(Gegenwind 300, September 2013)

Knud Ahlborn - Klappholttal - Die Idee eines Jugendlagers - 1921

100 Jahre „Hoher Meißner” - 95 Jahre Klappholttal

Monte Verita des Nordens: Klappholttal und Knud Ahlborn

Nicht nur für den 1888 in Hamburg geborenen Naturschützer und Arzt Knud Ahlborn bedeutete das Gipfelerlebnis des Hohen Meißner bei Kassel im Jahre 1913 Höhepunkt und Niedergang zugleich. Dieses Fest der Verbrüderung von Wandervogel-Gruppen mit Kulturkritikern vereinte die beiden auseinanderstrebenden Hauptrichtungen der bürgerlichen Jugendbewegung, den eher konservativ lebensreformerischen und den mehr schulreformerischen Flügel für kurze Zeit. Doch der Weg von diesem deutschen „Berg der Wahrheit” (Monte Verità) führte innerhalb eines Jahres in die Stahlgewitter des Ersten Weltkrieges. Diejenigen, die das Kriegsgemetzel von Langemark überlebt hatten, rief Knud Ahlborn 1919 zu einem neuen Gipfel der Verbrüderung nach Klappholttal. In einem leerstehenden Militärlager in den Dünenhügeln zwischen Kampen und List auf Sylt wollte er der antizivilisatorischen Protestbewegung eine neue Heimat geben. Eine „Insel der Glückseligen” für die aus grauer Städte Mauern flüchtenden Jugendlichen. Auch und vor allem für die aus seiner Heimatstadt Hamburg. Gleichzeitig übernahm er die Leitung des HamburgerJugendlagers in unmittelbarer Nähe von Klappholttal.

Klappholttal gehört zu der langen Kette von „Wahrheitsbergen”, die immer wieder einen neuen Lebensentwurf versprachen und eine beispielhafte Ichverwirklichung durch das Erlebnis der „Gemeinschaft” in der Natur anstrebten. Bis heute besteht dieser Entwurf einer Gegenwelt, die als Alternativkultur den Weg von der „Zweckhaftigkeit zur Sinnhaftigkeit” (Ahlborn) sucht. Der Gründungsvater verstand diesen Schritt nicht als ästhetische Fluchtbewegung, sondern als ein Schreiten zur Lebens- und Volksbildungsreform, als dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs suchte der 1918 in seine Geburtsstadt Hamburg zurückgekehrte Knud Ahlborn Kontakt zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), also zu jenem pazifistischen Flügel der Sozialdemokratie, der sich 1917 von den Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) getrennt hatte und den deutschen Kriegssozialismus ablehnte. In der Nummer 13 des „Politischen Rundbriefes” vom 13. Dezember 1918 begründete Ahlborn diesen Schritt: „Vereinen wir uns mit dem arbeitendem Volk, zu dem wir gehören, ob wir nun mit der Hand oder dem Kopf arbeiten, gegen alle Feinde einer neuen besseren Weltordnung!”.

„Nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortlichkeit, in innerer Wahrhaftigkeit”

Diese Maxime aus der Sternstunde im Leben von Ahlborn auf dem Hohen Meißner von 1913 machte der Lebensreformer auch nach 1918 zur Richtschnur seines Handelns. Sein Weg der Abkehr von der technisierten Zivilisation lockte nicht nur die an, die nach Fluchtburgen der Innerlichkeit suchten. Auch diejenigen, die als Linke auf die politisch-soziale Umgestaltung von Staat und Gesellschaft abzielten, fühlten sich von Klappholttal angezogen. Aber nach den zunehmenden Spaltungstendenzen innerhalb der Jugend- und Arbeiterbewegung begann ab 1922 die Alleinherrschaft von Knud Ahlborn im „Sozialwerk Klappholttal” mit Kinderheim und Volkshochschule. Er wurde dabei wirksam unterstützt von dem 1886 geborenen Ferdinand Goebel, der mit seinem organisatorischen Geschick für das Überleben der Einrichtung in den sich ständig wiederholenden Krisenzeiten sorgte.

