(Gegenwind 286, Juli 2012)
Alle Mitglieder des NSU hatten eine Ost-Biografie: Geboren und aufgewachsen in der DDR, zu Nazis geworden im „Beitrittsgebiet”, wo es die „akzeptierende Jugendarbeit” für Nazis gab und wo Flüchtlinge bei Angriffen „evakuiert” und nicht geschützt wurden.
Ist die NSU deshalb ein Ost-Produkt?
Die Autoren dieses Sammelbandes kümmern sich zunächst um das braune Netz, dass den NSU hervorgebracht hat. Hier gab es zunächst die DDR, die das Problem leugnete. Da der Faschismus allein schon durch den Gründungsakt des Arbeiter- und Bauernstaates definitionsgemäß tot war, wurden entsprechende Aktivitäten von Skinhead-Gruppen Ende der 80er Jahre als „Rowdytum”, also als altersbedingte jugendliche Gewaltdelikte behandelt. Die nach dem Beitritt der ostdeutschen Bundesländer gegründeten Landesämter für Verfassungsschutz sahen ihre Aufgabe darin, die Westverfassung gegen die Ostpartei PDS zu schützen. So entstanden Hochburgen der Nazis in Sachsen und Thüringen, auch durch entsprechende Initiativen von West-Nazis, die wachsen konnten, weil die lokale Politik vor allem der CDU die Existenz eines Problems leugnete. Nicht nur das, Aktivitäten von AntifaschistInnen wurden gezielt kriminalisiert und behindert.
Die Autoren erwähnen entsprechende „Kleinigkeiten”, dass zum Beispiel Hausprojekte von Nazi-Gruppen aus Staatsmitteln gefördert wurden (Renovierung durch Mittel für Dorferneuerung und so weiter) und auch aus Anlass des Papst-Besuches BKA-Beamten in einen solchen „Bildungshaus” untergebracht wurden.
In weiteren Beiträgen geht es um den Verfassungsschutz und speziell den von Thüringen. Hier wurden Nazi-Gruppen lange Zeit gefördert, indem V-Leute großzügig bezahlt wurden, ohne dass das Amt dadurch Erkenntnisse für den Verfassungsschutz-Bericht bekam. Die Sorge galt vielmehr linken Gruppen, in Verfassungsschutzberichten wurde Bündnis 90 / Die Grünen, die DGB-Jugend, die Evangelische Jugend und andere Extremisten als Gefahr für die Verfassung aufgeführt. In diesem Klima wurde auch der „Experte” Eckhard Jesse groß, der zwar keine von der extremen Rechten ausgehenden Gefahr trotz mehr als 180 Toten erkannte oder erkennen wollte, trotzdem oder gerade deshalb bei CDU und CSU so beliebt ist.
Die weiteren Beiträge befassen sich mit dem „Wegschauen” der Gesellschaft, der teils aktiven Behinderung antifaschistischer Aktionen, so durch CDU und FDP Thüringen, und dann mit der parlamentarischen Aufarbeitung der NSU-Morde. Hier hätten manche Landesregierungen lieber eine „Expertenkommission” eingesetzt, über deren Zugang zu Informationen und Veröffentlichungen sie anschließend selbst entscheiden wollten. Stattdessen konnten inzwischen in Thüringen und Sachsen Untersuchungsausschüsse durchgesetzt wurden, die allerdings mit zwei Problemen kämpfen: Die Landesregierungen wollen kaum Informationen bereit stellen, während die Bundesebene gleich 20.000 Ordner mit Material lieferte nach dem Motto, sucht Euch selbst raus, was relevant ist... Das eine wie das andere hilft nicht wirklich, die Ereignisse aufzuklären, und das ist wohl auch der Zweck der Übung.
Petra Pau, die dem Untersuchungsausschuss des Bundestages angehört, weist auf noch ein Problem hin: Weder zu den Morden noch zur Aufdeckung der NSU-Strukturen gab es ein großes öffentliches Echo. Während es bei entsprechenden Morden in Mölln oder Solingen Demonstrationen, Lichterketten und viele Initiativen zur öffentlichen Aufarbeitung gab, fehlt das für die Opfer und die inzwischen Bekannten Täter dieser Mordserie fast völlig. Auch bei einer Veranstaltung in Elmshorn, die ich am 20. April leiten durfte, fiel das auf: Es kamen fast nur BesucherInnen aus Elmshorn und Umgebung, 8und auch dort wurde auf eine große Diskrepanz hingewiesen. Während unlängst beim Mord an einem Mädchen in Emden die Emotionen hoch gingen, vielleicht zu hoch, und erheblicher Druck auf die Polizei ausgeübt wurde, einen Täter zu präsentieren, fehlte dieser öffentliche Druck nach dem Mord des (inzwischen wissen wir es) NSU in Hamburg komplett. Die Familienangehörigen wurden von der Polizei verdächtigt und von der Öffentlichkeit, auch der türkisch-stämmigen, im Stich gelassen. „Kein Land im Schock” nennt Petra Pau diese Beobachtung.
Reinhard Pohl
Made in Thüringen? Nazi-Terror und Verfassungsschutz-Skandal. Herausgegeben von Bodo Ramelow. VSA-Verlag, Hamburg 2012, 222 Seiten, 12,80 Euro