(Gegenwind 254, November 2009)
Im Juni 2004 rettete Kapitän Schmidt 37 Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken. Da er sie in Italien an Land brachte, stand er dort seit 2005 vor Gericht. "Beihilfe zur illegalen Einreise" nannte der Staatsanwalt seine Aktion. Denn wenn die Flüchtlinge ertrunken wären, hätten sie italienischen Boden nicht betreten können. Anfang Oktober 2009 wurde Stefan Schmidt freigesprochen. Die Urteilsbegründung folgt in den nächsten drei Monaten, danach hat die Staatsanwaltschaft noch eine Frist von sechs Wochen für einen Einspruch. Doch vieles sprich dafür, dass der Freispruch das Ende des Prozesses ist. Kurz nach seiner Rückkehr aus Italien sprachen wir mit Kapitän Schmidt.
Gegenwind:
Der Prozess ist jetzt zu Ende. Um mit dem Ende anzufangen - wie war denn der letzte Tag des Prozesses?
Stefan Schmidt:
Der letzte Tag war der 7. Oktober. Wir sind am Abend vorher angereist, waren dann ungefähr um Mitternacht in Agrigent. Wir haben dort die Leute aus Lübeck getroffen, die als Unterstützer schon vor uns hingefahren sind. Wir haben dann bis nachts um zwei uns vorbereitet auf den Prozess und Nudeln gegessen. Es war ja bis zum letzten Moment nicht klar, wie es ausgehen würde. Elias und ich haben damit gerechnet, dass wir zu irgend etwas verurteilt werden. Unsere Anwälte waren da optimistischer und haben uns gesagt, die Italiener hätten auch keine Lust mehr auf den Prozess.
Am nächsten Tag sind wir vor dem Gericht von einer deutschen Filmcrew verkabelt worden, weil die einen Dokumentarfilm über diese ganze Angelegenheit drehen wollen, und sind dann um 9 Uhr im Gericht gewesen. Der Prozess sollte ja um 9 Uhr anfangen. Um halb zehn kam die Richterin rein, hat erst mal gefragt, wer alles da ist, und die Namen abgehakt. Dann hat sie den Staatsanwalt gefragt, ob er was erwidern möchte auf das, was letztes Mal unsere Anwälte gesagt haben. Er wollte nicht. Und dann hat sie das Ganze schon wieder vertagt, und zwar auf 13 Uhr. Sie hat sich dann mit den beiden anderen Richtern zur Beratung zurückgezogen.
Wir sind rausgegangen und wussten nicht, was das schon wieder soll, noch eine Verzögerung. Aber der ganze Gerichtssaal war ja voller Reporter, Mikrophone, Kameras, es waren italienische und deutsche Unterstützter da, es war also genug Trubel. Wir hatten genug zu reden, um die Zeit zu überbrücken.
Um halb eins sind wir wieder in den Gerichtssaal gegangen, und um zwei Minuten vor eins hat die Richterin das Urteil verkündet. Ganz lapidar, freigesprochen, weil das was wir getan haben keine Straftat war. Wir haben erst gemerkt, dass wir freigesprochen sind, weil sich unsere Anwälte vor uns umdrehte, lachten, die Daumen hoch hielten. Hinter uns fingen die Unterstützer an, selbst die Journalisten fingen an zu jubeln.
Gegenwind:
Wie siehst Du den Prozess rückwirkend? Wie hast Du ihn erlebt?
Stefan Schmidt:
Ich habe ihn so erlebt, dass er schon ganz am Anfang hätte zuende sein können. In den Akten des Staatsanwaltes stand überhaupt nichts gegen uns drin. Unsere italienischen Anwälte haben die Akten durchgelesen, ein Stapel Papier von 50 Zentimeter Höhe, und die haben gesagt, wieso, es steht nichts drin, es gibt keine Beweise für einen Gesetzesverstoß. Während des Prozesses haben sechzig Zeugen ausgesagt, die der Staatsanwalt bestellt hatte, und kein einziger hat die Version des Staatsanwaltes bestätigt. Man hätte ganz zu Anfang sagen können, was soll das überhaupt. Der Prozess war politisch gewollt, deshalb wurde er durchgeführt.
Zu Beginn war die Richterin, alle drei Richter unbeleckt, sie wussten gar nichts. Das Blatt hat sich erst gewendet, als ich 2007 meine Aussage machen durfte. Das war die erste Aussage von jemandem, der wirklich dabei war. Ich saß dort von morgens um neun bis neunzehn Uhr mit einer kleinen Pause auf dem heißen Stuhl, und danach wurde die Richterin ganz anders. Vorher war sie unseren Anwälten öfters über den Mund gefahren, wollte nicht zulassen, dass sie was sagen. Aber danach war sie relativ friedlich. Man merkte, dass die Richter überlegten, was eigentlich passiert ist.