Die pädagogische Insel der Arbeitsgemeinschaft entwickelte sich in den Krisenjahren Weimars immer mehr über den Notnagel des Arbeitsdienstes und des Siedlungsgedankens zur Einübung in die Volksgemeinschaft. 1933 begrüßte die Mehrheit der Vertreter der Jugendbewegung und Erwachsenenbildung die „langersehnte Polyphonie der Volksgemeinschaft” im neuen Deutschen Volksbildungswerk (DAF/Kraft durch Freude). Das Abkommen zwischen dem „Reichsbund Volkstum und Heimat” und dem Verwaltungsrat für das Lager beendete1934 endgültig die Selbständigkeit Klappholttals. Der Geschäftsführer des Reichsbundes Werner Haverbeck übernahm die politische Führung des Lagers. Knud Ahlborn - inzwischen Mitglieder der NSDAP - wurde in die Reichsleitung des Reichsbundes übernommen. Folge dieser Mitgliedschaft sei, so Ahlborn: „Angesichts der gegenwärtigen Erfordernisse können hinfort jüdische Lagerbesucher nicht mehr Mitglied des K.B. sein.”

Sozialdemokratische Dozenten wie der Hamburger Jurist Rudolf Laun oder der Pädagoge August Messer aus Gießen wurden ausgeladen und durch Anhänger der nationalsozialistischen Weltanschauung ersetzt: den Hamburger Professoren Arnold Oskar Meyer, einem bekannten Bismarck-Experten, und dem Nohl-Schüler Wilhelm Flitner. Der Weg von der Anpassung zum Mitmachen kulminierte in der „Versöhnung” des Bekenntnisses der Freideutschen Jugend von 1913 mit den Zielen des Nationalsozialismus. Die von Knud Ahlborn verfaßte Ankündigung der Veranstaltungen von 1935 nannte folgende Voraussetzung zur Anmeldung: „Aufnahme finden alle, die am deutschen Aufbau auf völkischer Grundlage in nationalsozialistischer Gesinnung mitarbeiten wollen und im Rahmen dieser richtungsgebenden Aufgabe ihr Leben im Dienst der deutschen Volksgemeinschaft vor eigener Verantwortung in innerer Wahrhaftigkeit gestalten. Die Zugehörigkeit zu irgendeiner bestimmten Organisation ist nicht erforderlich”.

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Klappholttal wieder Militärlager. Der als Lagerarzt eingestellte Knud Ahlborn wurde nun zum Truppenarzt ernannt und u. a. im Warschauer Ghetto tätig. Hier wurde er mit der Ausbreitung der Fleckfieberepedemie und dem Massenmord an Juden konfrontiert, ohne dass er darüber jemals informierte oder gar Rechenschaft ablegen musste.

Im Sommer 1946 eröffnete Knud Ahlborn die erste Nachkriegssaison in Klappholttal mit dem Gründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, Gustav Wyneken (1975-1964) und den Hamburger Flitner-Schüler und VHS-Leiter Fritz Blättner als Referenten. Erneut wollte Knud Ahlborn an die „Fiktion gewordene Vorstellung einer brüderlich verschworenen Gemeinschaft aller, eines sogenannten Klappholttaler Bundes” anknüpfen. Aber den unvermindert in die Meißner Euphorie von 1913 Verliebten gelang es zumindestens außerhalb von Klappholttal nicht, dafür Mehrheiten zu gewinnen. Im „Streit um das Erbe des Hauses Meißner” (H.U. Seidel) unterlag Ahlborn zusammen mit Gustav Wyneken endgültig 1947 auf dem Herbsttreffen der „Freideutschen Kreise” auf Burg Ludwigstein.

