(Gegenwind 300, September 2013)
Eine beispiellose Mordserie an eingewanderten Kleinunternehmern gab es von 2000 bis 2006, darunter einen Mord in Hamburg. Erst Ende 2011 wurde klar, dass Nazis für diese Morde verantwortlich waren, die dazu noch 2007 eine Polizistin erschossen hatten. In Uetersen berichtete jetzt Sebastian Edathy, SPD-Bundestagsabgeordneter aus Nienburg in Niedersachsen, von der Arbeit des Bundestags-Untersuchungsausschusses.
Wie konnte es sein, dass eine rechtsextremistische Zelle eine solche Mordserie hinlegt und trotzdem 13 Jahre lang unentdeckt bleibt? Warum waren die Sicherheitsbehörden, also die Landespolizeien der betroffenen Bundesländer, das BKA, aber auch die Geheimdienste wie der Verfassungsschutz 13 Jahre lang nicht in der Lage, die Existenz dieser Nazi-Zelle festzustellen? Während Untersuchungsausschüsse sonst in der Regel ein „Kampfinstrument” der Opposition sind, um der Regierung Fehler nachzuweisen, waren diese Fragen für alle Abgeordneten so schwerwiegend, dass dieser Untersuchungsausschuss einstimmig eingerichtet wurde. Wie Sebastian Edathy am 7. August in Uetersen berichtete, ist es bei dieser parteiübergreifenden Fassungslosigkeit und dem gemeinsamen Willen zur Aufklärung geblieben: Bis heute haben die 11 Mitglieder des Untersuchungsausschusses geschlossen am Thema gearbeitet, niemand hat Zeugen der eigenen Partei geschont oder Zeugen anderer Parteiangehörigkeit aus wahltaktischen Gründen angegriffen. Rund 300 Beschlüsse zur Beweiserhebung oder Vorladung von Zeugen wurden einstimmig gefasst. Der Abschlussgericht, der ab Ende August im Internet stehen wird, wird auch kein „Mehrheitsvotum” der Regierungsfraktionen und ein „Minderheitsvotum” der Opposition enthalten, sondern ein Ergebnis des gesamten Untersuchungsausschusses.
Die Fragestellung eines Untersuchungsausschusses unterscheidet sich natürlich von dem eines Gerichtes. Das Gericht in München soll die individuelle Schuld der Angeklagten feststellen. Dagegen versucht ein Untersuchungsausschuss, die politische Verantwortung für Fehler festzustellen und kann auch Vorschläge machen, wie die Wiederholung solcher Fehler vermieden werden könnte.
Der Untersuchungsausschuss ging von zwei Fragestellungen aus:
Sebastian Edathy stellte zunächst klar, dass es aus seiner Sicht keinen „absichtlichen Schutz” der Täter durch staatliche Organe gegeben habe. Es gibt ja immer wieder Spekulationen, es könnte staatliche Organe zum Beispiel beim Verfassungsschutz geben, die mit den Motiven der Täter sympathisierten, Einwanderer in Panik zu versetzen, um die Wieder-Auswanderung zu fördern. Dafür, so Sebastian Edathy, habe es bei den Ermittlungen des Untersuchungsausschusses keinerlei Belege gegeben.
Es gibt aber starke Belege dafür, dass es ein systematisches Versagen gegeben habe, dass also nicht einzelne „Pannen” Ursache für den Misserfolg der Sicherheitsbehörden waren. Drei Punkte ergeben aus seiner Sicht das Ergebnis des Untersuchungsausschusses.
Zunächst ist es ein Problem, dass zu viele Sicherheitsbehörden zuständig sind, im Ganzen sind es rund um den NSU 36 Behörden. Als Beispiel nannte Sebastian Edathy einen Informanten des Landesamtes für Verfassungsschutz Brandenburg: Dieser meldete kurz nach dem Untertauchen des Trios, also vor Beginn der Mordserie, die drei würden Waffen sammeln, sie würden Überfälle verüben, sie sollten sich nach Südafrika absetzen. Alle drei Informationen trafen zu, wurden aber nicht an die zuständige Landespolizei in Thüringen weiter gegeben, um die Identität des Informanten zu schützen. Ein Thüringer Zielfahnder sagte vor dem Untersuchungsausschuss aus, sie wären damals davon ausgegangen, dass die drei Untergetauchten unbewaffnet seien - die Information, dass sie inzwischen Waffen hatten, hätten sie gerne gehabt, um bei der Fahndung entsprechende Vorbereitungen zu treffen. Diese Nicht-Weitergabe von Informationen habe das Leben von Polizeibeamten gefährdet, so der Bundestagsabgeordnete.
