(Gegenwind 286, Juli 2012)
„Nahaufnahme” nennt der Verlag das Buch, und das ist es. Die beiden Autoren stellen mit Unterstützung der „Panorama”-Redaktion die drei Mitglieder des NSU Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe vor. Sie beschreiben den Werdegang der drei von der Kindheit an bis zum Tod bzw. der Verhaftung im November 2011, zumindest soweit es bekannt ist.
Beate Zschäpe stammt aus der Affäre einer DDR-Studentin in Rumänien mit einem rumänischen Studenten. Die DDR-Regierung sah solche unehelichen Kinder ihrer Auslandsstudentinnen nicht gerne, so heiratete Beates Mutter später in der DDR, gab dann aber ihr Kind bei der Mutter (Beates Großmutter) ab, verließ ihren Mann und kehrte zu ihrem rumänischen Freund zurück. Beate wuchs bei der Großmutter in Jena auf. Mit 14 Jahren schloss sie sich einer linken Jugendgruppe namens „Die Zecken” an.
Uwe Mundlos trifft sie im Jugendclub „Winzerclub”. Nach der Wiedervereinigung werden ausländerfeindliche Jugendgruppen zur beherrschenden „Jugendkultur” in Jena und anderswo, und die Stadtverwaltung entschließt sich zum Konzept der „akzeptierenden Jugendarbeit”. Uwe Mundlos ist schon zu DDR-Zeiten Skinhead und provoziert die Lehrer durch Hakenkreuz-Schmierereien. Sein Vater ist Informatik-Dozent an der Universität Jena. In dieser Zeit mobilisiert die CDU bundesweit ihre Fraktionen in Kommunalparlamenten gegen das Asylrecht und die zunehmenden Zahlen von Asylbewerbern. Während die Fraktionen kritische Fragen nach den Kosten stellen, greifen jugendliche Nazis Asylbewerberunterkünfte an. Die Behörden reagieren darauf oft, indem sie die Flüchtlinge evakuieren, mehr und mehr Großunterkünfte außerhalb von Ortschaften („Dschungelheime”) einrichten. Die Nazi-Gruppen erleben es als Erfolg. Uwe Mundlos bricht die Schule ab und engagiert sich völlig in Nazi-Gruppen rund um den „Winzerclub”.
Uwe Mundlos (20) und Beate Zschäpe (18) werden ein Paar, Beate Zschäpe wird jetzt auch „rechts”. Ende 1992 stößt Uwe Böhnhardt (16) als Freund von Uwe Mundlos dazu. Uwe Böhnhardt ist Sohn eines Ingenieurs und einer Lehrerin, aber mit 16 Jahren schon eine Art Intensivtäter mit langem Vorstrafenregister. Die Delikten bestehen im Wesentlichen aus Körperverletzung, Diebstahl, Einbruch und Fahren ohne Führerschein.
Die drei versuchen danach einerseits, einen Schulabschluss bzw. eine Ausbildung zu machen, andererseits schließen sie sich der 1994 von Ralf Wohlleben (heute NPD-Funktionär) gegründeten „Nationalem Widerstand Jena” an. Innerhalb der Dreier-Gruppe ist Uwe Mundlos der Ideologe, Uwe Böhnhardt der Schläger, Beate Zschäpe hält die Gruppe zusammen. Als Uwe Mundlos zur Bundeswehr einberufen wird, fängt seine Freundin Beate eine Affäre mit Uwe Böhnhardt an. Uwe Mundlos erfährt davon, nach anfänglicher Wut akzeptiert er es später, nach der Bundeswehrzeit 1995 werden die drei wieder oft zusammen gesehen. Sie schließen sich der Anti-Antifa und später dem „Thüringer Heimatschutz” an, da sind sie 18, 20 und 22 Jahre alt. Böhnhardt macht jetzt eine Ausbildung als Maurer, Zschäpe beendet ihre Lehre als Gärtnerin, und Mundlos macht das Abitur nach, weil er studieren will.
