(Gegenwind 288, September 2012)
Seit 1955 ist Deutschland ein Einwanderungsland. Kamen zuerst vor allem „Gastarbeiter”, sind es jetzt Flüchtlinge, ausländische StudentInnen, nachziehende Familienangehörige, BürgerInnen der EU und viele mehr, die jedes Jahr kommen.
Wer neu kommt, muss sich mit einer Vielzahl von Gesetzen, Regelungen und Behörden vertraut machen. Man muss sich anmelden, meistens dann einen Aufenthaltstitel beantragen. Man muss eine Wohnung mieten, sich gegen Krankheit und anderes versichern, Kinder zur Schule oder den Kindergarten anmelden. Man muss eventuell öffentliche Unterstützung beantragen, Beratungsstellen aufsuchen. Wenn man krank wird oder sich bei einem Unfall verletzt, muss man eine Ärztin oder Arzt aufsuchen oder ins Krankenhaus.
Die meisten Menschen, die neu nach Deutschland kommen, müssen die Sprache erst lernen. Doch auch die, die schon einen Kurs hinter sich haben, sind nicht perfekt. Man kann auf dem Markt oder im Geschäft einkaufen, aber man kann einem Arzt nicht die Vorgeschichte einer chronischen Krankheit erzählen, man kann auch nicht auf Anhieb den Unterschied zwischen Regionalschule und Gemeinschaftsschule verstehen.
Andere Länder lösen das Problem der Verständigung mit Hilfe von Dolmetscherinnen und Dolmetschern. Schon bei der Anmeldung im Rathaus stehen DolmetscherInnen zur Verfügung, entweder persönlich oder per Telefon.
In Deutschland ist unbestritten, dass Beschuldigte bei der Polizei und Angeklagte vor Gericht DolmetscherInnen gestellt bekommen. Das ist ein Menschenrecht: Wer beschuldigt oder angeklagt wird, muss die Vorwürfe verstehen und zumindest die Möglichkeit haben, sich dazu zu äußern.
In anderen Fällen werden DolmetscherInnen nur gerufen, wenn es „brennt”: Wenn die Probleme der Kinder in der Schule, einer Krankheit so schwerwiegend und unübersehbar werden, dass eine Verständigung zwingend nötig ist, gehen Behörden oder andere Einrichtungen diesen Schritt.
Zuvor werden die Betroffenen aufgefordert, „Bekannte” mitzubringen, also Freiwillige, die sprachmitteln.
In Deutschland sind besonders oft Kinder die Sprachmittler. Viele Einwanderer haben zu wenig Geld, um „richtige” DolmetscherInnen zu rufen, und die eigenen Kinder lernen die Sprache schneller. Dennoch bleibt häufig im Dunklen, was die Kinder verstehen und was sie vermitteln können. Es gibt wenige Untersuchungen dazu, und die zeigen ein verheerendes Bild. In aller Regel kommen Themen zur Sprache, mit denen Kinder nichts zu tun haben, die sie gar nicht vollständig verstehen können. Sie können „nur” die beiden Sprachen.
Mitgebrachte Bekannte, insbesondere Verwandte sind häufig schlechte Sprachmittler. Denn in der Regel verstehen sie ihre Rolle nicht als neutrale DolmetscherIn, sondern als UnterstützerIn. Sie geben nicht das Gesagte wider, sondern sortieren, verstärken, schwächen ab, suchen aus, ergänzen... Gerade beim Interpretieren und Erklären können sich jederzeit unerkannt Fehler einschleichen, man glaubt an eine erfolgreiche Verständigung, doch es ist etwas Falsches „angekommen”.
Dolmetscherinnen und Dolmetscher arbeiten in Deutschland in der Regel als FreiberuflerIn (als Inhaber eines Büros auch als Gewerbetreibende). Oft sind sie nicht auf bestimmte Gebiete spezialisiert, sondern sie nehmen Aufträge an und bereiten sich darauf vor.
In der gewerblichen Wirtschaft haben sich Preise von 60 bis 80 Euro pro Stunde etabliert. Gefordert werden häufig Spezialkenntnisse, bezogen auf die Themen der jeweiligen Firma, zusätzlich in der Regel juristische Kenntnisse (Vertragsverhandlungen).