Zwischen Tradition und Wandel mit bis heute verdrängten Konflikten

Um die von Ahlborns Nachfolger Manfred Wedemeyer immer wieder thematisierte „Kontinuität im Wandel” zu begreifen, muß man auf die programatischen Schwerpunkte in den Jahresprogrammen zurück greifen. Diese Programme dokumentieren, welche neuen Gruppierungen und Kooperationspartner in den letzten Jahrzehnten gewonnen werden konnten. Und es ist sicherlich kein Zufall, daß zum siebzigsten Jubiläum von Klappholttal der Nachdruck der von Knud Ahlborn 1921 verfaßten Schrift vorgelegt wurde: „Klappholttal. Die Idee eines Jugendlagers”. Diese knapp sechzehnseitige Programmschrift enthält Ahlborns zentrale Ideen. Hier wird deutlich, was rund dreitausend Menschen Jahr für Jahr nach Klappholttal zieht, um sich hier in der Regel für zehn bis vierzehn Tage bei einfacher Lebensweise und mehr oder weniger anspruchsvollen Programmangeboten zu erholen, am Gemeinschaftsleben teilzunehmen und für den Alltag zu Hause aufzutanken: Es ist nicht nur die Dünenlandschaft, das Ambiente, die Ruhe, die „Rückkehr zur Natur” oder der „Kampf gegen die Hohlheit der Zeit”. Es ist das Lehrangebot, das den Tagesablauf für die Teilnehmer bestimmt. Es bietet, wie Manfred Wedemeyer im Nachwort zu Knud Ahlborns „Idee eines Jugendlagers” formuliert, „eine Umschau auf viele Gebiete und zeitgemäße Anfragen der Gegenwart. Seine Gemeinschaftsaufgabe ist die kritische Aufklärung mit dem Ziel der geistigen, kulturellen und sozialen Entfaltung der Teilnehmer. Darüber hinaus ist Klappholttal eine Begegnungsstätte, die nicht einseitig einer Gruppe, Partei oder Religionsgemeinschaft dient, sondern sie ist auf das Gemeinwohl ausgerichtet und für jedermann zugänglich. Die Heimvolkshochschule Klappholttal, eine Insel auf der Insel, ist als eine kulturelle Oase in dieser Zeit mechanistischer Veranstaltung und materialistischer Überflutung so aktuell wie zur Zeit ihrer Gründung vor 70 Jahren” (1989, S. 20/21). Ein Anspruch, dem sich auch die aktuelle Leitung der zur „Akademie am Meer” erhöhten HVHS im „Schiller-Theater” verpflichtet weiß, ohne dass dabei die Dauerkonflikte der Vergangenheit zur Sprache kommen. Erinnern wir noch einmal daran:

Als Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel das bei List gelegene Militärlager Klappholttal auf Sylt im Sommer 1919 in eine Bildungsstätte zur „körperlichen Erholung nach der schweren Kriegszeit” umwandelten, wollten sie mit „geistig musischen Anregungen” eine Jugend ansprechen, die durch das „Gemeinschaftsleben und die Geselligkeit” zu neuem Körpergefühl, zu naturgemäßer Lebensweise, zu neuer Geistigkeit durch Erforschung mannigfaltiger philosophischer, künstlerischer und religiöser Systeme geführt werden sollte. Dieser Weg der Abkehr von der technisierten Zivilisation lockte nicht nur die an, die nach Fluchtburgen der Innerlichkeit suchten. Auch diejenigen, die auf die politisch-soziale Umgestaltung von Staat und Gesellschaft abzielten, fühlten sich einst von Klappholttal angezogen. Zwar kam es schon auf der Jenaer Führertagung der Freideutschen Jugend vom April 1919 zu ernsten Konflikten zwischen den unterschiedlichen Flügeln, aber die bürgerlichen „Jungdeutschen” und die proletarische „Entschiedene Jugend” trugen das Konzept einer gemeinsamen Gründung des Freideutschen Jugendlagers in Klappholttal zunächst noch mit. Und sie ließen sich leiten von der Jenaer Oster-Erklärung, die vom Vertreter der Freideutschen, Knud Ahlborn, und dem der „Freien Soziaistischen Jugend” und Mitglied der KPD, Alfred Kurella, entworfen worden war, jedoch nur von einem Teil der in Jena versammelten Freideutschen unterzeichnet wurde:

