstein, was im Falle einer Räumung der Roten Flora an Protesten auf Hamburg zukommen würde.

Gaston Kirsche

Pöseldorf /Harvestehude

Pöseldorf ist der reichere Teil des wohlhabenden Hamburger Stadtteils Harvestehude. Daten gibt es nur für den gesamten Stadtteil.

Pro-Kopf-Einkommen:
73.800 Euro Harvestehude,
32.505 Euro Hamburger Durchschnitt,
17.000 Euro Veddel (ärmster Stadtteil).

Anteil der Hartz-IV-Beziehenden:
3,5 % Harvestehude,
26,8 % Veddel

Anteil der Arbeitslosen:
3,2 % Harvestehude,
11 % Veddel

PKW pro 1.000 Einwohner:
396 Harvestehude,
151 Veddel

Wohnraum pro Person:
53 qm Harvestehude
25 qm Veddel

Wertveränderung Wohneigentum 2001 - 2011 pro Jahr:
+ 2,5 % Harvestehude
- 5,4 % Steilshoop (Veddel kaum Eigentum)

Zusammenstellung: Gaston Kirsche

Quellen: Angaben für 2012 vom Statistikamt Nord, Studie „Liebenswertes Hamburg” der Hamburger Sparkasse 2012.

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