Innerhalb des „Thüringer Heimatschutzes” treten sie für eine Radikalisierung ein, sprechen sich für die Bewaffnung aus. Angeblich ist es Uwe Böhnhardt, der 1994 eine Bombenattrappe in ein Hochhaus in Jena lebt, in das Ausländer einziehen sollen. Mehrere ähnliche Aktionen folgen, gleichzeitig treten die drei auch immer wieder bei Nazi-Aufmärschen öffentlich auf, werden dort auch oft fotografiert. Anfang 1996 bekamen sie auch Besuch von Karl-Heinz Hoffmann, Chef der Wehrsportgruppe Hoffmann, der nach seiner Haftentlassung von Bayern nach Thüringen umgezogen ist. Heute weiß man, dass Tino Brandt, der Gründer und Chef des „Thüringer Heimatschutzes”, Informant des Verfassungsschutzes war - dort waren die Aktivitäten der Gruppe und des Trios zumindest in groben Zügen bekannt. Für seine Dienste bekommt Tino Brandt von 1994 bis 2001 ungefähr 200.000 DM (100.000 Euro) von der Thüringer Landesregierung.
1996 oder 1997 beginnt das Trio, Sprengstoff zu horten und Bomben zu bauen. 1998 findet die Polizei eine Bombenwerkstatt, das Trio taucht unter. Mehrfach hat die Polizei allerdings Gelegenheit zur Festnahme, nutzt diese aber nicht. Auch der Verfassungsschutz hat Informationen, gibt diese allerdings nicht weiter. Die Polizei hört Siegfried Mundlos' Telefon ab, der Verfassungsschutz bittet den Vater von Uwe um Tipps zum Aufenthalt des Sohnes und warnt ihn ausdrücklich vor der Telefonüberwachung. Die Autoren zählen ihn ihrem Buch noch etliche andere „Ungereimtheiten” auf, allerdings ohne große Theorien dazu zu entwickeln. Sie sehen ihre Hauptaufgabe darin, die Leserinnen und Leser zu informieren und ihre Rechercheergebnisse zu veröffentlichen.
Nach 100 Seiten zur Entwicklung der drei von radikalen Jugendlichen zu untergetauchten Bombenbastlern folgen 150 Seiten, auf denen akribisch das Leben im Untergrund sowie die Banküberfälle (ab Ende 1998 nur in Ostdeutschland) sowie die Morden und Bombenanschläge (ab 2000 bis auf eine Ausnahme nur in Westdeutschland) beschrieben werden. Die Autoren deuten an, dass es möglicherweise Strategie war, Banküberfälle und Morde nach Bundesländern zu trennen, weil die drei Täter gewusst haben, dass die Länderpolizeien, besonders aber die Verfassungsschutzämter nicht zusammen arbeiten.
Aber die Nazis arbeiten zusammen. Die ersten Überfälle auf Edeka und die Post erbringen kaum Beute, aber im November 1999 erbeuten sie bei einem Überfall über 60.000 DM (über 30.000 Euro). Kurz danach wird bei Nazi-Veranstaltungen die Spendensammlung für die drei eingestellt, man weiß Bescheid. Von der Beute kaufen sich die drei eine tschechische Ceska-Pistole, die für sie 2500 DM kostet. Mit dieser Pistole verüben sie die Morde.
Detailliert schildern die Autoren alle Morde, die beiden Bombenanschläge und auch die Banküberfälle. Bei mehreren Banküberfällen und auch beim Bombenanschlag in Köln (Juni 2004) werden die Täter Böhnhardt und Mundlos von Überwachungskameras aufgenommen. Bei den Morden und Banküberfällen benutzen sie Fahrräder für die Flucht und haben in der Nähe ein Wohnmobil stehen, in dem sie bleiben, bis die Ringfahndung der Polizei beendet wird. Die Bilder, Filme und Zeugenaussagen bleiben allerdings in allen Fällen bei den Landespolizeien. Das bayerische LKA weigert sich sogar, die Informationen über die vier in Bayern verübten Morde an das BKA weiter zu geben. Das BKA seinerseits will die Ermittlungen nicht übernehmen. Das wird zwar Anfang 2006 diskutiert, angesichts der Fußball-WM dann abgelehnt, weil es die Mordserie „hochstufen” würde, was für das Image Deutschlands schlecht wäre. Stattdessen wird vor der Gefahr islamistischer Anschläge auf Fußballfans gewarnt.
