(Gegenwind 262, Juli 2010)
Unmittelbar nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu HartzIV schlug Guido Westerwelle mit einer polemischen Kampagne gegen Langzeitarbeitslose im Allgemeinen und Leistungsempfänger im Besonderen Alarm. Dies war ein Angriff auf den Verfassungskonsens eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates Deutschland, den Westerwelle zugunsten der Reichsten („Leistungsträger”) aufgekündigt sehen will.
Die Wahlergebnisse der FDP sind seither einfach, niedrig und gerecht. Das eiskalte Schweigen, das Westerwelle entgegen schlug zeigte die maßlose Enttäuschung der Bevölkerung. Schwarz-Gelb wurde von der Hoffnung in die Regierung getragen, dass diese Konstellation noch am ehesten in der Lage wäre, das Land pragmatisch durch die Krise zu führen und mit der ihr zugeschriebenen Wirtschaftskompetenz das Ausbluten der öffentlichen Haushalte in den Finanzsektor zu stoppen. Dass Westerwelle es wirklich blutig ernst meint, zeigt sich nun im Kürzungspaket der Bundesregierung. Dort heißt es unter Punkt drei „Stärkung von Beschäftigungsanreizen und Neujustierung von Sozialleistungen”: „Das deutsche System der sozialen Sicherung ist weltweit einmalig”. Donnerwetter.
Der deutsche Sozialstaat war oder ist weder einmalig noch war er jemals Spitze. In Europa gibt es viele Modelle, die dem deutschen klar überlegen sind. Sie sind gerechter, umfassender und nicht teurer. Und alle Länder sind dem internationalen Konkurrenzdruck ausgesetzt. Der deutsche Sozialstaat kostet 32% des Bruttosozialproduktes, genau so viel wie 1970 vor zwei Generationen, mit dem großen Unterschied, dass heute fünf Mal so viele Menschen auf ihn angewiesen sind. Die spätindustriellen Demokratien können nur mit einer öffentlichen Finanzierung des Bildungssystems sowie gesundheitlichen und sozialen Dienstleistungen Bestand haben. Sozialpolitik ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung für Bedürftige, sondern sowohl Infrastrukturpolitik mit unverzichtbaren Investitionen in die allgemeine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung als auch Voraussetzung für komplexe Industrien.
Im Papier heißt es weiter: „Wir werden daher so genannte Pflichtleistungen in Ermessensleistungen umwandeln...”. Wer das SGB II kennt, weiß, dass systematisch alle Förderbereiche vollständig im Ermessen der ARGEn stehen. Pflichtleistungen liegen lediglich vor, wenn der ALG2-Empfänger seine Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme nachhaltig nachgewiesen hat. Diese Pflichtleistungen in Ermessensleistungen umzuwandeln bedeutet den Rücksturz in die 50er Jahre, in die Fürsorge, bei der nach Kassenlage und Nase über Zuwendungen entschieden wurde. Und das genau dies intendiert ist, zeigt sich daran, dass man über die Kürzung der ARGE-Etats diese dazu zwingen kann, genauso mit den knappen Mitteln zu verfahren, dass in 2014 tatsächlich die zehn Milliarden Euro, die für die Einhaltung der Schuldenbremse nötig sind, ausschließlich von Langzeitarbeitslosen aufgebracht werden.
Was sich in der CDU so vom Acker macht, legt den Gedanken nahe, dass Angela Merkel mittlerweile die Dinge vom Ende ihrer Kanzlerschaft her denkt. Gerade die eher konservative Wählerschaft mag nicht nachvollziehen, 147 Milliarden Euro für südeuropäische Länder bereit zu stellen und zugleich dem arbeitslosen Nachbarn den Heizkostenzuschuss zu streichen und der alleinerziehenden Tochter das Erziehungsgeld. Die politischen Beschlüsse in Schleswig-Holstein sind damit nicht zu vergleichen.
Die geplante Privatisierung der Universitätsklinik ist ein viel tieferer Eingriff in die Substanz. Für die Bevölkerung ist die Universitätsklinik der Inbegriff von Volksmedizin. Es gibt keine Familie im Flächenland Schleswig-Holstein, die nicht mindestens einen Angehörigen hat, dem nur noch in der Universitätsklinik medizinisch geholfen werden konnte. Und diese gute Medizin war für Alle da. Da wird den Leuten ein ganz grundsätzliches Sicherheitsgefühl genommen. Damit hängt zusammen, dass diese öffentliche Klinik dann einen Kern von Identität bildet. Das ist „unsere Klinik” und das macht auch stolz. Mit Asklepios oder Helios kann sich niemand identifizieren. So nimmt man der Bevölkerung „Heimat”.
