(Gegenwind 271, April 2011)

Das artefact-Gästehaus in interkultureller Lehmarchitektur.
Das artefact-Gästehaus in interkultureller Lehmarchitektur.

Alternative Energiequellen nicht nur für die Länder des Südens:

Entwicklung fängt im Norden an

Ein Gespräch mit Werner Kiwitt von artefact - Globales Lernen und lokales Handeln und Jan Christensen, dem Klimabeauftragten der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche.

Technischer Fortschritt ist gebunden an die Nutzung begrenzter Ressourcen, seien sie menschlicher, mineralischer oder energetischer Art. In der Entwicklung der Industriestaaten war der wirtschaftliche Fortschritt stets verbunden mit der politischen und wissenschaftlichen Überzeugung, unbegrenzt auf weltweite Energieressourcen zugreifen zu können und Energiemangel grundsätzlich durch wissenschaftlichen Fortschritt und politische Maßnahmen kompensieren zu können.

Begleitet wurde diese Entwicklung durch entwicklungskritische Überzeugungen und Stimmen, die den zivilisatorischen Nutzen im Hinblick auf ethische, soziale und ökologische Folgen in Frage stellten. Viel bewirkt haben diese Stimmen bisher nicht nach Ansicht von Werner Kiwitt: „Wir Deutschen verhalten uns wider besseren Wissens wie die Energiedinosaurier”, sagt der Geschäftsführer von artefact gGmbH Glücksburg. „Wir sind beim Spaßfliegen und Schnellfahren die Schmuddelkinder des Planeten und emittieren nach Auskunft unserer Kanzlerin fünfmal so viel CO2 pro Bundesbürger, wie im Weltmaßstab noch zumutbar wäre”, benennt der Geschäftsführer des Zentrums für nachhaltige Entwicklung einige der Probleme, „mit denen wir nicht nur unsere Zukunft gefährden, sondern die der Länder des Südens geradezu zerstören.” So erfolgreich die Einführung erneuerbarer Energien auch in Deutschland angelaufen sei, es gebe noch viel weiter gehende strukturelle Änderungen anzupacken. „Den meisten Menschen ist gar nicht bewusst, wie viel Energiesparmöglichkeiten im privaten Umfeld liegen”, berichtet Jan Christensen, Klimabeauftragter der Nordelbischen Kirche. „Dazu bedarf es jedoch einer fundierten Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsumverhalten und diese Mühe scheuen viele Menschen hier.”

Das Interview:

Exkursion mit mozambikanischen Berufsschullehrern in einen deutsch-dänischen Bürgerwindpark.
Exkursion mit mozambikanischen Berufsschullehrern in einen deutsch-dänischen Bürgerwindpark.

BEI:

Welche politischen Weichenstellungen sind erforderlich, damit sich Schleswig-Holstein entwicklungspolitisch sinnvoll, also in weltweiter Perspektive zukunftsfähig und dem Leben auf unserer Erde gerecht werdend, entwickeln kann?

Werner Kiwitt:

Unser Bundesland hat alle Möglichkeiten, sich innerhalb einer Dekade hundertprozentig mit erneuerbarem Strom zu versorgen. Doch für viele kritische Handlungsfelder wie Beschaffungswesen, Agrartreibstoffe und Futtermittel, wäre ein unabhängiger Nachhaltigkeitsrat dringend erforderlich, um die Politik zu ermutigen, sich von Lobbyinteressen zu emanzipieren.

Jan Christensen:

Im Bereich der erneuerbaren Energien, konkret bei der Windenergie, ist Schleswig-Holstein gut aufgestellt und kann in Zukunft einen Energieüberschuss erwirtschaften, der in andere Bundesländer exportiert wird. Die Technologie selbst wird in vielen Südländern nachgefragt, beispielsweise in Marokko. In diesem Bereich wirkt Schleswig-Holstein mit den Technologieexporten und seinem Know-How bereits segensreich. Oft wird Deutschlands Position als Vorreiter in der Technologieentwicklung unterschätzt. In anderen Ländern wird sehr genau geschaut, welche Technologien in Deutschland selbst zum Einsatz kommen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Atomenergie. Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf die ökologischen und sozialen Folgen regional wie auch global sollten alle anderen wirtschaftlichen Entscheidungen auf Landes-, Bundes und Europaebene betrachte werden.

BEI:

Wer nachhaltig leben will, darf nicht mehr Ressourcen verbrauchen, als natürlich regeneriert werden können. Wer sozial verträglich leben will, darf nicht auf Kosten anderer Menschen mehr Ressourcen verbrauchen als im Durchschnitt jedem einzelnen Menschen weltweit zur Verfügung steht. Welchen Beitrag leistet artefact beziehungsweise die Nordelbische Ev.-Luth. Kirche zu einer sozial und ökologisch ausgewogenen Lebensweise in Deutschland?

