(Gegenwind 302, November 2013)

Stoppt kapitalistische Globalisierung
Fotos: Pewe R-Mediabase.com

Kongress: Europa von unten

Die EU und die europäische Krise aus linker Perspektive

Am 28. und 29. September fand in der Pumpe ein zweitägiger Kongress unter dem Motto Europa von unten statt. Dieses Motto wurde durch den Untertitel ergänzt: Der Politik der Verelendung und Entdemokratisierung Widerstand entgegensetzen. Organisiert wurde diese Veranstaltung von attac/Kiel und den Kooperationspartnern avanti/Kiel, der BI Kiel gegen Atomanlagen, der DKP /SH, der Karawane, der Rosa Luxemburg Stiftung/SH und Ver.di Kiel- Plön. Die Podiumsdiskussion „Europa in der Krise”, acht Workshops und zwei Plenen, die sich mit verschiedenen Aspekten der EU und der Krise beschäftigten, wurden zusammen mit dem Vortrag von Jutta Ditfurth von insgesamt über hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmern besucht.

Anlass diese Kongresses war das Global Economic Symposium des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, das mit seinem großspurigen globalen Problemlösungsansprüchen bei aller nationaler und internationaler Vernetzung nach wie vor weitgehend neoliberal aufgestellt ist. Das wird in der bisherigen Gutachtertätigkeit des Kieler Instituts für die Bundesregierung deutlich und in der fast ausschließlichen Marktorientierung bei den Lösungsvorschlägen für „Weltprobleme” (Klima, Armut etc.) Schaut man darüber hinaus auf die Sponsorenliste, so stößt man auf das Who is Who der deutschen Banken- und Unternehmenselite. Diese Unternehmen würden kaum eine Veranstaltung sponsern, die im Kern ihren Interessen widerspricht bzw. die sich mit ihnen kritisch auseinandersetzt. Natürlich lässt sich dieser Kern auch gut mit grünen und sozialen Girlanden schmücken.

Im Unterschied zu der herrschenden Deutung der der europäischen Krise sollte der Kongress Europa von unten eine Debatte über alternative, linke Sichtweisen eröffnen. Dabei ging es inhaltlich um die Analyse der Institutionen der EU, um die europäische Krise und das neoliberale Krisenregime. Im Anschluss daran wurde diskutiert, wie Bausteine für ein solidarisches, demokratisches Europa aussehen könnten, und ob ein solches Europa innerhalb der Institutionen der EU und des Lissabon -Vertrages, der die vertragliche Grundlage der EU bildet, denkbar sei. Unter der Fragestellung Wie weiter? wurden abschließend Initiativen vorgeschlagen, die vor Ort zu diesen Themen weiterarbeiten. In einer Abendveranstaltung mit Jutta Ditffurth konzentrierte sich nach ihrem Vortrag die Debatte darauf, wie aus linker Sicht die Bedingungen und Strategien für wirkungsvolle Proteste bzw. einen wirkungsvollen Widerstand zu der herrschenden Politik in Deutschland und in der EU aussehen, und welche Erfolge aber auch Fehlentwicklungen es in diesem Zusammenhang gibt.

An dieser Stelle sollen kurz aus Sicht des Autors einige wesentliche Argumentationsstränge und gemeinsame Sichtweisen nachgezeichnet werden. Sie sind in ihrer Auswahl und Betonung zwangläufig subjektiv. Eine systematische Auswertung wird später erfolgen und unter www.europavonunten.de veröffentlicht.

Ist ein solidarisches, demokratisches Europa innerhalb der Institution EU denkbar?

In der Debatte über die Verfasstheit der EU bestand große Übereinstimmung darin, dass dieses Projekt in seiner Entstehungsgeschichte und mit seiner Wettbewerbs- und Marktorientierung von vornherein ein Projekt der Eliten war, mit dem wesentlich das Ziel verfolgt wird, die Kapitalverwertung auf einen gemeinsamen möglichst deregulierten (freien) Markt zu optimieren. Diese ökonomische Ausrichtung wurde in dem Lissabonvertrag faktisch in eine Verfassung gegossen.

