(Gegenwind 292, Januar 2013)

Zugänge aus Serbien bzw. Mazedonien (Erst- und Folgeanträge)

Alle Jahre wieder...

Roma, die fliehen, werden diffamiert

Seit September sind die Aufnahmestellen für Flüchtlinge überrascht: Plötzlich und unerwartet kommen Tausende von Flüchtlingen aus Serbien und Mazedonien, zu über 90 Prozent sind es Roma. In Bayern wurden Zelte geordert, in Nordrhein-Westfalen in den Herbstferien Turnhallen belegt. Innenminister sprechen von „Asylmissbrauch” und finden schnell den Schuldigen: Es ist das Bundesverfassungsgericht, das das Asylbewerberleistungsgesetz für menschenrechtswidrig erklärt hat.

Seit Juli bekommen nun auch Flüchtlinge nahezu den gleichen Sozialhilfesatz wie Deutsche. Dabei gibt es aber bei Flüchtlingen die (sehr teure) Unterbringung in Großunterkünften, die Personalkosten für den Staat liegen in der Nähe eines Hotelbetriebs, der Komfort unterhalb eines Kriegsgefangenen-Lagers. Diese Kosten dürfen nicht in voller Höhe abgezogen werden, es gibt einen Mindestbetrag, der bar ausgezahlt werden muss. Diesen hat das Bundesverfassungsgericht aus Gründen der Menschenwürde mehr als verdreifacht: Bekamen Flüchtlinge bisher 40,90 Euro „Taschengeld” im Monat, müssen es 2012 134 Euro, für Verheiratete je 120 Euro sein. Bekamen Kinder bisher 20,45 Euro im Monat, müssen es jetzt je nach Alter zwischen 78 und 107 Euro sein.

Diese 120 bis 134 Euro im Monat, so suggerieren uns jetzt Presseberichte und Politiker-Interviews, seien die „Fluchtursache” für die Roma. Ein anderes Bild vermittelt das für Asylanträge zuständige „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge”: Im (internen) „Entscheider-Rundbrief” 9/2012 wird die stark steigende Zahl von Flüchtlingen aus Serbien und Mazedonien beschrieben - und in Grafiken mit den entsprechenden Zugangszahlen im September bis Dezember der Jahre 2010 und 2011 verglichen. Die Steigerungsraten sind vergleichbar, die Kurven der Grafik verlaufen parallel. Man wusste also Bescheid.

Situation in Serbien und Mazedonien

Menschenrechtsorganisationen sind regelmäßig entsetzt von den Lebensbedingungen der Roma in Südost-Europa, und zwar sowohl in den EU-Mitgliedsländern wie auch bei den Beitrittskandidaten. Bis 1989 waren Roma im Ostblock mehr schlecht als Recht integriert: Der Staat behielt den Alltags-Rassismus unter Kontrolle, die meist staatlichen Betriebe gaben Arbeit. Staatliche Wohnungsbauprogramme versorgten die Bevölkerung mit Wohnraum.

In der Privatisierungs-Phase in der ersten Hälfte der 90er Jahre waren Roma meist die ersten, die entlassen wurden. Mit dem Arbeitsplatz verloren viele auch die Wohnung, nach einem meist vergeblichen Asylverfahren in Westeuropa waren auch viele soziale Bildungen zerstört.

In der Folge kamen meistens nationalistische Parteien an die Macht. Das betrifft EU-Mitglieder wie Ungarn und Rumänien genauso wie die heutigen Beitrittskandidaten Serbien und Mazedonien, aber auch das inzwischen formell unabhängige EU-Protektorat Kosova. Für eine staatliche Gesundheitsversorgung benötigen „alle” eine Meldeadresse, und wer mit der Arbeit die Betriebswohnung verlor, lebt danach meist in einer illegal errichteten Hütte. So werden die Menschenrechtsstandards auf dem Papier erfüllt, weil die Bedingungen für alle Staatsbürger gleich sind - gleichzeitig sind wie immer die Roma die Verlierer.

Die staatliche Diskriminierung ruft überall auch bestimmte Gruppen auf den Plan, die das als Freibrief wahrnehmen, Roma angreifen, Brandstiftungen begehen, Überfälle und Vergewaltigungen - und die Polizei sieht weg.