Werner Kiwitt:

Schon vor 20 Jahren sind wir angetreten, um unser Tagungszentrum mit lokalen Baustoffen zu bauen und 100prozentig mit erneuerbaren Energien zu versorgen. Das sensationelle Ergebnis: es ist nicht nur möglich, sondern auch effizienter und Arbeitsplätze schaffend. Diese win-win-Situation lassen sich alljährlich tausende Besucher aus dem In- und Ausland genauer erläutern, ebenso andere unserer Initiativen wie den Solarcup, die erste Elektromobiltankstelle des Nordens oder einen 10-Prozent-Rabatt für Gästehaus-Urlauber bei Bahnanreise. Dazu habe wir mehr als 500 Solarberater qualifiziert. Viele von ihnen haben inzwischen eigene Firmen gegründet. Wir selber verstehen uns als Ideen- und Motivationsgeber.

Jan Christensen:

Im Juni 2010 hat die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche eine dreijährige Klimakampagne gestartet mit dem Ziel, unseren CO2-Ausstoß in Nordelbien bis zum Jahr 2015 um 25 Prozent, verglichen mit dem Jahr 2005, zu senken. Dabei kümmern wir uns um Energieeinsparungen bei unseren Immobilien, bei der Mobilität unserer MitarbeiterInnen und bei der Beschaffung von Produkten. Bei der Beschaffung fragen wir uns beispielsweise, welches Druckerpapier am wenigsten CO2-Emissionen erzeugt und treffen daraufhin unsere Kaufentscheidung. Meine Aufgabe ist, von den Kirchengemeinden und Kindertagesstätten an bis zur Synode diese Aufgaben zu koordinieren und darüber hinaus weitere Projekte anzustoßen, wie beispielsweise die Entwicklung und den Vertrieb eines speziellen Fahrrades nicht nur für MitarbeiterInnen der Nordelbischen Kirche: Dieses Kirche-für-Klima-Fahrrad mit Elektromotor erlaubt, kurze und mittlere Wege klimaverträglich zurückzulegen, ohne angestrengt oder verschwitzt bei einem Termin anzukommen.

Energie-begreifen im Energieerlebnispark von artefact
Energie-begreifen im Energieerlebnispark von artefact

BEI:

Was tun Sie ganz persönlich?

Werner Kiwitt:

Beruflich kann ich das Fliegen nicht ganz vermeiden, aber zumindest in Europa konnte ich mir durch Bahnreisen zu Vorträgen in Bologna oder Barcelona sogar schon nette Kurzurlaube genehmigen. Langstreckenfahrten mit dem PKW innerhalb Deutschlands sind schon wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig mit Bahncard50, Lidl und Co.

Jan Christensen:

Da gibt es ganz viel, nicht zuletzt deshalb, weil ich neugierig bin und gerne auch 'mal neue Sachen ausprobiere. So habe ich mir einen elektrischen Motorroller angeschafft, mit dem ich bis zu 70 Kilometer bei einen Termin mit Hin- und Rückfahrt zurücklegen kann und den ich mit Ökostrom lade. Ich habe den Stromverbrauch meines Ein-Personen-Haushaltes auf rund 500 Kilowattstunden im Jahr reduzieren können (es werden im Durchschnitt rund 1800 kWh/Jahr für einen Ein-Personen- Haushalt veranschlagt); unter anderem weil ich nur einen kleinen Kühlschrank nutze und stattdessen öfter einkaufe. Außerdem esse ich wenig Fleisch und prüfe meinen Konsum insgesamt. Bei der Neuanschaffung von Geräten achte ich auch auf die Langlebigkeit der Geräte.

BEI:

Welche Bedeutung haben die Forderungen nach einer nachhaltigen Wirtschaftsweise in den Ländern des Südens, wenn in Deutschland kein nachhaltiger Fortschritt im Umgang mit Energieressourcen abzusehen ist?

Werner Kiwitt:

Die Südpartner nehmen uns nicht ernst, wenn wir ihnen Vorträge zu Menschenrechten halten und selbst durch Öl- und Gaskäufe Diktatoren finanzieren, wenn wir selbst Energie verschwenden und sie warnen, nicht den Regenwald zu roden. Umgekehrt erfreuen wir von artefact uns einer sehr großen Akzeptanz, weil wir zunächst selbst einsetzen, was wir dann weitergeben.