Diese Verfassung ist nicht systemneutral und steht mit ihrem neoliberalen Geist einer sozialen, solidarischen und demokratischen europäischen Gesellschaftsordnung entgegen. Vor diesem Hintergrund stellte sich die grundsätzliche Frage, ob die EU mit ihren Institutionen für ein Europa von unten überhaupt brauchbar bzw. reformierbar ist. Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass es niemanden bei diesem Kongress um die Rückkehr zum Nationalstaat ging. Im Gegenteil. Die Furcht vor einer Renationalisierung Europas veranlasste einige Teilnehmer_innen dazu, bei allen grundsätzlichen Einwänden gegen die EU an dieser Union festzuhalten und um grundlegende soziale und demokratische Verbesserungen zu kämpfen. Kritiker dieser Haltung hielten dem entgegen, dass gerade die Wettbewerbsbedingungen und Standortkonkurrenzen innerhalb der EU besonders im Verlauf der Krise nationalistische und rassistische Tendenzen in ganz Europa verstärkt haben. Bei diesen unterschiedlichen Einschätzungen bestand weitgehend Einigkeit in der Ablehnung des vorherrschenden neoliberalen Krisenregimes, das besonders Südeuropa sozial verwüstet.

Die ideologische Deutung der europäischen Krise als Staatsschuldenkrise

In der herrschenden und etwas simplen Erzählung zur europäischen Wirtschaftskrise soll der Bevölkerung klar gemacht werden, dass besonders die Krisenstaaten über ihre Verhältnisse gelebt haben. Aus dieser Sicht sind folglich drastische Kürzungsmaßnahmen und sog. Strukturreformen zur Krisenbewältigung notwendig. Zu dieser ideologischen Erzählung gibt es diverse Gegenargumente, die hier nur skizziert werden können. Auslöser der europäischen Krise war bekanntlich die Finanzkrise 2008/2009, die in vielen europäischen Ländern so genannte systemrelevante Banken in die Pleite getrieben hätte, wären sie nicht durch aufwändige Rettungspakete ihrer Länder bzw. mit europäischen Krediten gerettet worden. Die Schulden der Banken sind so staatlich entsorgt worden. Natürlich wurden durch diese Krise besonders die Länder betroffen, die aufgrund ihrer ökonomischen Strukturschwäche negative Handelsbilanzen aufwiesen oder eigene Immobilienblasen produzierten, die im Zuge der Finanzkrise platzten.

Im Verlauf der aus der weltweiten Finanzkrise entstanden Eurokrise wurde ein Grundproblem dieser Währung deutlich. Eine Gemeinschaftswährung unter Ländern mit völlig unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Strukturen und Standards, die noch dazu in einem Standortwettbewerb stehen, ist ohne Ausgleichmechanismen (z.B. Finanzausgleich) höchst krisenanfällig. Mit der Einführung des Euros und den damit für viele Länder verbesserten Kreditbedingungen konnten anfänglich nationale Standortnachteile zum Teil durch umfangreiche Kreditaufnahmen kompensiert werden. Dieser Mechanismus brach in der Finanzkrise zusammen, weile viele dieser Kredite nicht mehr bedient werden konnten.

Der große Gewinner in diesem Währungssystem ist die deutsche Volkswirtschaft. Mit der Agenda 2010 sowie mit Dumpinglöhnen, Leiharbeit, dem Abbau von Sozial- und Rentenleistungen wurde die „Standortkonkurrenz” gegenüber den übrigen EU Ländern so verbessert, dass sie für Deutschland zu hohen Exportüberschüssen und in vielen Ländern der Eurozone zu Exportdefiziten führte. Dabei war es natürlich für viele deutsche Unternehmen hoch erfreulich, dass sich die öffentlichen und privaten Haushalte in diesen Ländern verschuldeten, um deutsche Produkte zu kaufen. Deutsche Banken haben dafür auch gern Kredite zur Verfügung gestellt, an denen sie gut verdienten. Wie sich in der Krise zeigte, war das für die Banken risikolos, weil so genannte staatliche Rettungspakete dafür sorgten, dass sie aus Steuermitteln ihr Geld zurückbekamen. All das geschah in Deutschland auf dem Rücken vieler Arbeitnehmer_innen, Arbeitslosen, Rentnerinnen und Rentnern, die von der größten sozialen Demontage in der Geschichte der Bundesrepublik, der rot/grünen Agenda 2010, und weiteren „Reformen” betroffen waren.

Die „Schockstrategie” zur Durchsetzung des Sozialabbaus in der EU

Im Verlauf der Krise erweisen sich die Institutionen der europäischen Union und der Eurozone (Kommission, EZB), der internationale Währungsfonds (IWF) sowie die einzelnen nationalen Regierungen besonders deutlich als Dienstleistungsunternehmen zur Rettung von Banken und zur Sicherung von Kapitalanlagen. Diese Funktion offenbart sich unter anderem in der Forderung von Merkel nach einer „marktkonformen Demokratie”.

