(Gegenwind 267, Dezember 2010)
Deutschland ist in Aufruhr. Ein Buch bewegt das Land. Es handelt sich um Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen”. Es sorgt für die größte Integrationsdebatte in der Geschichte Deutschlands.
Die vorliegende Rezension verfolgt das Ziel, rational und nicht hysterisch das Buch zu erörtern. Ob ein Buch „hilfreich” ist oder nicht, lässt sich - anders als Kanzlerin Merkel behauptet - erst feststellen, wenn man das Buch gelesen hat. Im Folgenden möchte ich das Buch chronologisch Kapitel für Kapitel erörtern. Durch dieses Verfahren lässt sich besser die ganze Bandbreite des Buches darstellen und es wird vermieden, die Diskussion auf einige wenige Sätze zu verengen. Das Buch enthält insgesamt neun Kapitel. Ich werde einige der Kapitel kurz und andere ausführlich kommentieren:
Die Überschrift des Kapitels verrät uns, worum es hier geht. Es handelt von der Entwicklung unterschiedlicher Gesellschaften. Sarrazin beschreibt die Entwicklung des alten Ägyptens, des Römisches Reiches und des europäische Mittelalters. Das Kapitel widmet sich im Weiteren dem „Sprung in die Moderne”. Es werden hier maßgebliche Fortschritte und Erfindungen erwähnt. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit Ausführungen über die Reformation, die Aufklärung und den Absolutismus. Sarrazin schreibt: „Die Ausbreitung von Wissen, Technik und industriellen Produktionsformen über die ganze Welt entspricht der Logik der Marktwirtschaft und ist förderlich für die Entwicklung der Menschheit als ganzes. Es zeigt sich aber, dass Staaten und Gesellschaften nur sehr unterschiedlich in der Lage sind, die von der Industrialisierung und Technisierung ausgehenden Entwicklungschancen zu nutzen. […] Alle Untersuchungen zeigen, dass Volkswirtschaften, Gesellschaften und Staaten umso erfolgreicher sind, je fleißiger, gebildeter, unternehmerischer und intelligenter eine Bevölkerung ist.” Diese Aussage ist in seiner Einseitigkeit etwas zweifelhaft. Jeder, der schon einmal in einem undemokratischen Staat gelebt hat, weiß, dass „Korruption lange Hände hat”. In diesem Fall helfen auch nicht Intelligenz, gute Bildung und Fleiß. Ansonsten enthält dieses Kapitel aber viele interessante Informationen und vermag auch durch seine Darstellung zu überzeugen. Anstößiges ist hier nicht zu finden.
In diesem Kapitel liest man über die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsanzahl, Alterung einer Gesellschaft, Wohlstandsentwicklung und der Wirtschaftskraft im internationalen Vergleich. „Unbestritten” sei es, „dass in Deutschland künftig sowohl die Gesamtbevölkerung als die Zahl der Erwerbspersonen schrumpfen wird.” Sarrazin arbeitet hier mit verschiedenen Tabellen. Diese tabellarische Darstellung ergänzt den Inhalt und sorgt für eine hohe Glaubwürdigkeit des Textes.
In diesem Abschnitt macht Sarrazin sich Sorgen um intelligenten Nachwuchs, insbesondere im Bereich der so genannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Sarrazin schreibt „Selbst wenn der prozentuale Anteil deutscher MINT-Absolventen künftig steigen sollte, muss das infolge des demografischen Schwunds bei kommenden Jahrgängen keine absoluten Zuwachs bedeuten. […] Die kontinuierliche Abnahme des quantitativen Potentials an wissenschaftlich-technischer Intelligenz wird sich fortsetzen. ” Oder „Wir wissen, dass die Zahl der 20-bis 30- Jährigen bis 2050 um mehr als 40 Prozent sinken wird. Damit wissen wir, dass […] auch das deutsche Innovationspotential in den nächsten 30 Jahren um 40 Prozent sinken wird.”
Deshalb bemängelt Sarrazin, dass Deutschland durch seine Einwanderungspolitik nicht attraktiv für Hochbegabte ist, sondern nur für die, die schon in Ihrem Heimatländern am unteren Ende der sozialen Rangskala wie auch Bildungsskala stehen. Sarrazin setzt sich nach dieser Feststellung mit den in Deutschland bestehenden Integrationsproblemen auseinander und scheut sich auch nicht, die verschiedenen Gruppen von Migranten getrennt voneinander zu betrachten. Er schreibt „Die Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien haben auch in der zweiten Generation deutliche Integrationsprobleme in Bildungsbereich: 14 Prozent bleiben ganz ohne Schul- oder Berufsabschluss. […] Aus Afrika stammende Migranten haben zu 25 Prozent keinen Bildungsabschluss. […] Es ist nicht erkennbar, dass sich die Integration in der zweiten Generation verbessert, sie wird teilweise eher schlechter. […] Die türkischstämmige Bevölkerung stellt unter den Absolventen des deutschen Bildungssystems die höchste Quote ohne Bildungsabschluss(30 Prozent)”.
