(Gegenwind 269, Februar 2011)
Fast alle, die als DolmetscherIn arbeiten und Aufträge suchen, möchten auch simultan dolmetschen. Das ist nicht nur bei Auftraggebern beliebt, es wird oft auch höher bezahlt als das konsekutive Dolmetschen, also das Dolmetschen Satz für Satz. Letzteres verdoppelt die Arbeitszeit von Richtern, Polizisten, Ärzten und Behördemitarbeitern, weshalb DolmetscherInnen auch eher als lästig als als hilfreich gelten.
Der Autor des vorliegenden Buches ist Simultandolmetscher. Er hält den Beruf für ein Handwerk, zu dem man zwar Begabung und Sprachgefühl braucht, das man aber lernen kann und lernen muss. Er warnt davor, „einfach so” zu dolmetschen, andererseits weist er darauf hin, dass die Ausbildung zum Simultandolmetscher relativ speziell ist. Während die allgemeine Ausbildung auch nützlich sein kann, wenn man später als Übersetzer, als Sprachlehrin oder Reiseführer arbeiten will, können Simultandolmetscher eigentlich nur simultan dolmetschen. Das wird bei internationalen Konferenzen verlangt (und gut bezahlt), im Gerichtssaal oder bei einer Firma macht man sich mit solchen Fähigkeiten höchst beliebt.
Zunächst stelle der Autor den Beruf, vor allem seinen Beruf vor. Er erläutert die Unterschiede und Gemeinsamkeiten vom Dolmetschen und Übersetzen und weist auf verbreitete Irrtümer und Fehleinschätzungen bei beiden Berufen hin, die hauptsächlich von anderen, bevorzugt Auftraggebern hineininterpretiert werden.
In den nächsten Kapiteln geht es um die Sprache, das Sprechen und die damit verbundenen Probleme und Fehler. Falsche Freunde, Blüten und Dornen sind das Thema.
Was muss ein Simultandolmetscher oder eine Simultandolmetscherin wissen und können? Wie komplex ist die Aufgabe, zu verstehen und widerzugeben, wie groß ist die Gefahr, auch nicht Verstandenes widergeben zu müssen? Zur Erinnerung: SimultandolmetscherInnen in einer Kabine auf einer internationalen Konferenz können wieder überlegen noch nachfragen, sondern sie sind Sprach-Fließbandarbeiter, die das Fließband der Sprache nicht stoppen können. Deshalb diskutiert der Autor auch, ob es wirklich ein Handwerk ist oder schon eine Kunst.
Hier sei darauf hingewiesen: Der Autor weist an vielen Stellen auf seine eigene Berufserfahrung hin. So hat er die Eröffnung der Olympischen Spiele, die Amtseinführung des US-Präsidenten oder die Live-Übertragung der Beerdigung eines französischen Präsidenten gedolmetscht, weltweit und in Farbe. Bei den Schilderungen der eigenen Verdienste schimmert eine gehörige Portion Selbstverliebtheit durch - ich finde, man kann es gut ertragen, weil der Rest des Buches sehr viel von genau diesen Berufserfahrungen auch weiter gibt. Dadurch wird es ein wertvoller Ratgeber nicht nur für BerufsanfängerInnen, sondern auch für bereits langjährig tätige Profis.
Zum Schluss beschreibt der Autor die Ausbildungsmöglichkeiten und deren Voraussetzungen sowie die Berufsaussichten. Dass die Vereinigung der Simultandolmetscher ein relativ elitärer Club ist, wussten wir natürlich schon - aber hier wird auf über 400 Seiten ein intensiver Einblick gewährt.
Reinhard Pohl
Jürgen Stähle: Vom Übersetzen zum Simultandolmetschen. Handwerk und Kunst des zweitältesten Gewerbes. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2009, 413 Seiten, 29,90 Euro