(Gegenwind 291, Dezember 2012)
Petrick Gensing ist Journalist, und er beschäftigt sich schon lange mit der Nazi-Szene in Deutschland. Er arbeitet für Tagesschau, „Panorama” oder auch die „taz”.
In diesem Buch geht es ihm vor allem darum, den Zusammenhang zu beschreiben, in dem die Morde geschahen. So hält er sich nicht mit den Einzeltäter-Theorien oder der geheuchelten Überraschung vieler Politiker auf, sondern beschreibt die Nazi-Bewegung und das Netz, das sich über ganz Deutschland spannt. Er bestreitet, dass es eine „neue Qualität” gibt. Sicherlich ist diese Mordserie in mancher Hinsicht einmalig, aber weder die rechte Gewalt noch die Untätigkeit oder auch Komplizenschaft staatlicher Organe ist neu. Dazu führt er die rechte Gewalt und die staatliche Reaktion (oder das staatliche Verständnis) in der Weimarer Republik an, aber auch den Umgang mit der Nazi-Gewalt von 1949 bis heute. Auch die Wehrsportgruppe Hoffmann wurde nur wenig verfolgt, auch sie agierte in Bayern, wo auch der NSU mordete.
„Die Tat ist die Botschaft”, diese Parole führt die Rechte schon lange im Munde. Von daher ist es nicht außergewöhnlich, dass Rechte morden, ohne „Bekennerbriefe” an die Presse zu schicken. Die rund 200 Mordopfer von Nazis seit 1990 wurden in aller Regel umgebracht, zu Tode geprügelt, verbrannt, ohne dass es irgendein Bekennerschreiben gab.
Das braune Netz beschreibt der Autor vor allem, weil die beiden Täter eben von Sachsen aus zu den Orten der Morde anreisten, mordeten und wieder abreisten. Es ist nicht bekannt, dass sie sich in den Orten der Morde längerer Zeit aufgehalten haben. Es wurde also von ihnen kein Tatort ausgespäht, kein Opfer beobachtet, identifiziert. Dass die Morde spontan geschahen, ist unwahrscheinlich. Der Polizei fiel immer auf, dass sie eher in Seitenstraßen lagen, es kaum zufällige Zeugen gab, dafür in der Nähe Ausfallstraßen oder Autobahnzufahrten.
Der zweite Teil des Buches ist den Sicherheitsbehörden und den politisch Verantwortlichen gewidmet. Insbesondere die Regierungen, seien es Landesregierungen oder Bundesregierung, tun ja so, als hätten sie diese Mordserie gar nicht erahnen können. Sie geben vor, dass sie erst nach der zufälligen Aufdeckung am 4. November 2011 handeln konnten (und es angeblich taten). Sie sprechen heute gerne von der im Dezember eingerichteten zentralen Datei für rechte Gewalttäter, in Wirklichkeit scheinen sie vor allem hektisch Akten und Unterlagen vernichtet zu haben.
Der Autor stellt die Frage, ob es wirklich „Pannen im System” gab, oder ob nicht Methode dahinter steckt. Er nennt diese das „Sächsische Demokratie”. Insbesondere in Sachsen bemühten sich Landesregierung und Sicherheitsbehörden zwanzig Jahre lang darum, ein „rechtes Problem” zu leugnen. Stattdessen wurden Demonstranten, die einen geplanten rechten Aufmarsch blockieren wollten, mit Nachdruck verfolgt. Kirche und Grüne wurden vom Verfassungsschutz beobachtet, Hunderttausende von Handy-Daten rund um den Aufmarschort von Nazis ausgewertet, um herauszufinden, wer an der Gegendemonstration stattgefunden hatte. Bis heute nennt die Landesregierung von Sachsen, in deren Zuständigkeitsbereich die Täter lebten und Banken überfielen, den NSU „Thüringer Zelle”.
Allerdings belegt der Autor auch, dass es sich nicht um ein rein ostdeutsches Problem handelt. Er hält es vielmehr für ein Problem der ländlichen Regionen, die in Ostdeutschland, wo wirkliche Großstädte fehlen, eben das Übergewicht haben. Im Schlusskapitel beschreibt er deshalb die Auseinandersetzung zwischen der Nazi-Szene und der Gesellschaft als Kulturkampf. Hauptproblem ist, dass viele diesen Kampf nicht führen wollen. Lokale Zeitungen scheuen davor zurück, die Nazis klar beim Namen zu nennen. Parteien wie die CDU sehen die Nazis nicht als politische Konkurrenz, sondern nutzen deren Ideen teilweise, um eigene Kampagnen zu konstruieren („Kinder statt Inder” im Landtagswahlkampf von Nordrhein-Westfalen, Kampagne gegen den „Doppelpass” in Hessen).
Entsprechendes gilt für die Sicherheitsbehörden. Als die CD „Adolf Hitler lebt” im Jahre 2010 erschien, wurde durchaus beantragt, sie auf den Index zu setzen. Das darauf enthaltene Lied „Döner-Killer”, in dem die NSU-Morde zwei Jahre vor der offiziellen Aufdeckung besungen und beschrieben wurden, fand im Antrag keine Erwähnung, darüber hatten die Fahnder weggehört, obwohl sie die Mordserie (unter dem damals gebräuchlichen Namen „Döner-Morde” mit Sicherheit kannten).
Letztlich wundert es aus heutiger Sicht nicht, dass die Mörder sich sicher fühlten. Sie lebten ja nicht untergetaucht, sondern hatten Kontakte mit Nachbarn, machten auf Fehmarn Urlaub und veränderten in den 14 Jahren ihrer Zusammenarbeit nicht einmal ihr Aussehen, wechselten nie die Mordwaffe. Wenn man dieses Buch liest, weiß man warum.
Reinhard Pohl