(Gegenwind 288, September 2012)
Wanja hatte den längsten Reiseweg. Er war mehr als 20 Stunden unterwegs - mit dem Flugzeug von Nowosibirsk nach Moskau, mit einem zweiten Flieger von Moskau nach Berlin, von hier aus mit dem Bus nach Lübeck, wo der Student erwartet wurde, um mit anderen jungen Leuten aus verschiedenen Staaten zum internationalen Jugendsommerlager in der Gedenkstätte Ahrensbök zu fahren.
Aziz hatte die kürzeste Anreise. Er kommt aus Lübeck, was nur die halbe Wahrheit ist. Das Geburtsland des 18-jährigen Schülers ist Afghanistan, von wo er vor fast zwei Jahren flüchtete, weil die Organisation, der er angehörte, von den Taliban verfolgt worden sei. „Lifeline”, ein Verein im Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, der unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen beisteht, habe ihn ins Sommerlager vermittelt.
Wieder war „die Welt zu Gast in Ahrensbök”, sagt Roman Röpstorff. Der Diakon leitete für die Kirchengemeinden Ahrensbök, Curau und Gnissau und für den Trägerverein Gedenkstätte Ahrensbök/Gruppe 33 e. V. gemeinsam mit dem Geographie- Studenten Jonas Buddeberg und der Politik-Studentin Marlene Gallner, die die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) vertreten, das 13. internationale Jugendsommerlager in Ostholstein. Aus sieben Ländern - Afghanistan, Belarus, Deutschland, Frankreich, Holland, Russland, der Ukraine - waren 13 junge Leute im Alter von 16 bis 23 Jahren gekommen, um zwei Woche lang in diesem Sommer beim Aufbau der Gedenkstätte Ahrensbök zu helfen und sie mit fröhlichem Leben zu erfüllen.
Pauline, Marieke und Ina, drei Schülerinnen aus Göttingen und Berlin, erfassten mehr als 500 Sachbücher in zwölf Kategorien, nummerierten sie, notierten Titel und Verfasser auf Karteikarten,, um später die Informationen zu digitalisieren. Ihnen machte die Arbeit so viel Spaß, dass sie stets bedauerten , wenn die tägliche Arbeitszeit von vier Stunden zu Ende ging. Unter den vielen Büchern der Gedenkstätten-Bibliothek hatten sie das Totenbuch von Neuengamme entdeckt und es in eine Glasvitrine gestellt, „weil es etwas Besonderes ist”, wie die drei Mädchen glaubten. Arbeit mit Büchern mache Spaß, sagten sie und liehen gerne mal ein Buch zur Lektüre aus, Siegmund Freuds „Warum Krieg?” beispielsweise.
Im Dachgeschoss der Gedenkstätte hatten sich bei lauter und fröhlicher Musik Judith aus den Niederlanden, Simon aus Frankreich, Laura aus Sachsen und Aziz aus Afghanistan ein großes Projekt vorgenommen. Sie strichen und malten und klopften und putzten einen Raum, der historisch bedeutend ist. Hier wurden 1933/34 die Ahrensböker Realschule zwangseinquartiert, nur einen Tag, nachdem die Nationalsozialisten das frühe KZ geräumt hatten. Der Raum soll in Zukunft außerschulischer Lernort für Schülerinnen und Schülern von heute werden.
Im Archivraum nebenan ordneten Olga und Nastya - die eine aus Belarus, die andere aus der Ukraine - das Fotoarchiv. Sie erfassten die Bilddokumente digital, während am Arbeitstisch gegenüber Max aus Münster und Wanja aus Sibirien das Pressearchiv bearbeiteten. Max ist zum zweiten Mal in Ahrensbök, weil ihn die Regionalgeschichte besonders interessiere. „Hier, damals im Freistaat Oldenburg”, erklärte er. „haben die Nazis die ersten Wahlsiege errungen”. Wanjas Erwartungen an das Sommerlager aber wurden übertroffen, wie er sagte. Er schwärmte von dem „intensiven Programm” und nannte als Beispiele den Auftritt der Zeitzeugin Marianne Wilke, den Besuch der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und der Synagoge in Bad Segeberg. Aber, erklärte er lachend, er mochte auch die „Unterhaltung”, das Paddeln auf der Wakenitz an einem schönen Sommertag oder das nächtliche Lagerfeuer.
„Spaß gehört dazu”, betont AFS-Teamer Jonas Buddeberg. Für ihn sind nicht nur handwerkliche Hilfe für die Gedenkstätte sowie Gedenk- und Erinnerungsarbeit Schwerpunkte eines Sommerlagers. „Alle sollen sich wohl fühlen”, sagt er und deshalb thematisiere man nicht nur Völkermord, Zwangsarbeit und Verdrängung der Vergangenheit; auch Badeausflüge oder Eisessen gehörten dazu. Seiner Kollegin von der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Marlene Gallner, war es außerdem wichtig, die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart hervor zu heben. Sie hatte einen Referenten eingeladen, der über Neonazis, über antifaschistische Arbeit und über den Skandal berichtet, dass zehn Neonazimorde jahrelang in Deutschland unentdeckt möglich waren.
Roman Röpstorff, der Diakon aus Curau, leitete in diesem Sommer zusammen mit ASF-Teamern zum dritten Mal ein internationales Jugendsommerlager. Er ist immer wieder beeindruckt, „mit welch tiefem echten Interesse junge Menschen Geschichte verstehen wollen”. In diesem Jahr ist ihm aufgefallen, dass Teilnehmende wiederholt nachgefragt hätten, warum sich bis heute Menschen gegen das Gedenken sperren, warum viele noch immer schweigen. Fragen wie diese nähmen die jungen Leute mit nach Hause, denn internationale Jugendsommerlager, so Röpstorff, würden die Region weit ihre Grenzen hinaus repräsentieren.
Trägerverein Gedenkstätte Ahrensbök / Gruppe 33 e. V.
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