Im Zuge der Krisenpolitik wurden und werden hart erkämpfte soziale Errungenschaften im Bereich des Tarifwesens, der Gesundheits- und Alterssicherung und des Kündigungsschutzes gnadenlos abgeräumt. Unter dem Druck der Schuldenlast und den Auflagen der Troika werden die Staaten, die Kredite aus den sog. „Rettungspaketen” (ESM) erhalten, zum Verkauf ihrer öffentlichen Einrichtungen an private Investoren gezwungen. Auch Reformen zur Renten- Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik werden für die „Krisenländer” längst in Brüssel geschrieben. Diese Politik erfolgt unter der Dominanz der deutschen Regierung, die die Agenda 2010 als Modell für ganz Europa durchsetzen will. Die Folgen sind Massenarbeitslosigkeit, Armut, zunehmende Obdachlosigkeit und dramatische Verschlechterungen der Gesundheitsversorgung insbesondere in Südeuropa aber auch in Irland und in osteuropäische EU Staaten. Dazu kommt der Abbau von demokratischen Strukturen in Europa durch den erpresserischen Druck der Troika, durch demokratisch unkontrollierte Institutionen des europäischen Krisenregimes sowie durch den hegemonialen Einfluss der deutschen Regierung auf Entscheidungen innerhalb der EU und der Eurozone. In Anlehnung an Naomi Kleins Buch „Die Schockstrategie” lässt sich sagen, dass die europäische Krise genutzt wird, um den Klassenkampf von oben zur verschärfen.

Kongress Europa von unten
Fotos: Pewe R-Mediabase.com

Die Krise als Katalysator für nationalen Chauvinismus und Rassismus

Als eine Reaktion auf die Krise verstärkten sich in ganz Europa nationalchauvinistische und offen rassistische Strömungen. Sie reichen von Skandinavien über Holland, Frankreich, Ungarn bis Griechenland. In Deutschland offenbarte sich diese Tendenz zuletzt in „gutbürgerlicher” Verkleidung bei den Bundestagswahlen in Form der AfD. Die europäische Krise ist natürlich nicht die Ursache für Chauvinismus und Rassismus. Sie wirkt aber als Katalysator, indem sie die sozialen Auseinandersetzungen um vermeintlich enger gewordenen Verteilungsspielräume anheizt und die Abstiegängste von Mittelschichten befeuert. In diesem Zusammenhang bietet die neoliberale Ideologie eine geeignete Folie für einen Sozialdarwinismus. Denn in der neoliberalen Ideologie sind „Eigenverantwortlichkeit”, „Leistungs- Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit” höchste Wertmaßstäbe. Dieser ideologische Wertekanon durchzieht inzwischen alle Bereiche unserer Gesellschaft. Daraus kann sozialdarwinistisch leicht abgeleitet werden: `Wer in diesem gesellschaftlichen Rennen nicht mithalten kann, ist nicht viel wert'. Er oder sie droht besonders in Krisenzeiten als sozialer Ballast diskriminiert zu werden.

Dieser Prozess wirkt sowohl gegenüber anderen Nationen (z.B. faule Südländer) als auch im Inland. Die soziale Ausgrenzung trifft hier neben Bevölkerungsschichten, die in sozial und wirtschaftlich besonders miesen Verhältnissen leben müssen, besonders hart Migrant_innen oder Menschen, die kulturell oder religiös von der deutschen „Leitkultur” abweichen. Insgesamt wird die hier beschrieben Entwicklung von dem Sozialpsychologen Eisenberg sehr zutreffen mit den folgenden Worten beschrieben: „Die im Namen des Neoliberalismus betriebene Demontage des Sozialstaats und die vom losgelassenen Markt entfesselte sozialdarwinistische Leistungskonkurrenz versetzt die Menschen in einen Zustand einer permanenten Verteidigung und Aggression” ( Zitiert in S. Friedrich u.a., Nation, Ausgrenzung, Krise S.25) Dieser Mechanismus verschärft sich selbstverständlich in Zeiten der Krise.

