(Gegenwind 243, Dezember 2008)
Am Mittwoch, dem 12. November, gingen bundesweit mehr als 100.000 Schülerinnen und Schüler unterstützt durch einige Eltern und Studierende auf die Straße. Allein in Schleswig - Holstein beteiligten sich gut 10.000 Schülerinnen und Schüler am Schulstreik. Rund 5000 in Kiel, mehr als 2000 in Lübeck und rund je 1000 in Stormarn, Husum und Niebüll.
Selbst die Vorbereitenden der Aktionen waren von diesem großen Zuspruch überrascht. Handelte es sich doch um eine Aktionsform, die von der jetzigen SchülerInnengeneration erstmalig ausprobiert wurde. Was hat zu so viel Frust bei den Schülerinnen und Schülern geführt, dass sie sich selbst durch Repressionsdrohungen einiger SchulleiterInnen und des Bildungsministeriums nicht davon abhielten ließen, so zahlreich ihren Protest während der Unterrichtszeit auf die Straße zu tragen?
Die Antwort liegt vor allem im neuen Schulgesetz, dessen Auswirkungen in den Schulen sichtbar und verstärkt wahrgenommen werden sowie im katastrophalen baulichen Zustand einiger Schulen. Auch die Einsicht, dass im heutigen Bildungssystem der zu erwartende Schulabschluss eines Kindes mit der sozialen Herkunft im Zusammenhang steht, spielt bei den Protesten eine - wenn auch kleinere - Rolle.
Das beschlossene Schulgesetz beinhaltet einige Punkte, die auf massive Kritik bei den Schülerinnen und Schülern stoßen:
Das Kurssystem wurde abgeschafft. Statt sich, wie bisher für Leistungskurse zu entscheiden, die den Neigungen und Interessen des Einzelnen entsprechen, müssen alle SchülerInnen bis zum Abitur Mathe, Deutsch und eine Fremdsprache belegen und sich in diesen Fächern prüfen lassen. Dieser Unterricht findet in Klassen mit teilweise über 30 Schülerinnen und Schülern statt. Außerdem müssen die SchülerInnen noch ein Profilfach wählen, in dem ebenfalls eine Prüfung erfolgt. Schulen sind allerdings nicht verpflichtet alle Profile anzubieten. Sie können sich für zwei der vier Profile entscheiden. Die Profile sind Gesellschaftswissenschaften, Musik/Kunst, Naturwissenschaften und Fremdsprachen.
Zusätzlich zu diesen vier Prüfungsfächern müssen sich alle Schülerinnen und Schüler noch für ein fünftes Prüfungsfach entscheiden, in dem sie mündlich geprüft werden. Neben der Erhöhung der Prüfungsfächer von vier auf fünf sind zentrale Prüfungen eingeführt worden. Die Abituraufgaben werden nicht mehr von den Lehrerinnen und Lehrern gestellt, die wissen was sie unterrichtet haben, sondern zentral vom Bildungsministerium für alle Schulen vorgegeben.
Das Gymnasium wurde von neun auf acht Jahre gekürzt. Der Lernstoff allerdings blieb der gleiche. Dies führt dazu, dass der Druck auf die Lernenden steigt. Die Erfahrungen in anderen Bundesländern zeigen, dass die Jugendlichen wegen des Lerndrucks weniger oder gar keine Zeit mehr für Freunde und Hobbys haben und verstärkt auf Nachhilfe angewiesen sind. Dieser Druck kann bis hin zu psychischen Erkrankungen gehen und führt zu verstärkter Auslese auf dem Gymnasium. Besonders SchülerInnen, denen kein Geld für Nachhilfe zur Verfügung steht, werden so noch stärker benachteiligt.
Der Sanierungsstau in den Schulen ist immens. Undichte Fenster, baufällige und zu kleine Klassenräume, viel zu kleine oder fehlende Mensen, veraltetes Schulmaterial und vieles weitere sind zum Alltag in den Schulen geworden. Da im Zuge des Schulgesetzes größere Klassen und regelmäßiger Nachmittagsunterricht eingeführt worden sind, hat sich die Situation an den Schulen noch einmal verschärft. Hinzu kommt ein unsäglicher Streit zwischen Land und Kommunen, wer die nötigsten Umbauten, die auf das neue Schulgesetz zurückzuführen sind, bezahlt. Eigentlich wäre hier das Land auf Grund des Konnexitätsprinzip in der Landesverfassung in der Pflicht. Dies besagt, dass die finanziellen Auswirkungen von Landesgesetzen auch vom Land getragen werden müssen. Die Entscheidung darüber, wer welche Kosten übernehmen muss, werden wohl Gerichte fällen.