Der Staatsanwalt wurde auch freundlicher, wurde dann ausgewechselt. Insgesamt haben wir vier Staatsanwälte verschlissen. Der vierte Staatsanwalt jetzt hat in seinem Plädoyer lange erzählt, dass er uns ganz sympathisch findet, dass er gut findet, was wir getan haben, und hat uns eine halbe Stunde gelobt. Dann sollte er zu dem Strafmaß kommen, das er sich anscheinend nicht selbst ausgedacht hat. Er hat die Akte seiner Assistentin in die Hand gedrückt und ist mit Tränen in den Augen auf den Flur gelaufen. Und die Assistentin hat dann vier Jahre Gefängnis und 400.000 Euro Strafe gefordert, allerdings keinen einzigen Paragraphen eines Gesetzes genannt, gegen den wir verstoßen hätten. Sie konnte also nicht sagen, wofür wir ins Gefängnis gehen sollten, überhaupt nichts.
Selbst was am Anfang gesagt wurde, wir hätten Beihilfe zur illegalen Einreise in einem besonders schweren Fall und dann auch noch bandenmäßig begangen, das wurde im Plädoyer überhaupt nicht mehr erwähnt. Es wurde nur gesagt, wir hätten die Leute so lange an Bord behalten, um damit die Medienaufmerksamkeit zu bekommen.
Gegenwind:
Aber selbst wenn 60 Zeuge nötig wären, kann ein ordentliches Gericht die Verhandlungen trotzdem in zwei Monaten abwickelt. Warum dauert so etwas über drei Jahre?
Stefan Schmidt:
Das ist nicht unbedingt gegen uns, das ist eher italienisch und insbesondere sizilianisch. Unsere Anwälte meinte, das ist eher freundlich, jeden Monat einen Prozesstag zu machen. Es gibt dort Prozesse, die schon sehr viel länger laufen.
Gegenwind:
Es gab am Ende ein sehr großes Medieninteresse, und die Medien waren überwiegend für Euch. Am Anfang war es ja noch anders. Wie und warum hat sich das gedreht?
Stefan Schmidt:
Das Drehen fing auf jeden Fall erst in diesem Jahr an. Ich würde sage, ungefähr ab April - aber was der Auslöser war, kann ich nicht sagen. Wir wissen nur, dass Privatleute mitkriegten, dass der Prozess immer noch läuft, und anfingen, an die Regierung zu schreiben. Das waren Brief an Steinmeyer, an Zypries, an Schäuble: "Was tut eigentlich die Bundesregierung?" "Hilft sie die Angeklagten, die angeklagt sind, weil sie Leute gerettet haben?" Ob es daran lag, weiß ich nicht, aber die Medien wurden aufmerksamer. In Italien waren sie die ganze Zeit positiv, Lübecker Nachrichten auch. Aber die anderen hier haben sich vielleicht dann doch mal schlau gemacht. Plötzlich fing es an, dass sie dann positiv berichteten. Überschrift in der Hamburger Morgenpost: "Der Skandal-Prozess". Andere haben sich ja auch eingeschaltet, Günter Grass zum Beispiel. Aber ich denke, es lag an vielen einfachen Leuten, die sich aufgeregt haben und Briefe geschrieben haben, auch an Zeitungen.
In den letzten drei Monaten fühlte es sich für uns wie eine Lawine an. Das war natürlich toll, zu Anfang war es ja furchtbar. Ein ganzer Staat war gegen uns, und unser eigener Staat hat überhaupt nichts gemacht. Und die Medien in Deutschland haben sich oft irgendwas ausgedacht. Solch ein Blödsinn wie, dass wir die Leute gar nicht gerettet haben, sondern in ein halb aufgeblasenes Boot gesetzt, um Fotos zu machen. Das wurde hier verbreitet, hat sich alles als Blödsinn herausgestellt. Die Süddeutsche Zeitung hat zu Anfang positive und negative Berichte abgedruckt, teils in der gleichen Ausgabe. Gegen Kritik habe ich nichts, man muss sich bloß schlau machen und recherchieren, was wirklich ist. Es ist jetzt auch nicht alles positiv, wir hatten im Flugzeug zurück deutsche Presse. Es gab in der Welt einen Artikel, da hat der Autor sich entweder überhaupt nicht um Informationen bemüht, oder er ist aus der rechten Szene. Er hat zum Beispiel geschrieben, wir hätten Glück gehabt, dass wir eine gnädige Richterin hatten.
Gegenwind:
Wie war die Unterstützung in Lübeck? Wie hat sich das von 2005 bis 2009 entwickelt?
Stefan Schmidt:
Selbst da wussten die Leute am Anfang nicht, dass es den Prozess noch gibt und dass wir angeklagt sind. Aber als das in den Lübecker Nachrichten mal drinstand, dann haben grüne Abgeordnete, Flüchtlingsforum, Humanistische Union bei uns nachgefragt, was los sei. Und dann ging es richtig los, es gab Veranstaltungen und alles.
Gegenwind:
Von wem hast Du Unterstützung vermisst?