Als Herrschaftsinstrument eignet sich der nationale Chauvinismus gut dazu, um nach innen von Interessenkonflikten und dem großen Einkommens- und Vermögengefälle abzulenken. Nach außen dient er dazu, die Bereitschaft der Bevölkerung zu der Standortkonkurrenz gegenüber andern Volkswirtschaften zu erhöhen und dafür Opfer in Form von Sozialabbau, Dumpinglöhnen und weiteren Verschlechterungen hinzunehmen. Leider ist es bisher weder den Gewerkschaften in Europa noch linken Parteien oder Bewegungen gelungen, dieser ideologischen Herrschaftsstrategie mit einem solidarischen europäischen Widerstand zu begegnen. Viele Gewerkschaften lassen sich im Gegenteil in die nationale Standortkonkurrenz einbinden und helfen so, diese Strategie in den Köpfen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als „alternativlos” zu verfestigen.

Für das europäische Krisenregime ist der nationale Chauvinismus allerdings nicht widerspruchsfrei. Auf der einen Seite dient er dazu, über Standortkonkurrenzen die Lohn- und Sozialstandards zu schleifen, auf der anderen Seite kann er aber auch die Identifikationsbereitschaft breiter Bevölkerungskreise mit der EU oder der Eurozone noch weiter demontieren. Daher wird Frau Merkel nicht müde zu betonen, dass die notwendigen Strukturreformen in den verschiedenen Ländern der EU dazu dienen, Europas Wettbewerbsbedingungen in der Welt zu verbessern. Mit dieser Logik lässt sich der nationale Chauvinismus problemlos in einen europäischen überführen.

Die EU als Global Player

Die Wirtschaftspolitik der EU beschränkt sich nicht auf die Gestaltung des europäischen Binnenmarktes sondern hat auch eine große Bedeutung für den Außenhandel. Die EU ist mit ihren 28 Mitgliedsstaaten und über 500 Millionen Einwohnern ein gigantischer Wirtschaftsraum. Obwohl die EU Bevölkerung nur sieben Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, beträgt ihr Anteil am Welthandel zwanzig Prozent. Im Jahre 2000 proklamierten die Regierungschefs der EU Staaten in der Erklärung von Lissabon, die EU bis zum Jahre 2010 zum „dynamischsten”, „wettbewerbsfähigsten”, „wissensbasiertesten” Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Inzwischen hat sich nicht zuletzt in der europäischen Krise gezeigt, dass diese Projektion völlig größenwahnsinnig und illusionär war. Sie zeigt aber dennoch die programmatische Ausrichtung der EU in der weltweiten Standortkonkurrenz mit den anderen „Global Playern” wie den USA, China und den so genannten Schwellenländer wie Brasilien oder Indien.

Der Zielsetzung der „Lissabon-Strategie” ist auch die gemeinsam Außenhandelspolitik untergeordnet. So ist dann auch das Motto „Fit für den globalen Wettbewerb” die Devise für die Außenhandelsstrategie Global Europe. Im Rahmen dieser Strategie versucht die EU mittels ihrer politischen und ökonomischen Macht in der Welthandelsorganisation (WTO) oder durch bilaterale Handelsabkommen ihre Interessen durchzusetzen. Dabei geht es in der Regel um freie Zugänge zu Absatzmärkten und Rohstoffen in Ländern außerhalb der EU.

Inzwischen erlauben solche Abkommen beispielsweise der EU-Flotte die Küstengewässer Westafrikas leer zu fischen oder europäischen Exporteuren die Märkte einzelner afrikanischer Länder mit billigen subventionierten Agrarprodukten zu erobern und damit die Bauern dieser Länder zu ruinieren.

Neben dem Abbau von Schutzzöllen strebt die EU in solchen Abkommen auch die Liberalisierung ausländischer Märkte an, um dort ungehindert investieren zu können. In diesem Sinne soll vor allem der Zugang zu Dienstleistungen verbessert und Regulierungen des öffentlichen Beschaffungswesens abgebaut werden. Dabei spielt die Privatisierung staatlicher oder anderer öffentlicher Einrichtungen oft eine wichtige Rolle.

Doch da die Konkurrenz in der globalisierten kapitalistischen Welt nicht schläft, hat sich in den letzten Jahren die Wettbewerbsfähigkeit der EU infolge sinkender Wachstumsraten und der europäischen Krise gegenüber den anderen Global Playern verschlechtert. Genau daraus leiten dann besonders in Deutschland die herrschenden Parteien, Wirtschaftswissenschaftler und „Lei(d)tmedien” die Notwendigkeit zu weiteren neoliberalen Strukturreformen innerhalb der EU ab. Was das sozial bedeutet, ist bereits oben beschrieben worden.