Die Einschnitte in Bildung und Hochschulbildung irritieren darüber hinaus ebenfalls die gesamte Bevölkerung, die sehr wohl glauben wollte, dass Bildung auch eine Lösung für soziale Fragen ist und das Bildung der Rohstoff des Landes ist. Bildung ist, so Volkes richtige Meinung, ein Aufstiegsweg aus der Mühsal des Arbeitsalltags. Auch dort geht es um die materielle Wucht der Symbolpolitik der Landesregierung, dass die die unten sind auch unten bleiben sollen. Und alle anderen blicken bestürzt auf eine Politik die ihnen Lebenschancen nimmt. Das erklärt auch warum die Eltern der Landeskinder, die in Kiel studieren und die nicht so betroffen sind, diese ermuntern auf die Straße zu gehen.
Ebenso unterschätzt die Landesregierung die Bedeutung eines, bereits jetzt unterfinanzierten, Netzwerkes von Hilfeeinrichtungen. Auch das ist für die Bevölkerung substanziell, weil es um Adressen geht, für Probleme mit denen frau/man alleine nicht klarkommt. Selbsthilfegruppen sind auch so etwas wie Wahlfamilien für ansonsten einsame Menschen. Da zu kürzen nimmt Hoffnung. Und auch da ist es so, dass sich in jedem Bekanntenkreis eine Person findet, der in existenziellen Nöten geholfen wurde.
Die Geburtsstadt Thomas Manns, die Hansestadt Lübeck kämpft um ihre Existenz. Die Politik der Landesregierung hat die gesamte Stadt aufbracht, weil man genau weiß, dass das Herausbrechen eines vielleicht kleinen aber bedeutsamen Rädchens wie es der Medizinstudiengang in Lübeck ist, den gesamten Motor der Region zum Verrecken bringt. Und Lübeck war bereits die eigentliche Verliererin der Deutschen Einheit.
Noch im Frühling tat man so, als ob die Finanzlage entspannt ist, dass im Etat noch Luft ist, das Land viel schneller aus der Rezession käme als angenommen und sich schon so etwas wie Normalität nach der Krise einstellt. Jetzt, nach dem Eurorettungspaket musste diese irrige Politikvariante aufgegeben werden. Nun wird in Sachen Schulden richtig Alarm gemacht. Das hängt unmittelbar damit zusammen, dass mit Griechenland nun statt den Banken die „verschwenderischen” europäischen Sozialstaaten auf die Anklagebank gedrückt werden können.
Griechenland kam durch Bankenrettung und Rückgänge der Steuereinnahmen in eine missliche finanzielle Lage. Dann entstand aufgrund der Indiskretion von Goldman Sachs, man habe bei der Manipulation der Haushaltsdaten geholfen, eine sich selbst verstärkende Misstrauensspirale in die griechischen Staatsanleihen, deren Zinsen von drei auf fünfzehn Prozent explodierten. Weil Griechenland so an den Rand der Zahlungsunfähigkeit bugsiert wurde, kann nun mit dem Gespenst des Staatsbankrottes gedroht werden. Nicht nur Angela Merkel, sondern das gesamte Personal von Schwarz-Gelb sieht nun große Finanzprobleme und als Ursache für die Misere, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt und zu hohe Schulden aufgetürmt hätten. Das ist eine glatte Lüge. Wie kann man so etwas sagen, wenn Merkel doch selbst die Verschuldung des Staates, an dessen Spitze sie steht, nach oben treibt, um einen Ausweg aus der Finanzkrise zu finden? Und in Schleswig-Holstein wird dann beschworen, dass in jeder Schulstunde 130.000 Euro neue Schulden gemacht werden. Na und? Eine Doppelstunde Bundeswehreinsatz im Kongo ist für den gleichen Preis zu haben.
Es wird ein Muster erkennbar. Schulden laufen auf, weil politische Projekte (erst Deutsche Einheit, dann Steuersenkungen, jetzt Bankenrettung) durch Schulden finanziert werden. Dann wird mächtig Alarm geschlagen und gesagt: Wir leben über unsere Verhältnisse. Der Staat ist zu fett. Alle müssen sparen. Dann werden die Steuern erhöht, die vor allem die niedrigen Einkommen belasten, die Anrechte der Beschäftigten werden zurückgenommen, soziale Sicherungen und öffentliche Leistungen abgebaut, die Verwaltung zurückgefahren und Investitionen gekürzt. Bezahlt hat so immer nur die große Masse der Bevölkerung, die weniger in der Tasche hat und die auf die staatliche Infrastruktur, auf Rechtssicherheit und Qualitätskontrolle in besonderem Maße angewiesen ist.
