(Gegenwind 298, Juli 2013)
Seit Anfang Juni gibt es Proteste in der Türkei. Ging es anfangs um die geplante Einebnung eines Parks, um ein neues Einkaufszentrum zu bauen, sorgte die harte Reaktion der Regierung bald für türkei-weite und dann weltweite Proteste: Viele Demonstrantinnen und Demonstranten fordern jetzt, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Denn die Regierung will nicht nur bestimmen, wo Bäume und wo Geschäfte stehen. Sie sorgt auch mit dem Verbot von Küssen in der Öffentlichkeit, dem Verbot vom Verkauf von Alkohol und dem übermächtigen Einfluss auf Zeitungen, Radio und Fernsehen dafür, dass man sie in keiner Minute mehr los wird.
In den letzten Jahren sorgte vor allem die wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei für Aufmerksamkeit. Die gemäßigt islamische AKP unter Ministerpräsident Erdogan hatte bei den Wahlen 2002 fast 11 Millionen Stimmen (34 Prozent) bekommen, durch das Mehrheitswahlrecht aber über 66 Prozent der Parlamentssitze. Bei den Wahlen 2007 wuchs die Zahl der Stimmen auf über 16 Millionen (47 Prozent), die Zahl der Parlamentssitze sank aber auf 62 Prozent. 2011 konnte Erdogan die Zahl der Stimmen nochmals steigern, und zwar auf über 21 Millionen (fast 50 Prozent), diesmal bekam er dafür 59 Prozent der Parlamentssitze.
Insbesondere das letzte Ergebnis versteht er anscheinend als Blankoscheck, Kritik als Majestätsbeleidigung: Nachdem er die alte kemalistische Elite von der Staatsspitze verdrängt, vor allem aber den Einfluss der Armee gebrochen hat, greift er immer härter durch. Die Türkei ist heute das Land in der Welt, in dem die meisten Journalisten im Gefängnis sitzen - meistens wegen Kritik an der Regierung, und aufgrund der rigiden „Anti-Terrorismus-Gesetze” oft jahrelang ohne Anklage oder Prozess.
Die Türkei ist wirtschaftlich erfolgreich, konnte die Auslandsschulden ähnlich wie China oder Russland zurückzahlen. Aber ähnlich wie in Russland und China sind viele Menschen heute besser gebildet und über das Internet weltweit vernetzt - und mit wirtschaftlichem Erfolg alleine nicht mehr zufrieden. Zudem sorgt der wirtschaftliche Erfolg auch für eine Rückwanderung gut ausgebildeter junger Türkinnen und Türken aus Europa. Außer ihrer Ausbildung bringen sie auch ihre Allgemeinbildung und ihren Lebensstil mit, für die ältere und religiöse Elite der Politiker der reine Horror.
Die Proteste, die inzwischen fast alle Provinzen der Türkei erfasst haben, sind jung, weiblich und städtisch. Die Anhängerschaft der Regierung ist älter, ländlich und in der Regel eher männlich als weiblich.
So treffen die Maßnahmen und Äußerungen von Erdogan auf ein höchst unterschiedliches Echo. Die jungen und gebildeten Protestierer sind beleidigt, wenn sie als „Säufer”, „Plünderer” und „Terroristen” beschimpft werden, oder sie wenden diese Beschimpfungen in ironische Selbstbezeichnungen. AKP-Anhänger auf dem Lande, die die Proteste nur stark zensiert und in kleinen, sehr kleinen Ausschnitten in den Medien oder in Rundfunkansprachen des Ministerpräsidenten mitverfolgen, sehen in einer harten Reaktion der Polizei die einzige Möglichkeit, die Türkei vor der von Erdogan als „ausländisch” charakterisierten Bedrohung zu retten.
Die Türkei wurde nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches zu einem Nationalstaat. Atatürk regierte als Diktator in einer „Ein-Parteien-Demokratie”, der ehemals multikulturelle Charakter des Staates wurde durch den Völkermord an den Armeniern und dem Völkermord an den Assyrern, der Vertreibung der Griechen und die gnadenlose Assimilierung von Kurden und Flüchtlingen aus dem Kaukasus und dem Balkan, die allesamt zu „Türken” gemacht wurden, beseitigt. Die Geschichte dieser Epoche wurde später teils grotesk umgeschrieben, insbesondere nach dem kemalistischen („Kemal” ist der Zivilname von Atatürk) Putsch 1980 wurde der Völkermord an den Armeniern zunächst geleugnet, später als „Notwehr” gegen eine „armenische Weltverschwörung” mit teilweise wörtlichen Zitaten von Goebbels „jüdischer Weltverschwörung” umgelogen und gerechtfertigt.
Seit einigen Jahren lässt sich die junge Bildungselite solche Bevormundung nicht mehr gefallen. Die Rolle Atatürks wird immer stärker diskutiert, Leistungen und Kritik immer mehr in ein realistisches Verhältnis gesetzt. Zum Genozid gibt es jedes Jahr stark anwachsende Gedenkveranstaltungen, viele Jugendliche mit albanischen, aserbaidschanischen, tatarischen oder tscherkessischen Wurzeln erforschen die Herkunft ihrer Vorfahren. Die Literatur über eigene armenische oder griechische Wurzeln hat in den letzten zehn Jahren einen wahren Boom erlebt. Auch wenn das im staatlich kontrollieren Fernsehen keinen Platz fand, finden biografische Bücher reißenden Absatz.