Ein Unterkapitel des dritten Kapitels lautet: „Die bildungsfernen Milieus und die Unterschichtphänomene verfestigen sich”. Sarrazin behauptet, dass der Bildungsgrad eng in Verbindung mit der Schichtzugehörigkeit in Verbindung steht. „Da die Berliner Migranten überwiegend der Unterschicht angehören, ist kaum verwunderlich, dass die Schulanfänger aus diesen Gruppen die typischen Unterschichtdefizite aufweisen”. Danach geht Sarrazin zur Geschichte der Unterschicht über. Im Unterkapitel „Die Armutsdiskussion” präzisiert Sarrazin, wer in Deutschland zur Unterschicht gehört. „ Ein alternder Künstler, der von der Grundsicherung lebt, oder ein Student, der mit dem Bafög auskommen muss, gehören selbstverständlich nicht zur Unterschicht” Sarrazin legt anschaulich dar, dass „Armut” nicht notwendig materielle Not bedeuten müsse.
Der umstrittenste Teil des Buches dürfte nun folgen. Im Unterkapitel „Intelligenz und Demografie” schreibt Sarrazin: „Intelligenz ist aber zu 50 bis 80 Prozent erblich. Deshalb bedeutet ein schichtabhängig unterschiedliches generatives Verhalten leider auch, dass sich das vererbte intellektuelle Potenzial der Bevölkerung kontinuierlich verdünnt. Dieser qualitative Effekt wirkt sich langfristig entscheidend auf die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft aus.” Diese und andere Stellen sind in dem Buch zu Recht zu kritisieren. Sarrazin verwendet genetische Argumente, die wissenschaftlich kaum haltbar sind. In einer Ausgabe des Spiegels (Nr. 32/ 9.8.10) schreibt der Wissenschaftsjournalist Jörg Blech in dem Artikel „Das Gedächtnis des Körpers” die Sätze: „Die Gene sind kein Schicksal, sondern wunderbar wandelbar - diese bahnbrechende Erkenntnis der Epigenetiker räumt auf mit alten Vorstellungen. […] Intelligenzunterschiede zwischen reichen und armer Familien sind nicht vorherbestimmt.” Ein gutes Beispiel dafür ist der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. Sein Vater Fritz Schröder war nur Hilfsarbeiter. Der Vater fällt als Soldat im Zweiten Weltkrieg und die Mutter verdiente ihr Geld durch Putzen und Fabrikarbeit. Ein anderes Beispiel ist der russische Dichter, Naturwissenschaftler und Reformer Michail Lomonossow. Dieser stammte aus einer sehr armen Fischerfamilie aus dem hohen Norden Russlands. Auch die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, auf die Sarrazin sich maßgeblich stützt, hat in der FAZ v. 2. 9. 2010 in einem Interview gesagt, dass Sarrazin sie falsch verstanden habe und, dass es keinen Sinn habe zu behaupten, Intelligenz sei zwischen 50 und 80 Prozent erblich. Sarrazin hätte also besser auf die genetischen Argumente verzichten sollen. Sie führen in die Irre und leiten die Diskussion über das Buch in eine falsche, nicht notwendige Richtung.
In diesem Abschnitt versucht Sarrazin noch einmal genauer den Begriff der Armut zu definieren. Er spricht von den verschiedenen Stufen der Armut und unterscheidet zwischen absoluter und relativer Armut. Interessant und erhellend ist Sarrazins Unterscheidung zwischen negativem und positivem Neid. Positiver Neid sei förderlich. Er lasse sich in dem Satz „Das kann ich auch” zusammenfassen. Im nächsten Unterkapitel setzt sich Sarrazin mit dem Thema „Ernährung” auseinander. Sarrazin stellt sich die Frage, warum es lange Schlangen vor den Essenausgaben der Tafel gibt, wenn der Regelsatz doch ausreicht. Er meint, dass es in diesem Fall schlicht darum gehe, das Gesamtbudget zu entlasten. „Würde man DVDs und Geräte der Unterhaltungselektronik umsonst an Hartz-IV- Empfänger ausgeben, würden sich noch längere Schlangen bilden”. An dieser Stelle zeigt sich eines der Hauptprobleme des Buches. Einerseits gibt Sarrazin vor, wissenschaftlich-objektiv in seinem Buch vorzugehen, andererseits kommt es immer wieder zu polemischen Zwischenpassagen, die darauf abzielen, Personengruppen zu verspotten.