„Die Freideutsche Jugend will die Entfesselung der menschlichen Seele und die Entfaltung aller gemeinschaftsbildenden Kräfte. Sie ringt um die Idee des Menschheitsreiches der Brüderlichkeit und gegenseitigen Hilfe, das allen Volksgenossen und Völkern ein Leben nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und innerer Wahrhaftigkeit ermöglicht. Sie setzt sich ein für die restlose Beseitigung aller die Volksgemeinschaft trennenden Gesellschaftsschranken, Klassensonderrechte und Zwangsgewalten. Sie erklärt sich, als Gesamtheit frei von parteipolitischer Festlegung, in ihren einzelnen Mitgliedern zur politischen Stellungnahme zutiefst verpflichtet, bereit, an dem Aufbau der neuen Volksgemeinschaft mitzuwirken und solidarisch mit den gleichstrebenden Kräften der deutschen proletarischen und internationalistischen Jugendbewegung.” (1)

Der von Ahlborn postulierte „untrennbare Zusammenhang völkischer und menschlicher Ideale der beiden Flügel der freideutschen Bewegung” konnte noch einmal hergestellt werden: Beide Flügel trafen sich Pfingsten 1921 zu einer gemeinsamen Gedächtnisfeier für den von den Freikorps ermordeten Pazifisten Hans Paasche auf der Burg Ludwigstein zwischen Göttingen und Kassel. Aber schon zuvor kam es zum ersten Bruch in Klappholttal. Nachdem die kommunistischen Jugendlichen einen Teil der Klappholttaler Nahrung heimlich an notleidende Genossen in Schleswig-Holstein verteilt hatten, wurden sie von Ahlborn Pfingsten 1920 erstmals des Platzes verwiesen. Die damals zehnjährige Tochter eines bekannten kommunistischen Werftarbeiters aus Bremen, die mit Tami Oelfken nach Klappholttal gekommen war, wurde vor versammelter Mannschaft „entlaust” - durch das Abschneiden aller Haare - und nach Hause geschickt. (2)

Über die Folgen des Pfingst-Konfliktes im Ferienlager Klappholttal auf Sylt legten drei Repräsentanten des linken Flügels der Freideutschen Jugend ein Manuskript vor - als ein „Kapitel von freideutscher Gemeinschaftsarbeit, wie sie nicht sein soll. Mitgeteilt von Rudi Freund, Tami Oelfken, Fritz Westendorf.” Mit dabei war auch die als Kartoffelschälerin eingestellte Mutter von Wolf Biermann. Knud Ahlborn konnte als Schriftleiter der „Freideutschen Jugend” die Publikation nicht verhindern. (3) Sie stellt ihn als Leiter von Klappholttal öffentlich bloß, unfähig, die gemeinsam konzipierte „Gesinnung und Gestaltungskraft im Lager” zu verantworten und „aus Erstarrung und Unbeweglichkeit heraus Ansätze und Versuche zu neuen Lebensformen im Keim zu ersticken.” Dazu zählten vor allem die ständigen Versuche, Beschlüsse des „Verwaltungsrates der Arbeitsgemeinschaft der Freideutschen Jugend e.V. für das Jugendlager Klappholttal auf Sylt” wie auch des Betriebsrates zu unterlaufen. Im Sommerlager von Pfingsten bis August 1920 eskalierte der innerbetriebliche Konflikt mit dem eingesetzten Geschäftsführer Gerhard Fils dermaßen, daß die Verwaltungsratsmitglieder Rudi Freund und Fritz Westendorf die Arbeit ebenso niederlegten wie die engagierte Bremer Pazifistin Tami Oelfken als gewählte Betriebsrätin für die Festangestellten des Lagers. Durch „die unklare und unsichere Haltung infolge Nachlassens seiner geistigen Kräfte” habe der Leiter einen Komplott der Geschäftsführung gedeckt und die eigene „Diktatur des sicher gutwilligen Ahlborn” ermöglicht - getragen „nur noch von ihm und einem übersentimentalen Anhang”, heißt es im Schlußkommentar von Rudi Freund und Rudi Westendorf.