Die Schattenseite: Der einzige Nobelpreisträger der Türkei, Orhan Pamuk, beschrieb in einem seiner bedeutendsten Werke die Geschichte der Stadt Kars als Zentrum des armenischen Lebens, das 1915 endete. Anschließend erhielt er so viele Drohungen und im Gegenzug Spott von Regierung und Polizei, die offensichtlich keinen Finger zu seinem Schutz rühren wollte, dass er kurz nach Erhalt des Nobelpreises in die USA emigrieren musste. Dieser Hass machte sich auch in Teilen der türkischen Community in Deutschland bemerkbar: Zu einer Lesereise hier in Deutschland entwickelte das Bundeskriminalamt einen ausgeklügelten (und teuren) Personenschutz.
Erdogan bracht die Macht der Kemalisten in der Armee und den Einfluss der Armee, die sich nach dem Putsch von 1980 eine Veto-Stellung in der Verfassung gesichert hatte und über den „Sicherheitsrat” die Regierung kontrollierte. Damit fand er den Beifall auch der städtischen Jugend. Doch jetzt haben viele den Eindruck, er wollte sich selbst an die Stelle Atatürks setzen. Damit holte sich Erdogan gleichzeitig den Protest der Jugend, die kein „Heldengedenken” als Ersatz für eigene Gedanken mehr akzeptiert, als auch den Protest der immer noch einflussreichen Atatürk-Anhänger, die ihren Führerkult verteidigen.
Das Zurückdrängen des Einflusses der Armee, die Stärkung der Rechte des Parlaments und die eingeleiteten großen Prozesse gegen Putschgeneräle brachten die Türkei dem EU-Beitritt näher. Doch als der Beitrittsprozess durchstarten sollte, kamen in Deutschland Angela Merkel und in Frankreich Nikolas Sarkozy an die Regierung und stoppten alles mit ihrer Idee der „privilegierten Partnerschaft”, die ja eigentlich durch das Assoziierungsabkommen längst Realität war. Das führte auf türkischer Seite zur Umorientierung auf die Zusammenarbeit mit den „türkischen Staaten” Zentralasiens und den Nachbarn Georgien, Armenien, Irak und Syrien - eine „Alternative” Erdogans, die komplett scheiterte. Der letzte Versuch, im „arabischen Frühling” erst die Herrscher Assad, Mubarak und Ghadafi zu unterstützen, um sich dann als Vorbild einer „islamischen Demokratie” den Demonstranten und Aufständischen anzudienen, ist spätestens mit der brutalen Niederschlagung der Proteste rund um den Taksim-Platz ebenfalls gescheitert.
Für die Demokratie-Bewegung wäre die Fortsetzung des Beitrittsprozesses eine gute Chance, ihre Anliegen besser durchzusetzen - auch wenn die neoliberale Politik der EU eigentlich mehr für Einkaufszentren als für Bäume steht. Doch die hiesigen Regierungen reagieren genau umgekehrt: Deutschland hat am 20. Juni die Eröffnung der nächsten Verhandlungsrunde im Beitrittsprozess zunächst gestoppt und damit indirekt die Erdogan-Regierung mit ideologischer Munition versorgt. Jetzt gibt es sie deutlich, die „ausländischen Feinde”, die die Türkei schwächen wollen und sich mit den „Feinden” im Innern verbünden.
Die Demokratie-Bewegung selbst ist ohne Führung und ohne klares Ziel. Kemalistische Organisationen und die Partei CHP, die in Ankara mehr Einfluss hat als in Istanbul, will die Macht Erdogans brechen, aber zurück zur „Anbetung” des Staatsgründers Atatürk. Die große Mehrzahl der Demonstratinnen und Demonstranten will überhaupt keine Autorität kritiklos respektieren müssen, sondern will eine Regierung, die den Menschen Raum zu Leben lässt. Insbesondere die Forderung Erdogans, Frauen sollten nicht demonstrieren, sondern jede Frau sollte der Regierung drei Kinder gebären, stieß auch helle Empörung und viele öffentliche Vergleiche mit Hitler.
In Deutschland sind die meisten Einwanderer aus der Türkei eingebürgert. Viele haben durch Ausnahmeregeln eine doppelte Staatsangehörigkeit, und fast drei Millionen haben noch nur die türkische Staatsangehörigkeit. Ungefähr die Hälfte von ihnen hat Erdogan gewählt, ähnlich wie in der Türkei. (Die Türkei hat ein Wahlrecht für Staatsbürger, die im Ausland leben.)
Die Proteste in Deutschland wurden getragen ausschließlich von Erdogan-Gegner, häufig organisiert von den hier weitaus freier agierenden Organisationen von Minderheiten. Das waren Organisationen die DIDF, vor allem aber die Gemeinden der Aleviten. Sie sind in der Türkei eine über lange Zeit verfolgte Minderheit, die aus der schiitischen Richtung des Islams entstanden ist. Sie konnten sich erst als Gastarbeiter in Deutschland offen zu ihrem Glauben bekennen, erst als hier in den 1990er Jahren Organisationen entstanden waren, konnte auch in der Türkei offener agiert werden.
Hier in Deutschland wird weit einheitlicher als in der Türkei die Forderung nach einem Sturz von Erdogan vertreten. Kemalistische Organisationen, dazu gehören in den meisten Städten die „Türkische Gemeinde”, machen überall bei den Protesten mit, können aber ihre zahlreichen Mitglieder schlechter mobilisieren als die Aleviten. Die öffentlichen sichtbaren Proteste täuschen ein wenig über die „Mehrheitsmeinung” der hier lebenden Einwanderer.
Wie groß die Unterstützung für Erdogan und seinen Kurs in einen noch autoritäreren Staat ist, lässt sich aber zur Zeit nicht sagen.
Reinhard Pohl