Die PISA - Studie hat noch einmal deutlich gezeigt, dass in Deutschland der Erfolg von Kindern im heutigen Schulsystem maßgeblich von der sozialen Stellung der Eltern abhängig ist und viele SchülerInnen haben dies als Problem erkannt.
Auch die in Schleswig - Holstein beschlossenen Gemeinschaftsschulen werden daran wohl wenig ändern. Eine noch von Rot - Grün in Auftrag gegebene Studie des Bildungsexperten Ernst Rösner aus Dortmund meint dazu: "Auch wenn die Gemeinschaftsschule nicht binnen kurzer Zeit zu einem ersetzenden Regelangebot ausgebaut werden kann, ist es aus Sicht des Gutachters notwendig, politisch unmissverständlich deutlich zu machen, in welche Richtung die Entwicklung des Schulwesens in Schleswig - Holstein gehen soll. Klare Zielvorgaben erleichtern Entscheidungen der Schulen und Schulträger, gleichzeitig verhindern sie Fehlinvestitionen."
Das neue Schulgesetz dagegen ist von einer klaren Ansage, in welche Richtung sich die Schullandschaft in Schleswig - Holstein entwickeln soll weit entfernt. Vor allem an die Gymnasien traut sich das Bildungsministerium nicht heran. Und selbst die Gemeinschaftsschulen sind von den skandinavischen Vorbildern weit entfernt. Auch hier ist geplant Schülerinnen und Schüler spätestens nach Klasse 8 in vielen Fächern zu selektieren. Viele Gemeinschaftsschulen werden darüber hinaus gleich ganz ohne Oberstufe eingerichtet, so dass nicht davon auszugehen ist, dass sich die Zahl der SchulabsolventInnen mit Hochschulreife im nötigen Ausmaß erhöht.
Leider ist nicht zu erwarten, die Landesregierung ihre Politik kurzfristig ändert. Die erste Reaktion des bildungspolitischen Sprechers der SPD - Fraktion stützt diese Aussage. Er hält zum Beispiel die Verkleinerung von Klassen auf etwa 20 SchülerInnen für "nicht finanzierbar und aus unserer Sicht auch nicht pädagogisch sinnvoll". Die CDU steht den Forderungen der Schülerinnen und Schüler ohnehin mehr als skeptisch gegenüber.
Diese Tatsache und dass von den Streikenden am Streiktag schon angekündigt wurde, dass weitere Aktionen folgen werden, sollte sich an der Situation in den Schulen nicht grundlegend etwas ändern, sprechen sehr dafür, dass im kommenden Jahr noch größere Proteste folgen werden.
Die Aufgabe von linksdenkenden Menschen ist es, denke ich, nun die Proteste zu politisieren und weitergehende Forderungen einzubringen. Das kein Geld für unser Bildungssystem vorhanden scheint, hat ihre Ursache in zu niedrigen Steuern für Bestverdienende und in den immer weiter steigenden Militärausgaben.
Auch für die in der Protestbewegung umstrittene Forderung nach der Abschaffung der Gymnasien und der Einführung von Gemeinschaftsschulen nach skandinavischem Vorbild sollten wir selbstbewusst werben. Die soziale Kompetenz, die Kreativität und das eigene Denken der SchülerInnen müssen dabei im Vordergrund stehen, damit die Jugendlichen eine starke Persönlicjkeit entwickeln statt einzig für die Verwertung durch die Wirtschaft vorbereitet zu werden. Es muss außerdem zu einer Selbstverständlichkeit werden, dass SchülerInnen mit der Fähigkeit Wissen schneller aufzunehmen denjenigen helfen, die damit mehr Probleme haben und SchülerInnen verschiedener Schularten nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden.
Wenn die Proteste in größere Zusammenhänge eingeordnet werden, besteht die Chance eine nachhaltige Protestbewegung zu etablieren, die langfristig grundlegende Veränderungen erreichen kann. Dass die konsevativen Kräfte in diesem Land dies als eine große Gefahr betrachten, zeigen die Kommentare in einigen Zeitungen, in denen davor gewarnt wird, dass Schülerinnen und Schüler instrumentalisiert würden , wenn weitergehende Forderungen erhoben werden oder die Reaktionen von Junger Union und Teilen der SPD, die die Proteste am liebsten ganz verhindert hätten.
Ob diese Politisierung gelingt und nachhaltige Veränderungen erreicht werden können bleibt abzuwarten.
Björn Thoroe