Nach der Zerschlagung der demokratischen Oganisationsstrukturen von Klappholttal begann die Alleinherrschaft von Knud Ahlborn im „Sozialwerk Klappholttal” mit Kinderheim und Volkshochschule. Entlastet durch Ferdinand Goebel und befreit von der innerbetrieblichen Demokratie in Klappholttal wie von der zusätzlichen Leitung des Hamburger Jugendlagers auf Sylt konnte sich die charismatische Kraft Ahlborns wieder entfalten. Noch zweimal unternahm in diesen Jahren Knud Ahlborn den Versuch, zusammenzuführen was aus seiner Sicht zusammengehörte.

So warb er im Heft Nr. 2 der „Freideutschen Jugend” von 1921 für ein „Internationales Jugendtreffen in Klappholttal auf Sylt” in der Zeit vom 12. bis 17. Oktober 1921. Im Mittelpunkt der gemeinsamen Arbeit sollte die Frage stehen: „Was kann die idealistische Jugend aller Völker zur Überwindung der zwischenstaatlichen Anarchie und des Völkerhasses tun?” (7.Jg., Heft 2, S.287). Ende August, Anfang September 1923 rief er erneut mit seinen Helfershelfern zu einem zweiten Freideutschen Jugendtag auf den Hohen Meißner. Aber die Gegensätze waren zu stark, trotz aller Achtung der Gegner. Die Tagung endete mit einer bitteren Niederlage für Knud Ahlborn, der im Januar 1922 versucht hatte, mit der Gründung des „Freideutschen Bundes e.V.” eine neue umfassende Organisation der Freideutschen zu schaffen. Ferdinand Goebel und Knud Ahlborn legten aus diesem Anlaß ein umfassendes Konzept vor, aus dem wir einige zentrale Passagen zitieren, schon allein deshalb, weil diese programatische Erklärung bislang in der Erinnerung an die Klappholttaler Tradition ausgeklammert blieb. Lediglich der Gießener Pazifist und entschiedene Schulreformer August Messer, Referent in Klappholttal vor 1933, zitiert sie in seiner 1922 vorgelegten Studie über die „Freideutsche Jugendbewegung”. Folgende erstaunlichen und nach wie vor aktuellen Passagen finden sich in dem Manifest von 1922:

„Der freideutsche Bund erblickt im Aufbau des Volksstaates und des Völkerbundes eine einzige große, untrennbare Aufgabe”, um sowohl den Einzelnen wie den Völkern Selbsterhaltung und Selbstentfaltung zu sichern. „Im heutigen Völkerbunde sehen wir nur einen unvollkommenen ersten Versuch zu dem wahren Völkerbund.” Solange nicht Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied in den Bund aufgenommen sei, könnten dessen Entscheidungen nicht als für uns verbindlich anerkannt werden. Ein wirklicher Völkerbund sei auch „das einzige Mittel, ohne Gewaltanwendung die Vergewaltigung von Versailles und St. Germain wieder gutzumachen...Von der Weimarer Verfassung ausgehend, erstreben wir an Stelle der mechanischen parlamentarischen Regierungsform einen organischen Aufbau des Volksstaates mit Gemeinschafts- und Berufsvertretung in Räteform als gesetzgebende Körperschaften.... Auf dem Gebiete des Kultus erstreben wir eine neue Kirche, die sich auf unserem weltanschaulichen Bekenntnis (s.o.) aufbaut, und in der alle überlieferten und neuschöpferischen religiösen Kräfte sich auswirken können; denn wir wissen, daß nicht nur im Christentum beider Konfessionen, sondern z.B. auch in der Taolehre, im Buddhismus, in der modernen Anthroposophie lebendige religiöse Kräfte wirken ... Auf dem Gebiete des Erziehungswesens wollen wir den alsbaldigen Ausbau unserer Schule im Sinne einer reichgegliederten, allen Gliedern des Volkes offenstehenden und von allen bis zum 18. Lebensjahre tatsächlich durchlaufbaren Einheitsschule ... Sie soll der Aktivierung der schöpferischen Kräfte unseres ganzen Volkes dienen... Auf wirtschaftlichem Gebiet erstreben wir eine planmäßige Güterproduktion und -verteilung.” Nur soweit die Erzeugung notwendiger Güter Energien freiläßt, sollen diese zur Erzeugung von Luxusgütern verwendet werden, „deren kultureller Wert feststeht... Die Erzeugung von volksvergiftenden Genußmitteln, wie Alkohol und Nikotin, soll vollständig von der Staatsgewalt unterdrückt werden.” Die Arbeit soll nach Kräften „entmechanisiert” und den Arbeitern Zugang zu „seelenweckenden” Gütern erleichtert werden. Ein „bescheidenes Lebensminimum” soll allen sichergestellt, größere und bessere Leistungen höher vergütet werden. (Messer, 1922, S. 117/18).

Ahlborn und Goebel legten hier ein politisches Programm der Deutschen Jugend vor - mit starker Annäherung an sozialistische und demokratische Traditionen, aber auch an die Konzepte des von Gymnasiallehrern um Fritz Karsen und Paul Oestreich geprägten „Bundes Entschiedener Schulreformer” mit einer hier offensichtlich verkürzten Rätekonzeption.

Akademie am Meer - Volkshochschule Klappholttal auf Sylt - Programm 2001 - 15. Januar bis 15. Dezember 2001
Programmheft Klappholttal

Dennoch: die Spaltung war nicht mehr aufzuhalten. Um so wichtiger ist es, heute an solche bewusst verdrängten Konzepte zu erinnern. Und das um so mehr, weil der zentrale Begriff der Jugendbewegung, die Gemeinschaft, in Krisenzeiten immer wieder reaktiviert und missbräuchlich benutzt wird. So konnte ausgerechnet die Enkelin des Kieler Soziologen und „Gemeinschaft”-Theoretikers Ferdinand Tönnies - unter Berufung auf „jugendbewegte Kreise”, auf die „besten Kräfte der Weimarer Republik” - die Einrichtung des Arbeitsdienstes in einer renommierten deutschen Wochenzeitung als „Alternative gegenüber der geistigen und sittlichen Misere der Zeit”, als „Sozialpolitik für die moderne Massengesellschaft” empfehlen. (4) Dieser Vorschlag, mit staatlichem Zwang unbeschäftigte Jugendliche von der Straße zu holen und ihnen - wie einst über den Freiwilligen Arbeitsdienst in Klappholttal und anderswo, dann über die Arbeitsdienstpflicht - von Staats wegen Mores zu lehren, gehört in die „Phalanx selbsternannter Volkserzieher”, die über Wagenburgen-Slums in den Großstädten und über Graffiti in den U-Bahnen klagen oder die dem Staat auf der Tasche liegenden Sozialhilfeempfänger loswerden möchten.

