(Gegenwind 274, Juli 2011)
Die Bundesrepublik Deutschland ist innerhalb der EU das einzige Land, das noch nie einen Volksentscheid erlebt hat. Alle anderen Länder haben über EU-Fragen, Atom- und Finanzpolitik oder ihre Verfassung mindestens einmal abgestimmt. Wir nicht. Aber der Ruf nach dem bundesweiten Volksentscheid wird lauter und deutlicher. Die Proteste gegen „Stuttgart 21” stehen für einen Kampf, der den Bahnhofsvorplatz längst verlassen hat.
Wie führt man etwas ein, gegen das sich das bestehende System mit Händen und Füßen wehrt? Und wie macht man es, wenn man für die Änderung gerade dieses System braucht? Der vor 20 Jahren gegründete Verein Mehr Demokratie steht seit Anbeginn genau vor diesem Dilemma. Ziel ist die Einführung bundesweiter Volksentscheide (sowie Verbesserungen des Wahlrechts): Direkte Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger über Dinge, die sie betreffen. Nicht Parteien, Politikerinnen und Lobbyisten entscheiden über die Organisation der Gesellschaft, nein, wir alle können das tun, wenn wir es für erforderlich halten. Doch genau diese Parteien, Politiker und Lobbyistinnen kontrollieren das momentane Geschehen. Und sie fürchten, durch die Einführung direkdemokratischer Elemente, ihren Einfluss und ihre Macht zugunsten einer für sie anonymen Masse zu verlieren.
Lange Zeit haben sich die Parteien gegen den bundesweiten Volksentscheid gestemmt. Zuletzt 2005 scheiterte ein rot-grüner Vorstoß an der für eine Verfassungsänderung erforderlichen 2/3-Mehrheit. Immer, wenn es ernst wurde, war darauf Verlass, dass sich zumindest die Unionsfraktion im Bundestag quer stellt, obwohl laut Umfragen über 60% ihrer eigenen Wählerinnen und Wähler die Forderung nach dem bundesweiten Volksentscheid unterstützen - und auch mehrere einzelne Abgeordnete. Es scheint also allerhöchste Zeit, das Thema auf der politischen Tagesordnung deutlich nach oben zu schieben und den Druck zu verschärfen.
Wie bekommen wir jetzt trotzdem den Volksentscheid ins Grundgesetz? Es gibt da einen Kniff, der möglicherweise helfen könnte, das festgefahrene Fraktionsdenken im Bundestag aufzubrechen. In Schleswig-Holstein soll dieser zum ersten Mal ausprobiert werden: Eine Gesetzesinitiative der Landesregierungen über den Bundesrat, kurz „Bundesratsinitiative”. Die schleswig-holsteinische Landesregierung soll dazu durch eine landesweite Volksinitiative aufgefordert werden, in dieser Hinsicht aktiv zu werden; andere Landesregierungen würden das Signal dieses Volksentscheids über den Volksentscheid in Schleswig-Holstein aufgreifen und unsere Landesregierung unterstützen.
Warum aber gerade in Schleswig-Holstein? Nicht nur, weil hier schon immer revolutionäre Kräfte gärten und von hier aus schon der Matrosenaufstand für den entscheidenden Anstoß für einen grundlegenden demokratischen Wandel im ganzen Land sorgte, sondern auch aus dem banalen Grund, dass neben Berlin und Brandenburg nur hier eine solche Aufforderung an die Landesregierung durch Volksentscheid möglich ist. In den anderen Bundesländern kann das Volk nur über Gesetze abstimmen, nicht aber die Regierung zu etwas auffordern.
Das klingt sehr spitzfindig. Und das ist es auch. Dennoch bietet sich hier eine reale Chance. Ein bisher unversuchter Weg, den es lohnt, genau jetzt einzuschlagen, weil die Weichen dafür günstig stehen wie nie zuvor - und die Zeit verdammt nochmal endlich gekommen ist!
Während auf Bundesebene die direkte Demokratie noch nicht einmal in Kinderschuhen steckt, gibt es sie in Ländern und Gemeinden mittlerweile flächendeckend. Der Teufel steckt wie gewöhnlich auch hier im Detail. In Dörfern und Städten ist die Mitentscheidung von Bürgerinnen und Bürgern noch stark ausbaufähig. Einerseits ist das selbstverständlich; schließlich ist Demokratie kein starrer Zustand, sondern ein beständiger Prozess. Andererseits gibt es in der konkreten Ausgestaltung der Instrumente Bürgerbegehren und Bürgerentscheid deutliche Erschwernisse für engagierte Menschen, die sich für ein Sachthema einsetzen und mitentscheiden möchten.
Seit 20 Jahren existieren Instrumente direkter Demokratie in Schleswig-Holstein. Zur Evalutation der bestehenden Regeln der Gemeinde- und Kreisordnung und zur Vorbereitung der Kampagne hat Mehr Demokratie e.V. die zurückliegenden 20 Jahre direkter Demokratie analysiert und dabei erheblichen Reformbedarf festgestellt.
Und da wir schon dabei sind, starten wir in einfach noch eine zweite Volksintiative: Für die Verbesserung von Bürgerbegehren und -entscheiden in den Gemeinden. Dies ist dringend nötig, da zurzeit viele Themenfelder von Bürgerbegehren komplett ausgeschlossen sind und unnötige, demokratiewidrige Quoren die Unterschriftensammlungen und Abstimmungen viel zu oft im Nachhinein trotz Engagement und Mehrheit unter den Interessierten scheitern lassen. So etwas sorgt verständlicherweise für Frustration gegenüber dem demokratischen System und seinen Verfahren, ein Ohnmachtsgefühl stellt sich ein - doch das sollten wir nicht einfach hinnehmen!