Stefan Schmidt:
Generell durch die Bundesregierung. Erst am Schluss haben sich Schäuble und Zypries an ihre italienischen Kollegen gewendet. Vorher war da gar nichts.
Gegenwind:
Wie haben sich der Bürgermeister von Lübeck und der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein verhalten?
Stefan Schmidt:
Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein hat überhaupt nichts von sich hören lassen, überhaupt niemand aus der Landesregierung. Es ist von verschiedenen Leuten dort nachgefragt worden, aber es kam nichts. Der Bürgermeister hat lange geschwiegen. Er ist dann von Leuten aus der Flüchtlingsszene angesprochen worden und hat gesagt, er würde mich länger kennen, auch als Konsul, er würde mich unterstützen, wenn die Bürgerschaft sich dahinter stellen würde. Daraufhin ist das von den Grünen und den Linken in der Bürgerschaft eingereicht worden, und für die Unterstützung gab es einen einstimmigen Beschluss. Sogar die CDU hat zugestimmt.
Gegenwind:
Hast Du jetzt Hoffnung, dass der Freispruch außer für Dich selbst auch Bedeutung für die Flüchtlingspolitik der EU hat? Wie machst Du weiter?
Stefan Schmidt:
Die Hoffnung haben wir schon. Zumindest hoffen wir, dass es ein Signal ist. Für uns ist es natürlich schön, dass wir nicht mehr unter Anklage stehen. Aber wir sehen natürlich auch, dass damit das Problem überhaupt nicht aus der Welt ist. Zunächst muss jetzt Rechtssicherheit geschaffen werden für die Seefahrt. Es muss wirklich gesagt werden: Wer Menschen rettet, die in Seenot sind, wird dafür nicht angeklagt, auch nicht unter irgend welchen Vorwänden. Es muss klar sein, dass man die Geretteten an Land bringen darf. Es gibt Empfehlungen, dem Kapitän Gerettete abzunehmen, aber das nur Empfehlungen.
Und für die Flüchtlingspolitik müssen wir versuchen, unserer Verein "borderline" stärker zu machen. Damit haben wir auch schon viel erreicht, es gibt viele Journalisten, die bei uns anfragen, was an unseren Grenzen los ist. Wir beobachten das ja. Wir haben Kontakt mit einer Abgeordneten im Europa-Parlament, dort werden wir wohl demnächst auch auftreten. Es gibt viel zu tun, aber durch den Freispruch können wir es jetzt viel besser tun. Denn das Sterben an den EU-Außengrenzen geht ja weiter, und die italienische Regierung schiebt weiter Flüchtlinge nach Libyen ab und handelt schlimmer als jemals gegen die eigenen Gesetze und die internationalen Verträge.
Gegenwind:
Wie weit ist der Prozess von Schifffahrts-Organisationen oder anderen Kapitänen beobachten worden?
Stefan Schmidt:
Ich kann mir vorstellen, dass sie auf das Urteil gewartet haben, aber ich habe niemanden erkennen können.
Gegenwind:
Gibt es noch Kontakt zu damals Geretteten? Haben Gerettete mitbekommen, dass Ihr wegen der Rettung vor Gericht steht?
Stefan Schmidt:
Ja. Zur Hälfte der Geretteten haben Journalisten von ARTE Kontakt aufgenommen. Sie sind in afrikanische Länder geflogen, haben die Abgeschobenen gesucht und die Hälfte gefunden. Ich habe Kontakt zu einer älteren Dame aus der Flüchtlingsszene, die hat Patenschaft in Afrika, reist dort auch hin, und hat einen von unseren Geretteten getroffen. Er wird jetzt unterstützt von einer NGO, reist in den Dörfern rum und versucht junge Männer davon zu überzeugen, zu Hause etwas aufzubauen und nicht das Abenteuer der Überfahrt nach Europa zu wagen. Er erzählt ihnen, dass sie in Europa nicht willkommen sind. Mit dem habe ich mich schon per Mail geschrieben. Der hat uns alles Gute zum Prozess gewünscht, für ihn ist es furchtbar, dass wir ihn gerettet haben und dafür ins Gefängnis gekommen sind. Ein bisschen Kontakt ist also da.
Interview: Reinhard Pohl
Das wahre Ausmaß des Massensterbens an den EU-Außengrenzen wird von offizieller Seite verschwiegen. Die Bürgerinnen und Bürger Europas sollen nicht erfahren, welche Tragödie sich rings um die Europäische Union täglich abspielt.
Wir wollen dieses Schweigen brechen, borderline-europe wird deshalb den Vertuschungsversuchen der Behörden mit präzisen Recherchen in den Grenzregionen entgegenarbeiten. Wir wollen Öffentlichkeit herstellen, um auf Basis zuverlässiger Informationen den tödlichen Konsequenzen dieser Abschottungspolitik entgegen zu wirken.
Denn menschenwürdige Lösungen lassen sich nur finden, wenn wir auch den Mut haben, uns der Realität zu stellen.
Was wir tun wollen:
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