Annäherung an die EU: Visumfreiheit

Roma aus Bulgarien und Rumänien durften schon länger visumfrei reisen. Als EU-BürgerInnen sind sie „freizügigkeitsberechtigt”, sie dürfen sich also z.B. in Deutschland niederlassen, wenn sie den Lebensunterhalt selbst sichern können. Dazu können Ersparnisse dienen, sie dürfen auch als Selbständige arbeiten. Nur die Arbeitssuche wird behindert, erhalten sie doch ohne Hochschulabschluss keine Arbeitserlaubnis. Diese Einschränkung soll erst sieben Jahre nach dem Beitritt, also am 1. Januar 2014, fallen.

Bis dahin kommen sie, bleiben und müssen keine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Eine Freizügigkeitsbescheinigung können sie beantragen, müssen dies aber nicht - und ohne Antrag und ohne Grenzkontrollen gibt es auch keine Kontrolle, wie lange sie sich hier aufhalten. Das darf normalerweise nur 90 Tage pro Halbjahr sein, dann müssen sie notfalls nachweisen, dass sie freizügigkeitsberechtigt sind, also z.B. genug Ersparnisse haben, um den Lebensunterhalt selbst zu decken. Da die Behörden nicht wissen, wann die 90 Tage vorbei sind, kann das niemand kontrollieren. Abschiebungen wären angesichts der offenen Grenzen auch sinnlos, Frankreich hat es vorgemacht.

Für Serbien und Mazedonien sind die Verhältnisse anders: Kurz vor Weihnachten 2009 trat die Visumfreiheit für Kurzaufenthalte in Kraft. Mit neuen biometrischen Pässen dürfen alle Staatsbürger, wie zuvor schon die aus Kroatien und Bosnien, ohne Visum bis zu 90 Tage im Halbjahr als Besucher einreisen. Sie müssen ausreichend Mittel für den Lebensunterhalt haben und dürfen nicht arbeiten.

Wer einwandern will, hat dafür kaum Möglichkeiten. Faktisch gibt es nur die Möglichkeit, hier zu heiraten und ein Visum zur Familienzusammenführung zu beantragen - oder einzureisen und einen Asylantrag zu stellen. Damit verlässt man aber den Status als visumfreier Besucher, bei Ablehnung eines Asylantrages wird stets die Ausreise angeordnet, wenn es kein Abschiebehindernis gibt.

Druck auf die Herkunftsländer

Nach Herstellung der Visumfreiheit stellten in der gesamten EU 17.000 Flüchtlinge aus Serbien und 7.000 Flüchtlinge aus Mazedonien einen Asylantrag. Innerhalb eines Monats werden in der EU rund 25.000 Asylanträge bearbeitet, das sind rund 300.000 im Jahr - es kam also die Zahl eines durchschnittlichen Monats dazu. Dennoch gab es sofortige Proteste bei der EU-Staaten bei den Regierungen Serbiens und Montenegros.

Bereits nach der Visumfreiheit für Bosnien hatte es eine Verdreifachung der Asylanträge gegeben, in Belgien zum Beispiel stieg die Zahl der bosnischen Asylverfahren von rund 25 im Monat auf rund 80 im Monat. Bereits aufgrund dieser Zahl protestierte die belgische Regierung in Sarajewo und sprach dort von einer „beunruhigenden und ernsten Entwicklung”.

Die EU fordert von den Regierungen der künftigen Mitgliedsstaaten, ihre Bürger „aufzuklären” und bei der Ausreise hinsichtlich ihrer Motive und der mitgeführten Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts zu kontrollieren. Das ist mehr oder weniger deutlich die Aufforderung, die eigenen BürgerInnen an der Ausreise zu hindern, was ein Verstoß gegen die Menschenrechte wäre.

Doch die Regierungen, von der Kündigung des Visumabkommens bedroht, gehorchten. Im Entwurf eines neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch Mazedoniens heißt es: „Wer eine Person zum Zwecke des Erhalts oder der Ausübung sozialer, wirtschaftlicher oder anderer Ansprüche, die im Widerspruch zum Recht der Europäischen Union, der Gesetzgebung in ihren Mitgliedsstaaten oder zum Schengen-Abkommen oder zum Völkerrecht stehen, zur Reise in ein Mitgliedsland der Europäischen Union oder des Schengen-Abkommens rekrutiert, ermuntert, die Reise organisiert, die Person beherbergt oder transportiert, wird mit Freiheitsentzug nicht unter vier Jahren bestraft.” Fahrzeuge, zum Beispiel Reisebusse, sollen beschlagnahmt werden. Seitdem haben Roma Probleme, Busfahrkarten zu bekommen, auch wenn sie von Mazedonien aus Verwandte in Serbien besuchen wollen, weil die Unternehmer Angst haben.

