(Gegenwind 240, September 2008)
Pünktlich zur Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking, traditionell auch der Beginn des "olympischen Friedens", griff die georgische Armee an: Die hierzulande weitgehend unbekannte Stadt Zchinwali (Tckhinvali) war das Ziel, sie wurde fast vollständig zerstört, mehrere Tausend Menschen getötet, mehr als 30.000 Menschen vertrieben.
Zchinwali ist die Hauptstadt von Südossetien, wo Präsident Eduard Kokoity ein kleines Gebiet von rund 3500 qkm mit einer Restbevölkerung von 75.000 Menschen regiert. Es gibt allerdings genug Hinweise, die darauf hindeuten, dass hier ein kleines exterritoriales Gebiet für russische "Geschäftsleute" aller Art existiert, so soll es dort Druckereien für Geldscheine verschiedener Währungen außerhalb des Zugriffs von Interpol geben.
Die Osseten, ein persisches Volk christlichen Glaubens, wurde vor über tausend Jahren vom Nordufer des Schwarzen Meeres in den Kaukasus vertrieben. Zwei Drittel von ihnen leben nördlich der Kaukasus-Gipfel, ein Drittel südlich davon. Zur Zeit der Sowjetunion war dies kein großes Problem, gab es doch eine kulturelle Autonomie. Erst als die Sowjetunion sich auflöste und die Gipfel des Kaukasus eine neue internationale Grenze bilden sollten, entstand eine ossetische Bewegung gegen die Zugehörigkeit zum neuen Nationalstaat Georgien. Südossetien erklärte seine Unabhängigkeit 1989, Georgien erst 1991 - und Georgien erhob als Republik Anspruch auf das Gebiet, das auch zur Zeit der Sowjetunion als "Sozialistische Sowjetrepublik Georgien" bekannt war. Allerdings hob Georgien als erste Maßnahme die Autonomie für alle Minderheiten auf und agierte damit ähnlich kurzsichtig wie Serbien, Aserbaidschan, Estland, Lettland und Litauen.
Die staatliche Konsolidierung betrieb Georgien 1992 mit Gewalt, und Russland unterstützte Ossetien. Das Ergebnis war ein Waffenstillstand und eine De-Facto-Unabhängigkeit Südossetiens, deren georgisches Drittel der Bevölkerung nach Süden floh. Für die Unterstützung der ossetischen Unabhängigkeitsbestrebungen durch Russland bedankte sich Georgien mit der Unterstützung Tschetscheniens, deren Kämpfer sich häufig nach Georgien zurückziehen konnten. Als Russland nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 energisch darauf bestand, tschetschenische Freiheitskämpfer wären identisch mit Al Qaida-Terroristen, holte sich Georgien US-Truppen ins Land, die zu gerne unter dem Deckmantel der Terrorismus-Bekämpfung an der Grenze Russlands Informationen sammeln. Sie übernahmen auch gleich die Aufrüstung der Armee, die bis heute von türkischen Ausbildern geführt wird.
Georgien ist (noch) Mitglied der GUS, will aber in die NATO und in die EU. Die EU vertröstet auf einen Termin jenseits des Jahres 2020, in der NATO fand Georgien die USA mit Polen und baltischen Staaten als Fürsprecher, dagegen Deutschland und Frankreich als Gegner einer Mitgliedschaft.
In dieser Situation versuchte Georgien am 8. August anscheinend ohne Absprache mit den USA und der Türkei, Südossetien mit einem Überraschungsangriff zurück in den Staatsverband zu holen.
Die georgische Version klingt anders. Danach erfuhr man am 8. August, dass Russland gerade damit begann, starke Armeeeinheiten von Nordossetien aus in Richtung Süden in Marsch zu setzen. Danach rollten die russischen Panzer schon, bevor man mit dem Beschuss Ossetiens begann.
Ob das stimmt oder nur ein Vorwand ist, werden wir nicht herausfinden. Sicher ist: Russland verlegte schnell rund 25.000 Soldaten mit mindestens 500 Panzern nach Georgien, errichtete eine Seeblockade und leitete Bombardierungen mit strategischen Bombern auf vorher festgelegte Ziele ein. Es gab einen Plan, der nur umgesetzt werden musste.
Ziele waren nicht nur die georgische Armee und Luftwaffe, Ziele war ein Erdöl-Verladehafen am Schwarzen Meer und die BTC-Pipeline, die die Erdölförderung Aserbaidschans in Baku mit dem türkischen Hafen Ceyhan am Mittelmeer verbindet. Das ist der einzige Korridor, über den Erdöl und künftig auch Erdgas vom Kaspischen Meer an Russland vorbei in den Westen verkauft wird. Aserbaidschan verstand die Warnung sofort und kündigte bereits am 10. August an, bis auf Weiteres Erdöl nur noch über Russland zu exportieren.
Russland gewann den Krieg innerhalb von Stunden. Die georgische Armee hatte kein Rezept außer der Flucht, die georgische Regierung verschickte Hilferufe in alle Welt und musste feststellen, dass niemand einem Angreifer helfen mag. Die Grenzen bleiben also wie sie sind, Georgien hat 100.000 Flüchtlinge mehr und ist in seiner wirtschaftlichen Entwicklung um rund 10 Jahre zurückgeworfen.