Bei den Morden in fünf Bundesländern haben, so die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses, fünf Landespolizeien jeweils im eigenen Bundesland nach den Tätern gefahndet, also in Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. Untereinander wurden nur wenige Informationen ausgetauscht, die Landespolizeien von Thüringen oder Sachsen wurden überhaupt nicht eingezogen.
Nach dem Bombenanschlag von Köln, wo eine Nagelbombe in einer belegten Straße mit sehr vielen kleinen Läden von Einwanderern explodierte, wurde auch intensiv nach gewalttätigen Nazis gefahndet - allerdings nur nach Nazis, die in Köln und Umgebung wohnen.
Das zweite Gebiet des Versagens war die Unterschätzung der rechte Szene. So gab es zum Beispiel 2003 in München einen Prozess gegen die „Kameradschaft Süd” und ihren Chef Martin Wiese. Sie wurden verurteilt, der Anführer zu sieben Jahre Haft, weil es sich um eine terroristische Vereinigung handelte, die Anschläge unter anderem auf die Synagoge in München vorbereitet hatten. Dennoch verbreitete das Bundesamt für Verfassungsschutz in der Folge, es gäbe keine Anzeichen dafür, dass die rechte Szene zu Terrorismus neigen würde.
Bei den Geheimdiensten waren auch seit zehn bis fünfzehn Jahren Konzepte bekannt, die aus der Nazi-Szene stammten: Danach wurde ein „führerloser Widerstand” kleiner Gruppen propagiert, die Taten ohne Bekennerbrief verüben sollten, Taten die für sich selbst sprechen sollten. Insofern war es völlig unverständlich, dass Sicherheitsbehörden sagten, das Fehlen von Bekennerschreiben wäre es Beleg, dass es sich nicht um Anschläge mit politischem (faschistischem) Hintergrund handele. Im Untersuchungsausschuss sagten allerdings Polizeibeamte aus, die den Geheimdiensten bekannten Konzepte der Rechtsterroristen seien der Polizei nicht bekannt gewesen, weil die Informationen nicht weiter gegeben worden seien.
Das dritte Gebiet der Versagens beschrieb der Abgeordnete Edathy mit dem Begriffe der „Ressentiments in den Ermittlungen”, mit Vorurteilen innerhalb der Ermittlungsgruppen. Er wandte sich ausdrücklich gegen den Vorwurf, es handele sich um einen Rassismus der Institution, er sprach ausdrücklich vom Rassismus einzelner Beamter. Das begann mit der Namensgebung der Sonderkommissionen, die nach den Morden ermittelten. Nach dem Mord an der Polizistin wurde die „Sonderkommission Parkplatz” gebildet, eine normale Namensgebung, weil der Mord auf einem Parkplatz geschah, wo die beiden Polizisten Pause machten. Die Sonderkommissionen nach den Morden an den Geschäftsleuten bekamen aber Namen wie „Halbmond” oder „Bosporus”, was die Ermittlungen in eine bestimmte Richtung lenkte: Weg von rassistischen Morden, hin zur organisierten Kriminalität, in die die Opfer irgendwie verwickelt zu sein schienen. Ein besonderes „Highlight” in diese Richtung: Im Jahre 2004 gab es ein polizeiliches Gutachten, in dem gesagt wurde, gerade die Brutalität der Morde, bei denen den Opfern aus nächster Nähe mitten ins Gesicht geschossen wurde, würde belegen, dass die Täter nicht aus dem „westeuropäischen Kulturkreis” kommen könnten.
In der Folge war es auch keineswegs so, dass die Ermittlungsbehörden, vor allem die Polizei, die Ermittlungen schleifen ließ es wurde großer Aufwand betrieben.
So ging die Polizei dem Verdacht nach, es gäbe eine organisierte Kriminalität im Bereich der Döner-Buden, vor allem im Bereich der Belieferung. Sie richtete also zwei Imbiss-Buden ein, eine in Nürnberg, eine in München, und suchte Betreiber, denen die Miete bezahlt wurde, die Einnahmen durften sie behalten. Sie mussten sich allerdings verpflichten, die Rechnungen der Lieferanten nicht zu bezahlen, weil die Polizei sehen wollte, was dann passiert. Es passierte, was passieren musste: Die Betreiber bekamen Mahnungen.