Kein Sparvorschlag der Landesregierung ist aus einem demokratischen Verfahren hervorgegangen. Die vielen Räte, Führungskräfte und auch das betroffene Personal, die seit Jahren mit verknappten Mitteln und hohem Eigenengagement an der Aufrechterhaltung wichtiger öffentlicher Funktionen arbeiten und dauernde Kürzungen auf sich genommen haben, werden jetzt mit einem autoritären Sparkonzept konfrontiert, das mit ihrer Arbeit nichts zu tun hat und in dem sich die Machtphantasien von Schwarz-Gelb austoben.
Das Ziel dieser Politik im Land ist nun: Möglichst viel privatisieren, den Staat schwächen, indem man immer weniger Personal zu immer unattraktiveren Bedingungen beschäftigt, keine öffentlichen Investition sondern Abriss der Landesstrukturen, öffentliches Eigentum verkommen lassen, das Vertrauen in die Landespolitik durch Wortbruch und willkürliche Vertragskündigungen ruinieren. Schwächung der Politik. Dabei ist diese Politikvariante mittlerweile irreal, denn die öffentlichen Haushalte sind durchrationalisiert, optimiert und problematisch unterfinanziert. Jede Einsparung erzeugt sofort ökonomischen oder sozialen Kosten.
Wenn die Landesregierung jetzt von Haushaltskonsolidierung, Sparprogrammen, Rückführung von Ausgaben spricht, so kann sie sich auf ein offenes Einverständnis breiter Bevölkerungskreise stützen. Dort wird schneidig das Argument vorgetragen, wenn man selbst Schulden hätte und diese zurückzahlen müsse, könne man eben nicht so viel ausgeben und müsse sparen. Wenn der kleine Alois fünfundzwanzig Euro im Jahr weniger für Kekse, Eis und Brause ausgibt und das Geld zur Sparkasse trägt hat er nach zwei Jahren mehr als fünfzig Euro gespart. Wenn der schwarze Harry Peter zweihundertfünfzig Millionen Euro weniger für Schüler, Lehrer, Studenten, Professoren, Polizisten, Gerichtsvollzieher, Steuerbeamte, Sozialarbeiter, Künstler, Frauen, Migranten, Blinde und Jugendliche ausgibt, wird das Land nach zwei Jahren mehr als 250 Millionen Euro neue Schulden aufnehmen.
Deutschland hat viele Sparprogramme gesehen und jedes hat die Schulden erhöht. Der Sparkönig Hans Eichel hat den Vogel abgeschossen. Als 2003 die Neuverschuldung des Bundes fast 20 Milliarden Euro betrug, sparte er mit der Folge, dass die Neuverschuldung 2004 auf über 40 Milliarden Euro aufwuchs. Sinkende Ausgaben der öffentlichen Hand vermindern die wirtschaftliche Nachfrage, den Umsatz und dann auch die Produktion um ein Vielfaches.
Beim jetzt vorgelegten Kürzungsprogramm fallen nicht nur Kosten an, so dass man vielleicht mit Kürzungen im Volumen von 20% des Sparziels ankommt, sondern das, was sich als Sparmaßnahme maskiert, wird massive Mehrausgaben mit sich bringen. Dies vor allem weil seit den 90er Jahren ein Ausräumen der Reserven stattgefunden hat und der überwiegende Teil der staatlichen Ausgaben funktional ist. Das heißt z.B. Kürzungen bei der Steuerverwaltung führen zu Mindereinnahmen bei den Steuern, die die Kürzungen übertreffen. Das heißt z.B. Einsparungen im Sozialbereich führen zu Mehrausgaben im Bereich innere Sicherheit. Das heißt Kürzungen im Hochschulbereich führen zur Absenkung des Qualifizierungsniveaus der Beschäftigten und damit über schlechtere Bezahlung zu geringeren Steuereinnahmen. Man darf nicht verkennen, dass nun seit bald dreißig Jahren der schlanke Staat praktiziert wird. Für diesen kann das Abnehmen tödlich sein.