Insgesamt sollen viele Details in der Gemeinde- und Kreisordnung reformiert werden. Hier alle aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen. Dennoch sollen exemplarisch zwei zentrale Änderungen vorgestellt werden.
Ein großes Ärgernis für viele Initiativen war in der Vergangenheit, dass die Gemeindeordnung in Schleswig-Holstein Abstimmungen zur Bauleitplanung verbietet. Bürgerentscheide zur Aufstellung, Änderung und Aufhebung von Bauleitplänen sollen endlich zugelassen werden. Wenn die Gemeindevertretung ein Bauvorhaben startet, ohne die Bürgerinnen und Bürger ausreichend einzubeziehen, muss es diesen möglich sein, einen Baustopp zu erreichen - sofern sich die Mehrheit dafür ausspricht. In Bayern beispielsweise finden knapp 40% aller Bürgerentscheide zur Bauleitplanung statt. Dies ist rechtlich zulässig und auch im Sinne einer lebendigen Demokratie. Allein das drohende Damokles-Schwert eines Bürgerentscheids würde dazu führen, dass Gemeindevertretungen sich im Vorhinein mehr Gedanken darum machen, wie sie möglichst vielen Interessen demokratisch gerecht werden können. Die Gemeindevertretung würde dabei nicht geschwächt oder gar entmachtet, wie oft bei einer Ausweitung direktdemokratischer Instrumente befürchtet wird. Nein, die Rolle der Kommunalpolitikerinnen und - politiker würde sich in manchen Bereichen einfach wandeln. Weg vom sturen Entscheider, hin zum Moderator demokratischer Willensbildungsprozesse
Durch die Änderungen in der Gemeindeordnung wollen wir zudem mit einem weiteren Vorurteil aufräumen. Vielerorts hört man: „Direkte Demokratie, ja gern. Aber der Haushalt gehört in die Entscheidungshoheit der Gemeindevertretung.” Wir sind davon überzeugt, dass die Bürgerinnen und Bürger keine schlechteren Haushälter sind und sehr wohl verantwortungsvoll mit ihren Steuergeldern umgehen können. Deshalb sollen auch Abstimmungen über Abgaben und Entgelte und die Hebesätze der Grund- und Gewerbesteuer ermöglicht werden.
Lohnt es sich überhaupt Unterschriften zu sammeln oder ist der Wunsch nach mehr direkter Demokratie nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wenn er zur Umsetzung auf die regierenden Parteien angewiesen ist? Wir würden die Kampagne nicht mit Herz und Hand angehen, wenn wir keine Hoffnung hätten. Vielmehr noch, wir meinen, dass die politische Konstellation momentan sehr günstig ist, um unsere Ziele zu erreichen. Die Fixpunkte dafür sind die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein im Mai 2012 und die Bundestagswahl im Herbst 2013. Wenn wir diesen Sommer über zweimal 20.000 Unterschriften für die Volksinitiative sammeln, muss sich der Landtag mit den Themen noch vor seiner Neuwahl beschäftigen. Die schwarz-gelbe Mehrheit wird beide Vorhaben ablehnen, zu stark ist - trotz der Position der FDP für mehr direkte Demokratie - der Einfluss der CDU. Danach geht es wieder ran die Buletten: 110.000 Unterschriften für das Volksbegehren im Sommer 2012. Eine mögliche neue Landesregierung unter Beteiligung von Parteien, die schon jetzt im Bündnis vertreten sind, könnte die Kommunalreform dann übernehmen. Für die Bundesratsinitiative jedoch wollen wir eine klare Signalwirkung. Wir wollen den landesweiten Volksentscheid über den bundesweiten Volksentscheid!
Wenn alles klappt wie geplant, findet dieser parallel zur Bundestagswahl 2013 statt. Die perfekte Möglichkeit, um die politische Aufmerksamkeit zu diesem Zeitpunkt auf das Thema „Direkte Demokratie” zu lenken. Mit einer weiter schwächelnden Union oder einer intensiven Diskussion innerhalb der Union mit Auflösung der Fraktionsdisziplin haben wir eine realistische Chance, die nötige Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag zu erreichen und das dreistufige Verfahren der Direktdemokratie mit Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid fest in der Verfassung zu verankern.
Das ist der Plan. Machen Sie mit?
„Der Worte sind genug gewechselt, lasst uns endlich Taten sehen!” Um die beiden Volksinitiativen zu stemmen, brauchen wir viele helfende Hände. Unser Ziel ist ein breite öffentliche Diskussion über die beiden Vorhaben. Wir wollen nicht einfach den Landtag mit etwas beschäftigen oder beauftragen. Wir wollen selbst anpacken. Wir sind das Volk - und nur durch uns kann es zum Volksentscheid kommen. Den ganzen Sommer über sind Aktionen geplant. Und es ist noch viel Freiraum für weitere Impulse und Ideen. Direkte Demokratie atmet und lebt Beteiligung. Diskutieren Sie mit Ihren Bekannten und Verwandten! Sammeln Sie Unterschriften! Informieren Sie sich und andere! Denn: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.” Auf einen lebendigen Sommer!
Michael Kolain und Johannes Wagner sind Campaigner bei Mehr Demokratie in Schleswig-Holstein
Den kompletten Gesetzesentwurf und alle Infos zu den Volksinitiativen finden Sie auf der Kampagnen-Homepage: sh.mehr-demokratie.de