In Serbien werden nach einer Rückkehr, bei der die Höchstaufenthaltszeit von 90 Tagen überschritten wurde oder eine Abschiebung erfolgte, die Pässe beschlagnahmt, damit verlieren die Betroffenen ihre individuelle Reisefreiheit.

Die EU kümmert sich allerdings kaum um die Einhaltung der Menschenrechte, zumindest ist kein vergleichbarer Druck spürbar.

Asyl-Entscheidungen in Deutschland

In Deutschland wurden 2010 und 2011 rund 50.000 Asylanträge gestellt, im Jahre 2012 werden rund 70.000 Asylanträge erwartet. Dabei haben sich im laufenden Jahr die Asylanträge aus Serbien und aus Syrien ungefähr verdoppelt. Serbien hat Afghanistan als wichtigstes Herkunftsland auf Platz 1 abgelöst.

Von Januar bis Oktober 2012 entschied das Bundesamt über 5.115 Asylanträge aus Serbien. Dabei gab es keinmal Asyl, einmal einen Abschiebeschutz wegen Verfolgung („kleines Asyl”), zehnmal Abschiebeschutz aus anderen Gründen. Das sind zumeist Krankheiten, die eine Ausreise unmöglich machen oder bei denen eine Behandlung in Serbien nicht möglich ist. Etwa 6 Prozent der Asylanträge wurden abgelehnt, rund 83 % wurden als „offensichtlich unbegründet” abgelehnt, was bedeutet, dass auch eine Klage kein automatisches Recht gibt, hier zu bleiben. Rund 10 Prozent der Verfahren wurden aus anderen Gründen beendet, das passiert, wenn die Antragsteller Meldefristen versäumen. Die Zahlen für Mazedonien sehen ähnlich aus, nur zwei von 2.224 Asylverfahren endeten mit einem (vorläufigen) Bleiberecht.

Im gleichen Zeitraum gab es über 4.000 Folgeverfahren, also einen zweiten oder dritten Antrag von Personen, die bereits früher vergeblich Asyl beantragt hatten. Auch hier endeten nur 10 Verfahren mit einem (teils vorübergehenden) Bleiberecht.

Die Asylanträge werden vor allem abgelehnt, weil die Diskriminierung die gesamte Bevölkerungsgruppe betrifft und das deutsche Asylrecht nur die individuellen Gründe für eine Flucht betrachtet. Außerdem reicht nach Ansicht des „Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge” eine Diskriminierung für Flüchtlingsschutz nicht aus, weil es sich nicht um eine „intensive Verfolgung” handelt, sondern „nur” um schlechte Lebensverhältnisse. Dass gerade im Herbst Strom und Heizung abgestellt werden, häufig wegen einiger unbezahlter Rechnungen kollektiv für einen Stadtteil, ist eben keine Verfolgung im Sinne des deutschen Asylrechts, weil es sich formell nicht um eine Verfolgung, sondern um eine privatwirtschaftliche Entscheidung (eine Art „Mahnung”) handelt.

Eine diskriminierte oder verfolgte Gruppe kann nach deutschem Recht nur durch Entscheidung der Innenminister, einen Abschiebestopp zu verhängen, geschützt werden. Doch hier haben sich die Innenminister selbst eine hohe Hürde errichtet: Gültig sind nur einstimmige Beschlüsse, einzelne Innenminister können für ihr Bundesland nur vorläufige Abschiebestopps verhängen. Und alle, auch Andreas Breitner, haben Angst davor - sie fürchten, dass ein Abschiebestopp in einem Bundesland sofort neue Flüchtlinge anzieht, die diesmal vor drohender Abschiebung in anderen Bundesländern fliehen.

Abschiebestopps bis 31. März

Dennoch haben einige Bundesländer, Mitte Dezember auch Schleswig-Holstein, Abschiebestopps für den Winter erlassen. Sie gelten für „Angehörige von Minderheiten” aus Balkan-Staaten, wobei im Einzelfall zu klären ist, wie man die Zugehörigkeit zu einer Minderheit im Einzelfall feststellen will. In Schleswig-Holstein darf laut Landesverfassung das Bekenntnis zu einer Minderheit staatlich nicht überprüft werden.

