(Gegenwind 240, September 2008)

Der Schleswig-Holsteinische Landtag muss sich bei den ehemaligen Heimkindern entschuldigen!

Das Schweigen ist gebrochen

Beide Fotos wurden uns von Otto Blunck zur Verfügung gestellt, der selbst in dem Heim leben musste. Dieses zeigt ihn Weihnachten 1970 im Besucherzimmer des Heims. Es ist aufgenommen worden von seinem Vater - entgegen einem ausdrücklichen Fotografierverbot.
Beide Fotos wurden uns von Otto Blunck zur Verfügung gestellt, der selbst in dem Heim leben musste. Dieses zeigt ihn Weihnachten 1970 im Besucherzimmer des Heims. Es ist aufgenommen worden von seinem Vater - entgegen einem ausdrücklichen Fotografierverbot.

Seit einigen Jahren haben ehemalige "Heimzöglinge" bundesweit damit begonnen, das Schweigen zu brechen und über die physische und psychische Gewalt in den Fürsorgeheimen der fünfziger und sechziger Jahre zu sprechen. Sie fordern eine Entschuldigung von den damals Verantwortlichen. Und sie fordern Entschädigung und eine Anrechnung der damals erzwungener Maßen geleisteten und nicht vergüteten Arbeit auf ihren Rentenanspruch.

Eines der schlimmsten Heime war das Landesfürsorgeheim Glücksstadt in Schleswig-Holstein - in Trägerschaft des Landes. Obwohl die meisten Jugendlichen hier nicht wegen krimineller Delikte eingewiesen wurden, herrschten gefängnisähnliche Zustände. In der Regel gab es keine ausgebildeten PädagogInnen in den Heimen, geschweige denn PsychologInnen. Neben der täglichen Gewalt waren auch Zwangsarbeit in lagerähnlicher Arbeitskleidung und Bestrafung in Isolierzellen an der Tagesordnung. Auch reduzierte Essensrationen waren als Sanktionsmaßnahme Teil der damaligen Erziehung.

Ein Protokoll des "Ausschusses für Volkswohlfahrt des Schleswig-Holsteinischen Landtages" aus dem Jahr 1969 lässt erahnen, welche Zustände damals in Glücksstadt herrschten. Ein Oberamtsrat aus dem damaligen Sozialministerium wird dort wie folgt wiedergegeben: "An den baulichen Zuständen könne nicht allzu viel geändert werden. Die Jugendlichen selbst, die einem sehr niedrigen Milieu entstammen, fühlten sich im Allgemeinen dort sehr wohl. Im ersten Vierteljahr werde der Jugendliche so in die Erziehung eingepasst, dass er nicht entfliehen könne. Denn diese schwerstgefährdeten Jugendlichen seien so verwahrlost, dass ihnen durch die modernen Erziehungsmethoden nicht geholfen werden könne. Deshalb sei in der ersten Stufe die Domestikation einfach erforderlich. Dass in dieser Zeit viel kaputt geschlagen werde, sei natürlich."

Glückstadt praktizierte die "harte Linie"

Erniedrigungen und Misshandlungen, Willkür und Machtmissbrauch sowie das Prinzip unter den Heimkindern gedemütigt zu werden oder andere zu demütigen, führten dazu, dass sich auch in Glücksstadt Suizidversuche häuften. So ist es kein Wunder, dass noch heute viele ehemalige Jugendliche unter den Spätfolgen der damaligen "Erziehung" leiden: Die Erfahrung physischer wie psychischer Gewalt und das Fehlen eines Bildungs- und Ausbildungsangebotes prägen die Lebensläufe dieser Menschen bis heute.