Gerichte und Polizei rechnen nach dem „Justizvergütungsgesetz (JVEG)” ab. Dieses sieht einen Stundensatz von 55 Euro vor, zusätzlich Fahrtkosten. Dabei besteht die bezahlte Arbeitszeit aus Wegezeit, Wartezeit und Dolmetschzeit. Übersetzungen werden nach Normzeilen (55 Zeichen) abgerechnet und mit mindestens 1,25 Euro vergütet. Das JVEG gilt nach dem Landesverwaltungsgesetz auch für alle Behörden in Schleswig-Holstein (Land und Kommunen), das schließt auch die staatlichen (auch kommunalen) Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten ein.
Freiberufliche DolmetscherInnen müssen die gesamten Kosten ihrer Krankenversicherung, Altersvorsorge etc. alleine tragen, der „Arbeitgeberanteil” muss in das Honorar mit eingerechnet werden, genauso wie die Vorbereitungszeit. Mit weniger als 35 Euro pro Stunde können sie nicht vernünftig arbeiten.
Um richtig dolmetschen zu können, braucht man nicht nur gute Kenntnisse beider Sprachen, sondern sollte auch den kulturellen Hintergrund kennen. Beim Erklären des Schulsystems ist es wichtig, das Schulsystem der ehemaligen Heimat der Klientin zu kennen. Außerdem muss man sich vorbereiten, und man braucht Erfahrung. Diese sammelt man am besten, indem man regelmäßig auf diesem Gebiet tätig ist.
Für die Behörden, Schulen, Krankenhäuser bedeutet dies: Eine gute Dolmetscherin oder Dolmetscher bekommt man, indem man die DolmetscherInnen gut bezahlt und so regelmäßig beauftragt, dass sich für die DolmetscherInnen auch die gründliche Vorbereitung oder der Besuch von Fortbildungsveranstaltungen lohnt. Wer DolmetscherInnen schlechter bezahlt, sollte als Ausgleich Fortbildungsveranstaltungen für diese kostenfrei organisieren.
Einmal im Jahr bieten Sekundarschulen Informationsveranstaltungen für Eltern von Grundschulkindern an. In Schleswig-Holstein sind dies in der Regel Regionalschulen, Gemeinschaftsschulen und Gymnasien. Sie informieren die Eltern von Grundschul-Kindern, die die 4. Klasse besuchen, meistens im Januar, Februar oder März. Die Eltern können ihre Kinder dann im April, spätestens im Mai in einer weiterführenden Schule anmelden.
Diese Informationsveranstaltungen finden in der Regel nur auf Deutsch statt. Sie wenden sich nur an Eltern, die ausreichend Deutsch können. Wenn sich Eltern ausländischer Herkunft nicht sicher genug fühlen, bleiben sie meistens weg. Manchmal bringen sie auch Bekannte zum „Flüster-Dolmetschen” mit. Für die LehrerInnen und SchulleiterInnen bleibt hier aber völlig unklar, ob und wie ihre Informationen weitergegeben werden.
In Schleswig-Holstein leben rund 140.000 AusländerInnen mit 172 verschiedenen Staatsangehörigkeiten (Statistisches Landesamt). Die häufigsten Muttersprachen sind: Türkisch, Kurdisch (Kurmanci & Sorani), Polnisch, Dänisch, Russisch, Italienisch, Griechisch, Englisch, Arabisch, Persisch (Farsi & Dari), Serbokroatisch, Albanisch, Rumänisch, Bulgarisch, Romanes
Eltern dieser Muttersprachen sollten genauso sorgfältig informiert werden wie alle anderen Eltern auch. Da der Aufbau eines kommunalen Dolmetsch-Dienstes Zeit braucht, bietet es sich an, mit der Information der Eltern zu beginnen. Dies lohnt sich auch finanziell: Wenn Eltern frühzeitig über das Schulsystem informiert sind, können sie ihre Kinder zur passenden Schule anmelden und sie bis zum Abschluss begleiten. Das ist weitaus billiger als die bisher üblichen nachträglichen Reparaturen (falsche Schulwahl, fehlende Kenntnis zum gegliederten Schulsystem, Jugendliche ohne Abschluss).
Da solche Informationsveranstaltungen nicht von der einzelnen Schule organisiert werden können, sollten sie vom Schulamt für den Einzugsbereich mehrerer Schulen gemeinsam organisiert werden. Das könnte in Flensburg eventuell in einer Veranstaltung organisiert werden, in Kiel vielleicht in einer Veranstaltung auf dem Westufer und einer auf dem Ostufer. In Lübeck werden zwei bis drei Veranstaltungen nötig sein. In größeren Kreisen sind vermutlich sechs oder acht Veranstaltungen erforderlich.