Jan Christensen:

Wie schon erwähnt, wird bei Projekten in der Entwicklungszusammenarbeit durchaus kritisch hinterfragt und sehr aufmerksam verfolgt, was wir einerseits den Ländern des Südens empfehlen und was wir andererseits selbst tun und treiben. Wichtig ist der wechselseitige Austausch und die Kommunikation.

Interkultureller Austausch mit den SESAM-Studenten der Uni Flensburg (Sustainable Energy Systems and Management)
Interkultureller Austausch mit den SESAM-Studenten der Uni Flensburg (Sustainable Energy Systems and Management)

BEI:

Der Forderung nach wirtschaftlichem Fortschritt in den Ländern des Südens zollen viele entwicklungspolitische Initiativen Rechnung, die sich dort engagieren. Welche Voraussetzungen müssen bei den InitiatorInnen und am Projektstandort beachtet werden?

Werner Kiwitt:

Geschenke verteilen führt nicht zu mehr ökonomischer Eigeninitiative, sondern erstickt sie oft. Auch eine Solaranlage muss gewartet, repariert, wirtschaftlich betrieben werden, sonst bleibt sie unangepasste Technik (angepasste Technik bedeutet: Technik, die im Einsatz der Umgebung im Hinblick auf soziale, ökologische und ökonomische Standards angepasst ist). Auch dazu bieten wir Ende Mai ein Seminar an. Projekte in der Südländer-Entwicklungszusammenarbeit können nicht losgelöst von den Rahmenbedingungen vor Ort betrachtet werden. Festgefahrene Denkweisen und Handlungsmuster aufzubrechen und Alternativen zu entwickeln, ist Ziel der Bildungsarbeit von artefact in Nord und Süd. Nachhaltige Lösungen gemeinsam mit den Menschen vor Ort zu suchen - auch anhand von angepassten Techniken aus den Ländern des Südens -, das ist Ziel der Beratungsarbeit von artefact. Denn die Subventionierung von Technikexporten reicht nicht zur Problemlösung. Entwicklung muss von unten kommen, wenn sie nachhaltig soziale, wirtschaftliche und ökologische Verbesserungen nach sich ziehen soll. Auch die Klärung energiepolitischer Rahmenbedingungen, Wirtschaftlichkeitsberechnungen, Ausbildung und Qualifizierung zur Verankerung der technischen Kenntnisse vor Ort, klare Strukturierung von Verantwortlichkeiten für Wartung, Reparatur sowie zur Refinanzierung technischer Anlagen sollten jeder Projektinitiative vorausgehen.

Jan Christensen:

In der entwicklungspolitischen Projektarbeit muss der Bedarf genau definiert werden und mit den unterschiedlichen Interessengruppen vor Ort, die möglicherweise ganz unterschiedliche Motivationen bei der Lösung eines Problems haben, abgesprochen werden. Dann muss es einen Beschluss der Gemeinschaft über die Durchführung einer konkreten Maßnahme geben. Diese Projektarbeit kann nicht von hier aus erfolgen; die Partnerschaftsgruppen hier helfen beratend, helfen zu analysieren, wo die größten Probleme liegen, und sie helfen bei der Organisation.

BEI:

Was sind die Grundlagen der umweltpolitischen Bildungsarbeit hier für den Norden sowie für die Länder des Südens?

Werner Kiwitt:

Bei uns geht es vor allem darum, unsere Lebensqualität jenseits von Konsumhysterie, Pseudostress und quantitativen Wertmaßstäben wieder und neu zu entdecken, im Ursinn des Wortes also konservativ zu denken statt wachstumsideologisch. Im Süden werden derzeit zumeist noch unsere Entwicklungsfehler kopiert, da braucht es gleichermaßen mehr Selbstbewusstsein und überzeugendere Vorbilder. Bildung allein reicht aber nicht, sozial-ökonomische Erfolgsstories nachhaltiger Entwicklungsstrategien sind die überzeugendsten Transmissionsriemen.

Jan Christensen:

Eine gute Richtlinie sind die „3E”: Energieeinsparung, Energieeffizienz und Erneuerbare Energien. Das heißt, jede Person sollte sich im Hinblick auf den eigenen Konsum kritisch hinterfragen (z.B. welche Raumtemperatur gebraucht wird). Danach folgt die Frage, ob das angestrebte Ziel, beispielsweise eine warme Wohnung, effizient erreicht wird und zuletzt, ob die eingesetzte Energie aus erneuerbaren Energiequellen stammt. Außerdem denke ich, dass wir eine Diskussion darüber führen sollten, wie ein gutes Leben in der Zukunft aussehen soll, wir brauchen eine Vision!

Interview: Nicole Gifhorn

Zu weiteren Informationen zur Klimakampagne der Nordelbischen Kirche siehe auch www.kirchefuerklima.de.

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