Im Jahr 1969 schrieb eine Fürsorgerin des Jugendamtes Pinneberg an das Landesjugendamt, dass die Zustände in Glücksstadt jeder Menschenwürde widersprächen. Im selben Jahr stellte die Heimaufsicht des Landesjugendamtes fest, dass das Einsperren der Zöglinge rechtswidrig sei und forderte, wegen mangelnder pädagogischer Einwirkungen keine Jugendlichen mehr nach Glücksstadt einzuweisen. Dennoch wurde das Heim in Glücksstadt erst 1974 geschlossen - weil es wirtschaftlich nicht mehr rentabel war! Die anderen Bundesländer, die ein Großteil der Belegung des Heimes sichergestellt hatten, wiesen kaum noch Jugendliche in das Landesfürsorgeheim Glücksstadt ein. Glücksstadt gehörte damit zu den letzten Heimen bundesweit, die die "harte Linie" praktizierten.

Schon nach damaligem Recht waren diese "Auswüchse" der Landesfürsorgeerziehung menschenrechtswidrig und meilenweit vom Stand der erziehungswissenschaftlichen Fachdiskussion überholt. Das beweisen Länder wie Hessen oder Rheinland-Pfalz. Hier wurde schon in den 40er Jahren ein striktes Verbot jeder körperlichen Züchtigung in öffentlicher Erziehung ausgesprochen. Schleswig-Holstein hat mit den begangenen Menschenrechtsverletzungen in der Landesfürsorge schwere Schuld auf sich geladen.

Dieses Foto stammt aus der Mitte der 60er Jahre. Es zeigt die Rückkehr von Heiminsassen von einer Sportveranstaltung, im Hintergrund Hafenanlagen von Glückstadt.
Dieses Foto stammt aus der Mitte der 60er Jahre. Es zeigt die Rückkehr von Heiminsassen von einer Sportveranstaltung, im Hintergrund Hafenanlagen von Glückstadt.

Schleswig-Holstein muss sich seiner Verantwortung stellen

Jetzt hat sich die schleswig-holsteinische Landesregierung an die Spitze der Bewegung gesetzt, einen Runden Tisch mit ehemaligen Heimkindern einberufen und in Zusammenarbeit mit der Universität Koblenz-Landau eine bewegende Dokumentation erstellt. Anhand einzelner Biographien wird das schwere Schicksal der damaligen Heimkinder und das begangene Unrecht deutlich. Jungen Menschen wurde - bildlich gesprochen - systematisch das Rückgrad gebrochen. Aktuell ist die Landesregierung dabei, die rund 7000 Akten zu archivieren. Außerdem bemüht sie sich um die Finanzierung einer Studie zur gründlichen Aufarbeitung der damaligen Landesfürsorgeerziehung. Das ist auch deshalb so notwendig, weil bisher ausschließlich Männer an die Öffentlichkeit getreten sind. Von den Schicksalen der jungen Mädchen, die auch in Glücksstadt untergebracht waren, ist bisher nichts bekannt.

Mit der Einberufung des Rundes Tisches unter Beteiligung der ehemaligen "Heimzöglinge" ist Schleswig-Holstein weiter als andere Träger der damaligen Heimerziehung. Bundesweit verweigern die meisten Träger - auch die Kirchen - einer Aufarbeitung der ehemaligen Heimerziehung. So gibt es bisher keine wissenschaftlichen Studien, keine Entschädigungszahlungen und in der Regel auch keine Entschuldigung bei den Opern für das begangene Unrecht.

Eine Ausnahme machte der Landeswohlfahrtsverband Hessen, ein Zusammenschluss der hessischen Landkreise und kreisfreien Städte, der im April 2006 einstimmig eine Resolution verabschiedete. In dieser spricht er den Opfern sein tiefstes Bedauern über die damaligen Verhältnisse in den landeseigenen Heimen aus und entschuldigt sich bei den ehemaligen BewohnerInnen, die körperliche und psychische Demütigungen und Verletzungen erlitten haben. Es ist gerade diese Form der Entschuldigung, die von den damaligen Opfern erwartet wird.

Ein ehemaliges Heimkind aus Westuffeln formuliert es wie folgt: "Vergebung ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg, das Leid, das einem Menschen zugefügt wurde, in sich zu lindern, es gar zu überwinden, denn Vergebung befreit und öffnet neue Horizonte." Ich finde dieser Satz beschreibt die Situation sehr treffend.