Die DolmetscherInnen müssen vorher informiert werden. Die Veranstaltung sollte gemeinsam vom Schulamt und dem Dolmetscher-Treffen organisiert werden, das Schulamt müsste eine/n geeignete/n ReferentIn stellen. Vermutlich wären acht Veranstaltungen in ganz Schleswig-Holstein ausreichend. Den TeilnehmerInnen müsste vorher zugesagt werden, dass die Informationsveranstaltungen organisiert und die DolmetscherInnen dort normal bezahlt werden.
Für die Veranstaltungen selbst werden die benötigten DolmetscherInnen (Sprachen können ggf. bei den Grundschulen abgefragt werden) rechtzeitig vorher bestellt, für jede Sprache gibt es einen Tisch. Die Eltern, die die Informationsveranstaltung besuchen, setzen sich an den Tisch zu „ihrer” DolmetscherIn, alle DolmetscherInnen dolmetschen gleichzeitig und konsekutiv. Fragen werden von den DolmetscherInnen notiert, laut gestellt und an allen anderen Tischen gedolmetscht, genauso wie die Antworten. Im Anschluss sollte eine Stunde vorgesehen werden, in der Eltern die anwesenden VertreterInnen der Schulen individuell ansprechen können.
Später sollten die jetzt geschulten DolmetscherInnen auch zu Elterngesprächen und Elternversammlungen zugezogen und normal bezahlt werden. „Verständigung von Anfang an” bedeutet, dass man Probleme erst gar nicht entstehen lässt, also nicht wartet, bis eine Verständigung „nötig” erscheint.
Es ist sicherlich möglich, den Start eines Dolmetsch-Dienstes durch einen Projektantrag (z.B. über eine Stiftung) zu finanzieren:
Schulung der DolmetscherInnen, eine örtliche Veranstaltung | 200 Euro |
3 Infoveranstaltungen mit jeweils 10 DolmetscherInnen in drei Jahren | 3000 Euro |
Honorarfonds für Elterngespräche und Elternversammlungen | nach Bedarf |
Wichtig ist aber, die Verständigung zur Regel zu machen, also ausreichend Mittel an dieser Stelle (statt bei nachträglichen Reparaturen) vorzusehen. Das Projekt darf nur eine Starthilfe sein, vor allem müssen die DolmetscherInnen sicher sein, dass sie nach Ende des Projektes ausreichend bezahlt werden, um ihre Existenz darauf zu gründen. Das Problem ist sicherlich, dass eine Zeitlang diese nachträglichen Reparaturen von Versäumnissen der Vergangenheit parallel zur Verständigung von Anfang an finanziert werden müssen. Die Einsparungen sind zwar auf Dauer höher als die Kosten, entstehen aber an anderer Stelle: Beim System der Nachqualifizierungen, Beratung und Betreuung bis hin zu Polizei und Justiz sowie den Transferzahlungen.
Die Einsparungen bei den „Reparaturkosten” sind dabei kaum zuzuordnen. Die „Verständigung von Anfang an” hat insofern einen ähnlichen Stellenwert wie die „Sprachförderung von Anfang an” (in Schleswig-Holstein: SPRINT). Auch diese Sprachförderung wird finanziert, weil es vernünftig ist, ohne die Einsparungen zehn Jahre später exakt beziffern zu können.
Sobald die Information aller Eltern für den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule sicher gestellt ist, sollten Land und Kommunen daran gehen, diese Information von Anfang an auf alle anderen Bereich auszudehnen.
Behörden und Verwaltung: Hier sollte ein kommunaler Dolmetsch-Dienst zur Verfügung stehen. Die Bezahlung erfolgt von den Behörden.
Gesundheitswesen: Auch hier sollte der kommunale Dolmetsch-Dienst beauftragt werden. Die Bezahlung erfolgt nach JVEG durch die Krankenkassen.
Das Dolmetscher-Treffen stellt DolmetscherInnen mit ihren eigenen Angaben in einer Datenbank ins Internet. Behörden, Schulen und Krankenhäuser erhalten das Passwort und können DolmetscherInnen direkt auswählen und beauftragen. Einzelanfragen erfolgen per Mail (Formular auf der Startseite des Dolmetscher-Treffens) und werden an die DolmetscherInnen weiter geleitet.
Reinhard Pohl
reinhard.pohl@dgegenwind.info