Wie ich letzen Monat angedeutet habe (vgl. Gegenwind 261, Seite 20), kann das benötigte Geld sehr wohl aus den Privatvermögen kommen. In den letzten Monaten hat es eine deutliche Änderung der öffentlichen Meinung in Deutschland gegeben. Nachdem sich die Vermögen in Deutschland wieder auf den Stand vor dem Lehmanzusammenbruch erholt haben, hört man immer deutlicher bei eher reichen Leuten, dass es ein Fehler war, nur sein eigenes Vermögen zu mehren und dabei die Schulen, Hochschulen und die Beschäftigten zu wenig zu finanzieren. Vielleicht reicht es einen Fonds einzurichten, in den eingezahlt werden kann. Ich denke aber auch an einen Lastenausgleich, eine Abgabe der Vermögenden im Land. Alle diejenigen, die über erhebliches Vermögen verfügen, sollen die Hälfte dieses Vermögens nach dem Stand vom 31.12.2008 (das ist der Zeitpunkt der größten Vermögensverluste durch die Krise) in 120 vierteljährlichen Raten, also verteilt auf 30 Jahre abgeben. Das hatte die CDU Ende der 50er Jahre sehr erfolgreich zum Ausgleich der Kriegslasten durchgeführt. Einerseits wurden die vom Krieg verschonten Vermögen belastet und zugleich diejenigen entschädigt, die Vermögensverluste erlitten hatten. Es gibt also bereits eine Gesetzesvorlage - das Lastenausgleichsgesetz -, welches entsprechend für die gegenwärtigen Finanzkriegslasten (siehe unten) angepasst werden kann und für Opfer dieses Krieges, die öffentlichen Zukunftsaufgaben des Landes, zu erheben ist. (siehe auch: „Wie das Staatsschiff durch einen Lastenausgleich wieder flott gemacht werden kann!” Gegenwind 254, Seite 24.)
Die Kürzungen beim Personal des Landes summieren sich. Man will mit 450 Lehrern, 300 Steuerbeamten und mit insgesamt 5.300 Leuten weniger auskommen. Das heißt dann: Mehrarbeit für Lehrer, Verlängerung der Lebensarbeitszeit für Polizisten, Erhöhung der Zuzahlungen bei Krankheit für alle Beamten, Streichung der Jubiläumsgratifikationen. Und das nach der x-ten Verlängerung der Arbeitszeiten, der Streichung der Weihnachts- und Ferienzulagen, jahrelangen Einkommensverlusten durch Gehaltsanpassungen unterhalb der Inflationsrate und der massiven Abstufung von Neuangestellten.
Die Rechtspolitik der Landesregierung sieht vor, kleinere Haftanstalten zu schließen, das Gerichtsvollzieherwesen zu privatisieren. Das Verbraucherinsolvenzrecht soll so geändert werden, dass den redlichen Schuldnern die Chance eines Neuanfangs genommen wird, wenn sie nicht die Mittel für das Insolvenzverfahren aufbringen können. Die Rechtsbeihilfe und die Prozesskostenhilfe sollen soweit eingeschränkt werden, dass Schwächere kein Recht mehr bekommen können.
Es geht nicht mehr um die Erreichung von Bildungszielen, mit denen Schleswig-Holstein und Deutschland auch nur den Anschluss an die durchschnittlichen Ausgaben der europäischen Nationen hält, sondern vielmehr wird die Schullandschaft zerstört. Die Zuschüsse für die Schulen der dänischen Minderheit werden gekürzt, die Anerkennung von Bildungsanstrengungen bei der Rentenversicherung herunter gefahren und die Übernahme der Schülerbeförderung in den großen Kreisen verweigert.
Im Hochschulbereich ist ein Kahlschlag programmiert. Zehn Jahre nach der Einleitung des Bolognaprozesses ist das über zweihundert Jahre alte deutsche Hochschulsystem, welches dutzenden von Ländern Vorbild beim Aufbau ihres eigenen Hochschulsystems war, ruiniert. Man hat die Universität auf das vermeintlich wirtschaftlich Nützliche reduziert und dabei vergessen, dass die Wirtschaft nicht die Voraussetzungen des Wirtschaftens garantieren kann.