Die Opfer sind ohne Schuld

TraumatologInnen weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig eine Entschuldigung für die Opfer ist. Denn Opfer würden häufig die Schuld, die die TäterInnen nicht wahrnehmen, auf sich selbst beziehen. Erst wenn die (früheren) Verantwortlichen sich heute ihrer Verantwortung stellen und sich entschuldigen, gibt das den Opfern die Möglichkeit, das persönliche Schicksal zu bewältigen.

Verantwortlich für die Erziehung in Glücksstadt und anderen Heimen in Schleswig-Holstein war das Land. Deshalb hat die GRÜNE Landtagsfraktion einen Antrag in den Schleswig-Holsteinischen Landtag eingebracht, der das Land dazu auffordert, sich zur damaligen Verantwortung zu bekennen.

Wir appellieren an den Landtag und die Landesregierung, sich bei den ehemaligen Heimkindern für das damalige Unrecht zu entschuldigen: "Der Schleswig-Holsteinische Landtag bittet alle ehemaligen "Heimzöglinge", denen in den 50er, 60er, und 70er Jahren im Landesfürsorgeheim Glücksstadt und vergleichbaren Einrichtungen durch Zwangsverwahrung, menschenunwürdige Behandlung und Zwangsarbeit Unrecht geschehen ist, um Vergebung", so der Antragstext.

Mit unserem Landtagsantrag wollen wir außerdem deutlich machen, dass fast drei Jahrzehnte lang in Verantwortung des Landes eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die aus heutiger Sicht erschütternd und menschenrechtswidrig ist. Wir wollen auch Druck auf den Petitionsausschuss des Bundestages ausüben, damit er zügig eine bundeseinheitliche Lösung für finanzielle Ansprüche findet. Angesichts bestehender rechtlicher Hindernisse sollte der Ausschuss zwingend auch die Möglichkeiten einer Stiftungslösung prüfen. Wir halten es als Minimum für erforderlich, dass bei der Rentenbemessung die geleistete, erzwungene Arbeit berücksichtigt wird.

Grüne werben für gemeinsame Entschließung des Landtages

Die Plenardebatte des Schleswig-Holsteinischen Landtags im Juli dieses Jahres hat deutlich gemacht, dass der Weg zu einer gemeinsamen Entschließung aller Fraktionen noch weit ist. Bislang gibt es keine Einigung über die Notwendigkeit von Entschädigungsleistungen. Es gibt auch keine einheitliche Zustimmung für eine grundsätzliche Entschuldigung bei den ehemaligen Opfern - und das ist aus meiner Sicht erschreckend. Im Gegenteil: der FDP-Fraktionsvorsitzende Kubicki sprach sich entschieden dagegen aus. Seine Argumentation: "Wer um Vergebung bittet, hat Schuld auf sich geladen und das weise ich für dieses Haus zurück. Ich betone: Wir bedauern zutiefst die Vorgänge in der Landesfürsorgeeinrichtung Glückstadt. Aber eine Schuld an den damaligen Vorgängen trifft uns nicht."

Im Herbst wird der Landtag weiter beraten. Dann soll ein Bericht der Landesregierung, den der Landtag jetzt angefordert hat, vorliegen. Ich hoffe, dass sich dann noch etwas bewegt. Ich würde es als eine weitere Demütigung für die Betroffenen und eine Schande für den Landtag empfinden, wenn wir es nicht schaffen, die Opfer gemeinsam um Vergebung für das damals begangene Unrecht zu bitten. Nicht als Personen, nicht als unmittelbare TäterInnen, sondern als RepräsentantInnen des Landes Schleswig-Holstein. Denn das Land war und ist, als ehemaliger Träger des Landesfürsorgeheimes Glücksstadt, verantwortlich für das Unrecht, das im Auftrag des Landes geschehen ist.

Die aktuelle Debatte sollte uns mahnen, dass das Wegsperren und die Demütigung junger Menschen nicht (wieder) Teil unserer Pädagogik werden darf. "Boot-Camps" amerikanischer Prägung sind definitiv keine Perspektive für unser Land.

Monika Heinold
Kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen

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