Die Festung Europa

Die Tatsache, dass inzwischen über zwanzigtausend Menschen unter dramatischen Umständen auf ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken sind, ist das menschenverachtende und zynische Ergebnis der Abschottungspolitik der Europäischen Union. So war es unerträglich, dass die selben Politiker, die politisch für den Tod dieser Menschen Mitverantwortung tragen,

Krokodilstränen vor den Särgen von Männern, Frauen und Kindern weinten, die im Oktober vor Lampedusa bei einem Schiffsunglück ertrunken sind. Allein bei dieser Katastrophe kamen über 360 Menschen ums Leben.

Überwinden Flüchtlinge trotz aller Schwierigkeiten die Grenzen der Festung Europa, werden sie kaserniert, traktiert, müssen sich aufwendigen Asylanerkennungsverfahren stellen, werden wieder abgeschoben oder als illegal erklärt. Als „Illegale”, die weder Aussicht auf menschenwürdige Wohnverhältnisse, reguläre Arbeit oder ärztliche Behandlung haben, werden sie faktisch unter Sklavenverhältnissen auf Plantagen, in Küchen und Schlachthöfen brutal ausgebeutet.

Europa ist durch seine Kolonialgeschichte und seinen Neokolonialismus, mit dem viele europäische Konzerne faktisch die Kolonialgeschichte oft in Kooperation mit korrupten Regierungen fortschreiben, für viel Armut, Elend und Unterentwicklung besonders in Afrika mitverantwortlich. Das wird durch die europäische Außenhandelspolitik noch verstärkt.

Vor diesem Hintergrund ist die Losung der Karawane zu verstehen: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört! Asyl ist Menschenrecht - Kein Mensch ist illegal!”

Neben der brutalen Abschottungspolitik wird inzwischen von vielen Politikern vor dem Hintergrund des „demographischen Wandels” von einer „Willkommenskultur” gefaselt. Dabei geht es im Kern darum, je nach Arbeitsmarktlage vor allem gut ausgebildete Einwanderer in die EU reinzulassen und sie mit entsprechenden Visa und Verträgen bei Bedarf wieder abzuschieben. Insgesamt folgt diese Politik der Logik von Sklavenmärkten. Die Starken, die man zur Wohlstandssicherung gebrauchen kann, werden ausgesucht, den Rest überlässt man dem Elend oder lässt ihn im Mittelmeer ertrinken.

Fazit und wie weiter?

Aufgrund der begrenzten Zeit, die während des Kongresses zur Verfügung stand, konnte nur eine Themenauswahl berücksichtigt werden. Weitere wichtige Aspekte wie Militärstrategie, Rüstungsindustrie oder Umweltpolitik wurden nur am Rande gestreift. Natürlich war es in dieser Zeit auch nicht möglich, eine Blaupause für ein alternatives solidarisches Europa zu entwerfen.

Aus der Debatte der Kongressthemen ergaben sich aber wichtige Elemente für eine Strategie gegen den neoliberalen Kahlschlag in Europa. Es ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines breiten und wirksamen Widerstands diese Politik als ein Instrument zu entlarven, das zu weiterem Sozialabbau, zur Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, zu Lohndumping und zu einer zunehmenden Privatisierung in ganz Europa führt. Diese Strategie, die unter den Schlagworten „Strukturreformen” und „Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit” erscheint, wird, wenn sie im Süden Europas erfolgreich exekutiert wurde, in Art einer Agenda 2020 nach Deutschland zurückkehren. Es geht also darum, diese Politik als einen Klassenkampf von oben zu verdeutlichen, der sich gegen die sozialen und ökonomischen Interessen der Bevölkerungsmehrheit in ganz Europa richtet. Eine solche Perspektive wendet sich zwangläufig gegen nationalchauvinistische und neoliberale Deutungen durch die herrschende Politik und in den so genannten Leitmedien.

In den Massendemonstrationen, Generalstreiks und solidarischen Selbsthilfeorganisationen zur Armuts- und Elendsbekämpfung ist diese Perspektive in breiten Teilen der südeuropäischen Bevölkerung längst angekommen. Eine Solidarisierung mit diesen Kämpfen ist keineswegs selbstlos, sondern eine Notwendigkeit in der Auseinandersetzung mit dem europäischen Krisenregime.