So weit, so gewöhnlich und vielleicht auch ein wenig lächerlich.
Der Ausschuss fragte hier aber weiter: Was wäre denn vorgesehen gewesen, wenn es diese „Döner-Lieferanten-Mafia” gegen hätte? Dann hätten ja die „Döner-Killer” bei den Imbiss-Inhabern auftauchen müssen, die tschechische Pistole in der Hand. Warteten vor dem Imbiss denn Spezialeinheiten, um die Mörder zu überwältigen, bevor sie hätten schießen können? Nein, so die Antwort der bayerischen Polizei: Unter der Theke habe man einen „Alarmknopf” installiert. Wenn die Killer gekommen wären, um zu schießen, hätten die Imbissbuden-Betreiber den Knopf drücken müssen, und bei mehreren Polizeibeamten hätte es dann auf dem Handy geblinkt... Sebastian Edathy vermutete, dass bei einer Mordserie an Bankdirektoren und der Eröffnung einer „Scheinbank” die Sicherheitsvorkehrungen weitaus sorgfältiger getroffen worden wären als bei türkischstämmigen Dönerbuden-Betreibern.
Ein anderes Beispiel: Die Witwen der Opfer wurden ausführlich und wiederholt befragt, in welche Machenschaften ihre getöteten Männer verwickelt waren, konnten oder wollte aber nichts gestehen. Daraufhin sei die Polizei nicht davon ausgegangen, dass dort nichts war, sondern habe vermutet, dass die Witwen nichts sagen wollten. Wie reagierte man? Es wurde eine Belohnung ausgesetzt, und dann wurden türkischstämmige Polizisten in Zivil eingesetzt. Diese klingelten bei der Witwe, stellten sich als Privatdetektive aus der Türkei vor und schlugen vor, ihnen gegenüber die nötigen Informationen zu geben, dann könne man sich die Belohnung teilen. Die Reaktion einer Witwe: Sie rief sofort die deutsche Polizei an, um zu fragen, ob sie mit türkischen Privatdetektiven sprechen sollte oder lieber nicht... Die türkischstämmigen Witwen hätten also weitaus größeres Vertrauen zur deutschen Polizei gehabt als diese umgekehrt.
Sebastian Edathy wies noch darauf hin, dass auch die Medien den Rechtsextremismus unterschätzt hätten, und erklärte, dass er auf Besserung hoffe. Genauso wichtig wären aber Projekte, die Aussteiger unterstützten, die Schülerinnen und Schüler aufklärten, Bildungsarbeit gegen Rassismus organisierten und vieles mehr. Genau hier würde die Bundesregierung aber gerade massive Kürzungen vorsehen, „Sparen” genannt, da hoffte er natürlich auf ein hilfreiches Ergebnis der Bundestagswahl.
Anne-Christin Heinrich schilderte als ehemaliges Mitglied im Landesvorstand der Jusos und jetzige Ratsfrau in Uetersen die örtlichen Aktivitäten gegen Nazis. Diese konnten den Einzug der NPD in den Rat zwar verhindert, den Nazis fehlten aber nur sehr wenige Stimmen. Sie rief dazu auf, mehr zu tun, und meinte damit nicht nur die eigene Partei.
Übrigens: Als wir aus Kiel in Uetersen ankamen, um die Veranstaltung des Bundestagsabgeordneten Ernst Dieter Rossmann zu besuchen, war der Raum fast leer, an drei großen Tischen saßen gerade mal ein halbes Dutzend BesucherInnen. Wir waren natürlich wie immer sehr rechtzeitig dort. Fünf Minuten vor dem geplanten Beginn musste der Kellner aber im Akkord Stühle schleppen, so groß war der Andrang. Das Podium wurde von Anne-Christin Heinrich hektisch um eine Meter zurück bis fast an die Wand gezogen, um nicht nur einem vierten Tisch, sondern auch rund zwanzig weiteren Stühlen Platz zu machen. Viele der anwesenden Jusos verzichteten dann freundlicherweise auf einen Stuhl, setzten sich in die Fensterbänke oder lehnten an der Wand. Auch dieser Andrang lässt doch hoffen, dass viele zwar spät, aber nicht zu spät aufgewacht sind.
Reinhard Pohl