Die Privatisierung der Universitätskliniken ist nicht das einzige Projekt, welches die Regierung bewegt. Darüber hinaus ist geplant, die landeseigenen Häfen in Husum, Tönning, Friedrichstadt und Glückstadt zu kommunalisieren oder zu privatisieren. Es sollen in aller Breite privat-öffentliche Partnerschaften gefördert werden, die sich von rein öffentlichen Vorhaben nur durch die Rendite unterscheiden, die für die Privaten abzufallen hat. Das Ganze wird also systematisch teurer. Privatisierung ist auch Entdemokratisierung, weil weniger Entscheidungen von Gewählten getroffen werden.
Auch die Kürzungen bei Verbänden und Vereinen und der Wohlfahrtspflege sind unterirdisch. Die Ausgaben für Familienbildungsstätten werden gekürzt. Die fast tausend Selbsthilfegruppen in Schleswig-Holstein, die Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen, die Migrationssozialarbeit, die Straffälligenhilfe, die Suchtkrankenhilfe und die Psychiatrie bekommen bis zu 45% weniger Geld. Bei der Jugend und den Blinden wird noch massiver gekürzt. Unser Land ist darauf angewiesen, zu Fragen, Problem und Sorgen eigene Adressen auszubilden, um Kristallisationspunkte von Selbstorganisationsprozessen bereit zu stellen.
Zusammengenommen sind die Beschädigungen funktional differenzierter Ordnungsmuster, die immer wieder im Kürzungsprogramm sichtbar werden, in ihrer Gesamtheit als ein Anschlag auf die demokratische (weil Privatisierung immer Entscheidungen gewählter Menschen durch Entscheidungen von Privaten ersetzt), rechtsstaatliche (weil Rechtssicherheit abgebaut wird, wissenschaftliche (weil wissenschaftliche Kalküle durch wirtschaftliche ersetzt werden) und auch wirtschaftliche (weil die nicht-wirtschaftlichen Voraussetzungen des Wirtschaftens zerstört werden) Verfasstheit der Republik. Zusammenfassend: Schwarz-Gelb ruiniert nicht nur Wirtschaft und Politik, sondern auch Wissenschaft und Recht.
Diese Politik steht in diametralem Gegensatz zu den Erwartungen der Bevölkerung und hat als einzige Begründung: Die Schuldenbremse. Dabei ist das Programm politisch illegitim, wirtschaftlich kontraproduktiv und rechtlich katastrophal.
Das Sparpaket ist politisch illegitim, weil der fortwährende Transfer von Steuermitteln in den Finanzsektor nicht gestoppt wird. Es handelt sich um eine Lüge, dass man einzelstaatlich hier nicht handeln kann. Das Beispiel Kanada beweist das glatte Gegenteil. Kanada hat einen rechtssicheren Bankensektor, mit strengen Standards und einer solide arbeitenden Aufsicht, angelehnt an das bundesrepublikanische System vor Rot-Grün. Kanada musste keine Bank retten, hat keinen Schuldenaufbau erlebt und die Wirtschaft boomt, so dass die Zentralbank jetzt die Zinsen erhöht hat.
In Deutschland ist eine entscheidende Weichenstellung für das Desaster durch das 4. Finanzmarktförderungsgesetz geschehen. Bis dahin waren Spekulationsgeschäfte von Nichtkaufleuten in Form der Arbitrage- und Differenzgeschäfte rechtsunwirksam (§ 764 BGB). Erst die Gewerbesteuerbefreiung für Zweckgesellschaften machte den Handel mit hochriskanten CDS Papieren möglich. Am 6. Juni 2003 wurde das „Kleinunternehmerförderungsgesetzes” ohne parlamentarische Debatte einstimmig verabschiedet. Eingefädelt und ausgeheckt wurde diese Strategie, ohne politische Debatte einen gut regulierten Finanzmarkt in einen Finanzkrieg zu verwandeln, von der „Initiative Finanzstandort Deutschland”, der größten Lobbyorganisation des Finanzsektors und dem „Sprachrohr der Branche”. Zu ihr gehört neben der Deutschen Bank, Goldman Sachs und der Commerzbank auch das Bundesfinanzministerium. Den damit zusammenhängenden offenen Verfassungs- und Demokratieskandal, dass nämlich die Wahrung der Funktionsfähigkeit der Kapitalmarktordnung einfach rechtlich ein öffentliches Gut ist und zugleich hinter verschlossenen Türen von Lobbyisten formulierte Gesetze und Verordnungen diese Kapitalmarktordnung aushebeln, thematisieren Thilo Bode und Katja Pink in den „Blättern” (siehe: Die Finanzkrise als Demokratiekrise, Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2010).