Brechen wir erneut in ein neues Zeitalter des Zwangs auf? Haben wir nichts aus der Geschichte gelernt? Liegt die Zukunft Klappholttals zum wiederholten Mal in der „Arbeitslagerbewegung”, in der „jugendbewegte Kreise” die bürgerliche Isolierung am Lagerfeuer bei Volksliedern überwinden und in antidemokratische Gedankenwelten eintauchen, wie Thomas Kleine-Brockhoff in seiner „Zeit”-Erwiderung vom 26. Juli 1996 formulierte? Die Neu-Erfinderin dieser uralten Idee, Sybille Tönnies, die gelegentlich zur Erholung in Klappholttal weilt, empfiehlt für die „Besserungslager” neue Begriffe: Ihre „Arbeitslager” werden zu „Work-Camps”, der „Arbeitsdienst” wird zum „New Deal”, „Kriegsdienst” wird zum „peacekeeping”, und abends geht es nicht zum „Volkstanz”, sondern in die „Disco”, für die man sich vorher beim Essen nicht mit Frikadellen stärkt, sondern mit Hamburger. Gegen diese Verwestlichung der Begriffe ließen sich sicherlich Gäste, Mitglieder und Vorstand der zur „Akademie am Meer” umgewandelten Heimvolkshochschule Klappholttal mobilisieren. Hoffentlich aber auch gegen die Inhalte, die Abschied nehmen von den Prinzipien der Freiwilligkeit und Selbstgestaltung, die nach wie vor die Arbeit in Klappholttal bestimmen. Allerdings war Ahlborns Konzept des „Nordseelagers Klappholttal auf Sylt” auch geprägt von den Ideen jener volksbildnerischen Reformpädagogen, die körperliche Arbeit und das Gemeinschaftserlebnis in freiwilligen Arbeitslagern der bündischen Jugend zusammenführen wollten. „Neue Lebensformen” und die Ideale von „Selbsterziehung”, „Selbstverwaltung”, „Gemeinsamkeit”, „gemeinschaftliches Lebensgefühl” und „praktisches Handeln” galt es, in dieser Frühform des Arbeitsdienstes einzuüben und in Trägerschaften der Volkshochschulen zu praktizieren. Mit der staatlichen Einführung des Freiwilligen Arbeitsdienstes im Juni 1932 (Zweite Notverordnung des Reichpräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen) verlor dieses Konzept seinen eigenständigen pädagogischen Ansatz. Den Freiwilligen Arbeitsdienst (FAD) wiederum überführten die Nationalsozialisten 1935 in den Reichsarbeitsdienst (RAD) - als Teil eines Zwangsarbeitssystems, dem sich - von den Nazis geduldet und gefördert - auch zahlrieche jugendbewegte Lagerführer und Erzieher wie Ahlborn oder Fritz Laack zur Verfügung stellten.

Jörg Wollenberg

Anmerkungen

  1. Ahlborn, Freideutsche Jugend und Menschheitsgedanke, 1920, S. 65f.
  2. vgl. u.a. Reinhard Preuß: Verlorene Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913-1919, Köln 1991, S. 214 ff. Das 10jährige Kind, Lu Kundel, die Tochter des Repräsentanten der Bremer Linken, des Volkskommissars (Senator) der Bremer Räteregierung Adolf Danat, hat mir diese Begebenheit mehrmals mündlich bestätigt. Nach ihrer Erinnerung befand sich „der Doktor” (Ahlborn) zu diesem Zeitpunkt nur selten in Klappholttal, weil der damals gleichzeitig das Lager „Puan Klent” für den Hamburger Jugendverband leitete. Marie Wilhelmine (Tami) Oelfken (1888-1957) aus Bremen vertrat als entschiedene Schulreformerin das Konzept einer „Gemeinschaftsschule”, mit dem sie in Klappholttal wohl scheiterte, das sie aber von 1922 bis 1934 als private „Tami Oelfken-Gemeinschaftssschule” in Berlin-Dahlem realisieren konnte.
  3. Westendorf u.a., Das Klappholttal auf Sylt, Duderstadt 1920.
  4. vgl. „Die Zeit”, Nr. 29, 12. Juli 1996.
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