Diese Abschiebestopps gelten allerdings nur in SPD-regierten Bundesländern. Christdemokratische Landesregierungen verweigern sich bisher einer humanitären Zwischenlösung.

Verschärfung des Asylrechts

Dagegen setzt die CDU-geführte Bundesregierung mal wieder auf eine Verschärfung des Asylrechts. Zunächst wurde es auf Verwaltungsebene verschärft: Während die Bearbeitung von aussichtsreichen Asylanträgen von Flüchtlingen aus Syrien und anderen Ländern ausgesetzt wurde, wies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge alle Außenstellen an, Asylanträge aus Serbien und Mazedonien beschleunigt zu bearbeiten. Auch die (formell unabhängigen) Verwaltungsgerichte werden aufgefordert, Klagen gegen die Ablehnungen beschleunigt zu bearbeiten.

Gleichzeitig will die Bundesregierung die ohnehin notwendige Überarbeitung des Asylbewerberleistungsgesetzes gegen Roma nutzen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes müssen die Sätze im Sinne der „Menschenwürde” neu festgelegt werden, und das Gericht hat eindeutig klar gemacht, dass es nur eine Menschenwürde gibt. Diese gilt gleichermaßen für Bezieher von Asylbewerberleistungen, Grundsicherung und Arbeitslosengeld II.

Erste Entwürfen liegen jetzt vor. Die Bundesregierung plant anscheinend, das „Existenzminimum” für Flüchtlinge nur noch leicht unterhalb des deutschen Existenzminimums festzulegen. Gleichzeitig soll aber am Satz von mindestens 134 Euro pro Monat Barauszahlung gerüttelt werden: Geplant ist die Einführung eines herabgesetzten Satzes für AsylantragstellerInnen, die aus „sicheren” Herkunftsländern kommen. „Sicher” sind Herkunftsländer, die von der Bundesregierung als sicher definiert werden. Dazu sollen in Zukunft, was für ein Zufall, Serbien und Mazedonien gehören. Falls diese Entwürfe Gesetz werden, ist zu hoffen, dass eine neue Klage dem Bundesverfassungsgericht den Auftrag gibt, erneut zu prüfen, was „Menschenwürde” ist und ob es statthaft ist, zwischen „Menschenwürde” und herabgesetzter „Romawürde” zu unterscheiden. Mit Sicherheit ist das nicht christliche, sondern höchstens christdemokratisch.

Was bleibt?

Die Sonntagsreden von der „Unteilbarkeit der Menschenrechte” und der „Gleichheit aller Menschen” müssen ab dem folgenden Montag in den Innenministerien dieser Republik umgesetzt werden. Das bedeutet, dass die Menschenrechte auch für Roma auch ausländischer Staatsangehörigkeit auch in Deutschland uneingeschränkt anerkannt werden, dass nicht über diverse Möglichkeiten einer Einschränkung des Asylrechts oder der Sozialleistungen für eine ungeliebte Gruppe von Flüchtlingen öffentlich und ungestraft nachgedacht wird.

Diese Menschenrechte, einmal in Deutschland durchgesetzt, müssen dann Bestandteil aller internationalen Verhandlungen sein. Solange Staaten wie Serbien oder Mazedonien solche Menschenrechte nicht lückenlos umsetzen und gewährleisten können oder wollen, darf es auch keine Ausreiseaufforderungen oder Abschiebungen geben.

Gerade eine „europäische Minderheit”, und die Roma sind die größte Minderheit Europas, sollte in den Genuss der bisher nur auf dem Papier existierenden „Unionsangehörigkeit” kommen, ohne wie bisher dazu auch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates der EU zu benötigen. Sie müssen nicht nur das Recht haben, die eigenen Menschenrechte durchzusetzen - ihnen darf auch weder das Recht verwehrt werden, Staaten zu verlassen, noch das Recht, sich in anderen Staaten niederzulassen.

Den Betroffenen Roma muss in Deutschland und in den Herkunftsländern eine Perspektive über den 31. März 2013 hinaus gegeben werden. Diese Perspektive muss als wichtigstes Element die Bildung enthalten.

Reinhard Pohl

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