Es wäre daher dringend notwendig, dass sich auch in Deutschland Gewerkschaften, soziale Bewegungen, parlamentarische und außerparlamentarische Linke gemeinsam mit den Kämpfen in Südeuropa solidarisieren und vor Ort die herrschende Krisenpolitik bekämpfen.

In diesem Zusammenhang entstand während des Kongress eine Initiative zur Solidarität mit Griechenland. Sie hat das Ziel, die katastrophalen Folgen der „Troika-Politik” aufzuzeigen, die sich unter anderem in dem völligen Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung äußert. In einer Kampagne während des Europawahlkampfes soll mit einer Spendensammlung für Griechenland auf diese soziale Katastrophe und vor allem auf die Verantwortlichkeit hingewiesen werden, die die europäische Krisenstrategie unter Führung Deutschlands dafür trägt. Neben Spendensammlungen für Medikamente sollen Straßenaktionen und Informationsveranstaltungen Bestandteile der Solidaritätskampagne sein. Darüber hinaus bildete sich eine Initiative, die in Kiel für die im kommenden Mai geplanten europäischen Protesttage „Blockupy” mobilisieren will. Bei diesen europäischen Protesttagen in Frankfurt geht um Demonstrationen und Aktionen gegen das hier beschriebene Krisenregime.

Gegen die zynische Flüchtlingspolitik der EU und die besonders bedrohlichen Lebensbedingungen vom Menschen, die als „illegal” diskriminiert werden, wendet sich vor Ort die Karawane/Kiel. In ihrem Kampf für offene Grenzen, freien Zugang zu Arbeit und für menschenwürdige Lebensbedingungen für alle Flüchtlinge braucht sie dringend Unterstützung. Dabei geht es hier im Norden ganz aktuell um die politische und materielle Unterstützung der „Lampedusa-Flüchtlinge”, die in Hamburg unter katastrophalen Bedingungen leben müssen und vom Hamburger Senat wieder abgeschoben werden sollen. Dagegen findet in Hamburg am 2.11. um 14.00 Uhr ab Hauptbahnhof eine Großdemonstration statt.

Schon lange wird in Kiel von linken Aktivisten aus unterschiedlichen Organisationen unter dem Motto: „Der Krieg beginnt hier!” auf das Ausmaß der Rüstungsexporte, auf die Waffenproduktion vor Ort und die Indoktrination der Bundeswehr in den Schulen hingewiesen. Da diese Aspekte während des Kongresses leider zu kurz gekommen sind, war es umso wichtiger, in der Abschlussveranstaltung darauf hinzuweisen. In der Zukunft sind besonders Aktionen geplant, die sich gegen die Werbung der Bundeswehr in Schulen und in der Öffentlichkeit wenden.

Die Krise mit ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedrohung für breite Bevölkerungsschichten und ein relativ stabiles Herrschaftssystem führen bei vielen Linken dazu, das System zwar grundsätzlich wegen seines ausbeuterischen und undemokratischen Charakters infrage zu stellen, sich aber darauf weitgehend zu beschränken. So bleiben die politischen Alltagsauseinandersetzungen vorwiegend reaktiv. Es gilt quasi das Schlimmste zu verhindern. Debatten über grundsätzlich alternative Gesellschafts- und Wirtschaftsformen kommen dabei oft zu kurz. Sie erscheinen vielen in den politischen Alltagsauseinandersetzungen als „Luxusdebatte”.

Auch der Kongress beschäftigte sich weitgehend mit ökonomischen und sozialen Forderungen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Rahmen des bestehenden kapitalistischen Systems in Europa.

Vor diesem Hintergrund war es sehr interessant, dass in dem Abschlussplenum von einer Besucherin angekündigt wurde, dass eine AG auf einer grundsätzlichen Ebene über Elemente einer sozialistischen Wirtschaftspolitik diskutiert und dazu Veranstaltungen plant. Von vielen Kongressteilnehmer_innen wurde das begrüßt. Sie werden solche Veranstaltungen unterstützen und über ihre Verteiler und Publikationen dafür werben.

Die Kongresswebsite www.europavonunten.de bleibt auch in Zukunft erhalten. Auf ihr werden alle erwähnten Initiativen und Veranstaltungen sowie die geplante Kongressdokumentation veröffentlich. Darüber hinaus soll sie der Ankündigung weiterer Initiativen und Veranstaltungen sowie der Veröffentlichung von Artikeln und Debattenbeiträgen zu dem Thema Europa von unten dienen.

Andreas Meyer
(attac/Kiel)

Fotos: Pewe R-Mediabase.com
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