„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.” Diesen Psalm hat Sarrazin nicht ohne Grund als Motto für dieses Kapitel ausgesucht. Es geht in diesem Kapitel um den Wert der Arbeit für ein glückliches und erfülltes Leben. Seine Ausführungen hier vermögen zu überzeugen.
Dieses Kapitel handelt vom höchst brisanten Thema „Bildung und Gerechtigkeit”. Sarrazin stellt hier zunächst fest, dass sich das klassische Familienmodell immer mehr auflöst: „Deshalb verlagert sich für immer mehr Kinder die Bildungs- und Erziehungsaufgabe vom Elternhaus in die öffentlichen Erziehungseinrichtungen. Man mag diesen Trend gut oder schlecht finden, Tatsache ist: Wenn die Krippe, Kindergarten und Schule diese Herausforderung nicht annehmen, wird die Chancenungleichheit für einen wachsenden Teil unserer Kinder zunehmen, statt sich zu verringern”. Sarrazin schließt zwei gute und richtige Schlüsse aus diesen Feststellungen:
Am Anfang wird allgemein über das Thema Integration gesprochen. Interessant wird es im Teil „Migranten muslimischer Herkunft”. Sarrazin behauptet: „Auf diese Gruppe sind […] 70 bis 80 Prozent aller Probleme von Migranten in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt, Transferleistungen und Kriminalität zurückzuführen.” In allen anderen europäischen Ländern gebe es vergleichbare Erfahrungen. Bei muslimischen Einwanderern seien stets folgende Probleme feststellen: Unterdurchschnittliche Integration in den Arbeitsmarkt; überdurchschnittliche Abhängigkeit von Sozialtransfer; unterdurchschnittliche Bildungsbeteiligung. Die Aussagen Sarrazin sind zwar kontrovers und führen zu einem Ausspielen der verschiedenen Gruppen von Migranten gegeneinander, dennoch benennt Sarrazin hier auch richtige Tatsachen. Muslime sollten diese Ausführungen als einen Appell sehen, sich besser zu integrieren und das Buch nicht erbost zur Seite legen. Leider scheint dies aber die üblicher Reaktion, der - ironischerweise - besonders gut integrierten Muslimen zu sein. Der hessische Landtagsabgeordnete der Grünen Tarek Al-Wazir etwa hält das Buch lediglich für „rassistischen Unsinn”, der von Sarrazin mit abenteuerlichen halbwissenschaftlichen Argumenten „bewiesen” werde (Spiegel Nr. 35, 30.8.10). Die bisherige Darstellung des Buches dürfte aber gezeigt haben, dass diese Aussage nicht zutreffend ist.
In diese Kapitel wird viel über die demographischen Probleme Deutschlands und des Westens insgesamt gesprochen. Die diesbezüglichen Probleme sind bekannt und Sarrazin stellt sich auch nicht neu dar, aber es gut, dass sie durch dieses Buch wieder in das Zentrum politischer und gesellschaftlicher Diskussion rücken.
Im Schlusskapitel entwirft Sarrazin auf seine ihm eigene polemische Art zwei Zukunftsszenarien. Er bedauert, dass der „Koranschüler in der Moschee nebenan wohl nicht” das „Wanderers Nachtlied” kennen werde und spottet ein wenig über die Grünen. Sarrazin ist die „Frage, ob der Wasserspiegel der Nordsee in den nächsten 100 Jahren um 10 oder 20 Zentimeter steigt”, weniger wichtig als die Frage, ob er dann noch als Deutscher noch in einem Deutschland leben kann, „in dem die Verkehrssprache Deutsch ist und die Menschen sich als Deutsche fühlen.” In Sarrazin Alptraumvorstellung führt Angela Merkel 2017 eine schwarz-grüne Bundessregierung, in der die Deutschkurse als Voraussetzung für die Einreise von Familienangehörigen abgeschafft werden.
Sarrazins Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Es enthält viele gute Forderungen, z.B. die Forderung nach Ganztagsschulen, und spricht auch unbequeme Wahrheiten, wie etwa die großen Integrationsprobleme vieler muslimischer Einwanderer, offen aus. Leider werden gute Passagen im Buch aber immer wieder durch polemische Ausführungen konterkariert. Sarrazin versucht den Spagat zwischen Wissenschaft und Stammtisch zu schaffen und scheitert letztlich daran. Dennoch stellt dieses Buch einen wichtigen Denkanstoß für die Zukunftsdebatte in Deutschland dar. Schon der Aufschrei in der politischen und journalistischen Klasse zeigt, dass dieses Buch sehr wohl notwendig und hilfreich ist.
Maria Chagelishvili
Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Deutsche Verlags-Anstalt 2010, 461 S., 22,99 €