(Gegenwind 297, Juni 2013)
Ein Problem des NSU-Prozesses in München ist, dass nur eine drei-köpfige Gruppe mit wenigen Unterstützerinnen und Unterstützern in der Anklageschrift vorkommen. Und die Unterstützung scheint so gering, dass die meisten Angeklagten noch vor dem Prozess aus der Untersuchungshaft entlassen wurden. Ein weiterer Unterstützerkreis, örtliche Unterstützer am Ort der Morde oder das Handeln der Behörden sollen nicht Thema des Prozesses sein.
Das genau ist aber das Thema dieses Sammelbandes, herausgegeben von Bodo Ramelow zum 8. Mai 2013. Das Buch beginnt mit einem Fazit zu den Verbrechen des NSU und Thesen zum „Versagen” der Behörden. Hier wird vor allem die These aufgestellt, dass die Behörden genau so organisiert sind, dass Organisationen wie der NSU entstehen und morden können. Denn die „Extremismus-Theorie”, der die Sicherheitsbehörden anhängen, ist ebenso wie das V-Leute-System mit der großzügigen Finanzierung rechter Strukturen für diese Mordserie eine große Erleichterung.
Anschließend wird Bilanz der bisherigen Aufklärung gezogen. Im Mittelpunkt stehen hier zunächst die Untersuchungsausschüsse im Bund, in Sachsen, Thüringen und Bayern. Es geht aber auch um die Aufklärung und Nicht-Aufklärung in den anderen Bundesländern, in denen Aufklärung dringend nötig wäre. Eigene Artikel beschäftigen sich mit Hessen, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Hamburg und Brandenburg. In fast allen diesen Ländern gab es Verbrechen des NSU, vermutlich gab und gibt es überall Unterstützer, auf jeden Fall gibt, meist gab es bis zu den Schredder-Aktionen Ende 2011 und Anfang 2012 auch viele Informationen über die Nazi-Szene. Doch je mehr Wissen da ist, desto geringer das Interesse an einer Aufklärung.
In Schleswig-Holstein, wo die Täter über die Jahre öfters Urlaub machten, gibt es bisher so gut wie gar keine Aufklärung und so wenig Informationen, dass der Herausgeber kein eigenes Kapitel dazu vorgesehen hat.
Auf den nächsten 50 Seiten wird der Rechtsterrorismus und die Nazi-Szene insgesamt vorgestellt. Einzelne Kapitel beschäftigen sich mit dem „Blood & Honour”-Netzwerk und der Nazi-Szene in Sachsen, aber auch mit den Geheimdiensten, die beobachteten und unterstützten. Und mit den Geheimdiensten geht es im nächsten Teil gleich weiter: Zunächst wird diskutiert, ob eine Reform sinnvoll ist. Der Autor kommt zum Ergebnis, dass es für die Existenz eines Geheimdienstes zum Schutz der Verfassung in einer Demokratie keine Rechtfertigung gibt und die Abschaffung die einzige Lösung wäre. Anschließend wird die Arbeit von Verfassungsschutz, BND und MAD in drei Kapiteln unter die Lupe genommen. Abgeschlossen wird dieser Teil mit einer Vorstellung des relativ neuen Phänomens des „Verfassungsschutzjournalismus”. Der Verfassungsschutz selbst macht „Öffentlichkeitsarbeit” in Schulen und anderen Orten, eine Ausstellung war auch schon in Kiel im Landeshaus, wo wir über die Gefahren des Islam (nicht der Nazis) aufgeklärt wurden. Und es gibt eine steigende Zahl von Wissenschaftlern, die zeitweise beim Verfassungsschutz angestellt sind, dann wieder im Hochschulsektor, wo dann „objektiv” geforscht und gelehrt werden soll.
Schließlich geht es um den Rassismus in der deutschen Gesellschaft, der die eigentliche Voraussetzung dafür war, dass der NSU entstehen, wachsen, morden und unentdeckt bleiben konnte. Denn nicht nur die Geheimdienste und Sicherheitsbehörden streuten den Verdacht, die Opfer der Mordserie selbst hätten die Mörder durch ihre „Verstrickungen” in Wer-weiß-was auf sich gezogen, wären Teil einer „undurchschaubaren” Einwandererszene, sondern es gab in der Breite der Bevölkerung auch keinerlei Bewegung dagegen. So gibt es in regelmäßigen Abständen, wenn z.B. eine junge Frau oder ein Kind entführt und vielleicht anschließend ermordet wird, große Aufregung und einen erheblichen Druck auf die Polizei und andere Behörden, möglichst rasch Täter zu präsentieren - manchmal ist dieser Druck so groß, dass die Polizei in aller Eile falsche Verdächtige beschuldigt. Im Falle der ermordeten Geschäftsleute gab es überhaupt keine Aufregung, und das liegt vermutlich daran, dass es sich um Einwanderer handelte und alle Einwohner, die sich als „normale” Einwohner empfinden, sich überhaupt nicht bedroht fühlten.
In einem eigenen Kapitel wird auch die türkische Sicht auf die NSU-Morde vorgestellt, die sich von der deutschen nur geringfügig unterschied. Die deutschen Einschätzungen, hinter den Morden stecke das organisierte Verbrechen, wurden in der türkischen Presse kritiklos widergegeben - mit der Ergänzung auf der nationalistischen Seite, es müssten ja nicht türkische, es könnten ja auch kurdische Verbrecher, möglicherweise die PKK sein. Das war besonders 2006 der Fall. Später wurde spekuliert, der türkisch-islamische YIMPAS-Konzern könnte hinter der Mordserie stecken, er hat Einwanderer in Deutschland öfter mit fingierten Anlage-Versprechen um ihre Ersparnisse gebracht.
Das letzte Kapitel beschäftigt sich aus gutem Grund mit der deutschen Presse, die den Begriff „Döner-Morde” erfand und jahrelang durchhielt, ohne dass Zeitungen erkennbar ausscherten. Auch das war nicht nur für die Ermittlungsbehörden, sondern vor allem für die Geheimdienste und die Nazi-Szene extrem beruhigend, wie gut das in Deutschland funktioniert.
Reinhard Pohl