Die Autoren stellen auch die Presseberichterstattung vor. Drei der Morde geschahen in Nürnberg, weshalb die dortige Polizei und das LKA davon ausgingen, die Täter müssten dort auch wohnen. Die „Nürnberger Zeitung” veröffentlich 2005 eine Notiz zu den Polizei-Ermittlungen nach der Ermordung eines Döner-Verkäufers. Die vom Redakteur gewählte Überschrift „Der Mord an dem Döner-Verkäufer” ist zu lang, die Schluss-Redaktions macht darauf „Döner-Mord”. Das wird von anderen Zeitungen übernommen, obwohl nur zwei Opfer in Nürnberg und Rostock in einem Imbiss arbeiten. Die anderen Opfer sind Blumenhändler, Gemüsehändler, Änderungsschneider und Inhaber eines Schlüsseldienstes. 2006 benutzt die Aagentur „dpa” den Begriff „Döner-Mörder”, er taucht dann in der FAZ, NZZ und so weiter auf uns setzt sich schließlich durch.
So aber wird ein unheimlicher Dreiklang draus: Die bayerische Polizei bildet die „Soko Bosporus”, die Nürnberger Zeitung nennt es „Dönermorde”, die Täter selbst sprechen auf ihrer DVD von der „Aktion Dönerspieß”. Dazu kommt: Die Angehörigen der Opfer können der Polizei (natürlich, wie man heute weiß) absolut nichts sagen. Sie kennen keine Feinde ihrer Väter, Brüder oder Ehemänner. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung nennt das der Soko-Chef „Mauer des Schweigens”, und der „Focus” schreibt: „Die schwer durchdringbare Parallelwelt der Türken schützt die Killer”. Rudi Cerne, der Moderator der Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst” bittet die ZDF-Zuschauer um Hinweise: „Haben sich die Opfer selbst in kriminelle Geschäfte verwickelt?”
Warum die Täter 2007 die Polizistin Michele Kiesewetter ermorden, wissen die Autoren auch nicht. Sie schließen sich der Vermutung des LKA Baden-Württemberg an, das annimmt, es ginge darum, die „erfahrene Unterlegenheit gegenüber der Polizei” zu kompensieren, deshalb wäre für die Täter das Behalten von Handschellen und Pistole der Polizistin genauso wichtig wie der Mord selbst.
Danach hört die Mordserie auf. Die drei Nazis verbringen jetzt einige Zeit in Schleswig-Holstein, wo sie mehrmals auf Fehmarn Urlaub machen. Bei der bayerischen Polizei analysieren Gastbeamte vom FBI die Mordserie und kommen zum Ergebnis, es müssten ausländerfeindliche Motive sein, in dieser Szene sollte man suchen. Die Münchener Polizei gibt das Gutachten nicht an das LKA und die Sonderkommission Bosporus in Nürnberg weiter. 2008 kommt aber die Nürnberger Soko selbst darauf, dass die Täter in München, Nürnberg und Dortmund Fahrräder zur Flucht nutzten. Einer Zeugin aus Nürnberg werden jetzt auch die Videoaufnahmen der Überwachungskamera aus Köln (kurz vor dem Bombenanschlag) gezeigt, und sie erkennt die Täter wieder.
Wo die drei in dieser Zeit wohnen, ist noch nicht geklärt. Man kennt zwar ihre Wohnung in Zwickau, dort ist der Wasser- und Stromverbrauch aber zu niedrig für drei Personen. Man weiß nur, dass sie weiterhin Banken überfallen, zuletzt 2011 in Eisenach.
Die Autoren haben gründlich recherchiert. Angenehm ist, dass sie viele Fakten gut sortiert vorstellen, ohne allzu weitläufige Schlussfolgerungen zu ziehen, welche Landespolizei und welches Landesamt für Verfassungsschutz wie viel Verantwortung trägt. Einerseits wollen sie das den LeserInnen überlassen, andererseits müssen sie auch auf neue Informationen aus den Untersuchungsausschüssen warten.
Reinhard Pohl
Christian Fuchs, John Goetz: Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland. Vorwort von Hans Leyendecker. Rowohlt Verlag, Hamburg im Juni 2012, 265 Seiten, 14.95 Euro