Wirtschaftlich gesehen hat man im letzten Jahrzehnt über die Herabsetzung der Standards für Kreditverbriefungen privaten Banken nach dem gleichen Mechanismus wie dem Staat die Möglichkeit gegeben, unkontrolliert Geld zu schöpfen. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass seit den 90er Jahren sowohl internationale Konzerne als auch Banken offen ihre Bilanzen durch Terminversetzung und Scheingeschäfte manipulieren, so dass ihre wirtschaftliche Lage für Eigentümer, Kunden und Staat vollständig undurchsichtig werden.
Des Weiteren wurde der Handel mit abgeleiteten Kreditpapieren, sogenannten Derivaten ausgeweitet. Diese wurden früh als negative Produkte, als „toxische Abfälle” und „finanzielle Massenvernichtungswaffen” bezeichnet. Die Verlustrisiken sind dabei unabweisbar sicher, es ist nur die Frage, wer am Ende den „Schwarzen Peter”, also die Verluste zu tragen hat. Damit wurde der Markt, der durch den Austausch von positiven Sanktionen beschrieben werden kann, transformiert. Es handelt sich dann nicht mehr um „Finanzmärkte”, sondern, weil wie im Krieg negative Sanktionen getauscht werden, um „Finanzkriege”. Dies ist der Kern der Finanzkrise, dass mit negativen Finanzprodukten gehandelt wird, die auch abgewehrt werden wollen. Die vernünftigste Reaktion der Anleger ist dann Misstrauen gegenüber den Produkten. Und das zerrüttet dann andere Märkte und ist im Übrigen die Ursache dafür, dass Staatsanleihen „sicherer” Länder weggehen wie warme Semmeln und der kleinste Anschein, es könnte bei der Bedienung der Zinsen problematisch werden, zu panikartigen Massenfluchten aus den Anleihen führt. Dies ist zu vergegenwärtigen, wenn Angela Merkel argumentiert, dass die Staaten nun sparen müssten, um Vertrauen in die Märkte zu bringen, was sie als Voraussetzung für Wachstum begreift. Das was sie „Märkte” nennt, sind aber längst Kriegsschauplätze. Und worum es geht, ist, wieder Erwartungssicherheit herzustellen, dass positive Sanktionen getauscht werden.
Ganz unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzieht sich aber auch eine rechtliche Katastrophe. In Brandeins vom Juni berichtet Patricia Döhle, dass bereits Anfang 2005 ein kalifornischer Hedgefondsmanger namens Michael Burry mittels mathematischer Methoden zu folgendem Ergebnis kam: Die amerikanischen Kreditverbriefungen müssen zusammenbrechen, sobald die Hauspreise zurückgehen. Daraufhin telefonierte er mit Bankern von Goldman Sachs und der Deutschen Bank („Aus Ideen werden Märkte”) und beauftragte diese ein Papier zu konstruieren, welches auf den Zusammenbruch dieses Marktes setzte. Die beiden Banken kreierten solche Derivate und verkauften zugleich weiter mit hoher Intensität Kreditbündel auf amerikanische Immobilien. Burry „verdiente” mit seinem Wissen über den Zusammenbruch seit 2005 720 Millionen Dollar. Die beiden größten Konstrukte von Derivaten legte die Deutsche Bank im Volumen von 1,75 Milliarden Dollar auf.
Private und öffentliche Banken in Deutschland haben mehrere 100 Milliarden Euro in schon vorher wertlose amerikanische Papiere investiert. Dafür kommt der deutsche Steuerzahler auf. Es gibt nur niedrigschwellige Versuche, diese Handlungen über die Straftatbestände Betrug, Untreue und Pflichtwidrigkeit zu ahnden. Juristisch wird dabei argumentiert, das Fehlverhalten wäre zum Normalfall geworden und könne deshalb nicht geahndet werden. Das heißt, Betrug und Untreue sind Normalzustände. Daran soll man erinnern, wenn mal wieder der Markt beschworen wird.
Es ist vollständig sinnlos, die hohen Staatsdefizite zu beschwören und von historischen Herausforderungen in Hinsicht auf Haushaltskürzungen der öffentlichen Hand zu sprechen. Vielmehr geht es jetzt darum, die vielen einzelnen Proteste zu einer politischen Bewegung zu ermutigen. Vielleicht unter dem Motto: Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat.
Dr. Thomas Herrmann
Wissenschaftlicher Referent für Wirtschaft und Finanzen
Fraktion DIE LINKE. im Schleswig-Holsteinischen Landtag