Warum Georgien angriff, ist bis heute nicht klar. Der "drohende" russische Angriff ist unwahrscheinlich - sollte er geplant gewesen sein, hätte Georgien international glänzend dagestanden, hätte es ihn abgewartet und dann international um Hilfe gerufen. Eine geheime US-Zusage, nach den ersten Rückschlägen hilfreich einzugreifen oder türkische Truppen zu schicken, ist ebenso unwahrscheinlich. Die US-Regierung zeigte sich gänzlich unvorbereitet und sprechunfähig. Die späte Äußerung von Präsident Bush, die russische Reaktion wäre "überzogen" oder "übertrieben", zeigt auch, dass die US-Regierung Georgien als Aggressor und eine russische Reaktion für grundsätzlich legitim hielt und hält.
Spekulationen wurden von "n-tv" und der Heinrich-Böll-Stiftung ins Spiel gebracht: Da Präsident Saakashvili mit offenen Konflikten um die nicht anerkannte Unabhängigkeit zweier Provinzen nicht in die NATO kann, aber auf die beiden Provinzen nicht verzichten kann, ohne seinen Job zu riskieren, wollte er Südossetien und die zweite separatistische Provinz Abchasien vielleicht mit einem spektakulären Kurz-Krieg loswerden, um der eigenen Bevölkerung den fälligen Verzicht besser "verkaufen" zu können.
Dagegen scheinen die russischen Motive für den gut vorbereiteten und überharten Gegenschlag klarer: Russland will weltweit demonstrieren, welche Gebiete des nahen Auslands nicht ungestraft NATO-Truppen an die russischen Grenzen holen. Außerdem hatte Russland 500 Soldaten als "Friedenstruppe" in Südossetien stationiert, und zwar mit UNO-Mandat, die nicht ungestraft angegriffen werden dürfen, wollen sie nicht unglaubwürdig werden.
Russland kümmert sich seit einiger Zeit auch wieder stärker darum, unabhängige Öl- und Gasexporte vom Kaspischen Meer zu verhindern. Während die BTC-Pipeline ungefähr ein Prozent des Weltverbrauchs von Baku über Tiflis ans Mittelmeer transportiert, ist als neues Projekt eine Gaspipeline namens "Nabucco" geplant, die via Georgien und Türkei Erdgas ins Zentrum der EU befördern soll. Fast parallel plant Russland eine Gaspipeline quer durch das Schwarze Meer namens "South Stream", das Zwillingsprojekt von Gerhard Schröders "North Stream" durch die Ostsee nach Mecklenburg-Vorpommern. Die beiden Pipelines im Süden leiden darunter, dass es ohne den Iran zu wenig Gas gibt, um beide zu füllen. Da bot sich an, Aserbaidschan bei der Gelegenheit durch einige Bomben rechts und links der existierenden Pipeline zu demonstrieren, wie sinnvoll eine Zusammenarbeit mit Russland sein kann. Freundlicherweise unterstützte die PKK diese Lektion, indem sie gleichzeitig die BTC-Pipeline auf türkischen Gebiet sprengte.
Das dritte Motiv Russlands heißt Karabach. Diese dritte separatistische Provinz im Südkaukasus hat sich bereits 1988 unabhängig gemacht. Das drei Jahre später unabhängig gewordene Aserbaidschan reklamiert mit Hinweis auf die Grenzen der Sowjetrepublik Karabach für sich, hat allerdings auch 1991 als erstes Zeichen der neuen Unabhängigkeit alle Autonomie- und Minderheitenrechte abgeschafft und die gesamte christlich-armenische Minderheit vom beherrschten Teil des Staatsgebietes vertrieben. Karabach hat sich 1991 bis 1994 in einem Krieg, den Aserbaidschan ebenfalls zur Konsolidierung des eigenen Staatsgebietes führte, behaupten können - mit einer kleinen, aber sehr schlagkräftigen Armee gegen relativ ungeordnete und von Korruption zersetzten aserbaidschanischen Streitkräfte, denen eine nominell zwanzigfache Überlegenheit genauso wenig nützte die die anfängliche russische Unterstützung. Inzwischen hat Russland die Seiten gewechselt und unterstützt Karabach und dessen "Schutzmacht" Armenien, so wurden die aus Georgien von gekündigten Stützpunkten abgezogenen russischen Armee- und Luftwaffeneinheiten nicht nach Russland zurück gezogen, sondern nach Armenien verlegt. Für die Grenzen Armenien und indirekt auch Karabachs garantiert Russland, was Touristen in Eriwan an der oftmals relativ unfreundlichen russischsprachigen Passkontrolle bemerken. Hier schien für Russland eine deutliche Demonstration der Stärke am georgischen Objekt sinnvoller als ein zweiter Krieg in Aserbaidschan, das in letzter Zeit mehrfach angekündigt hat, Karabach mit einem "Blitzkrieg" in den Staatsverband zu holen.
Die Auflösung der Vielvölkerstaaten Jugoslawien und Sowjetunion haben eine Reihe von neuen Nationalstaaten geschaffen, die Minderheiten und ihre Rechte nicht angemessen mit verwalten können. Das betrifft Kosova und die verschiedenen Gebiete Bosniens, aber auch Transnistrien, Tschetschenien, Abchasien, Südossetien, Karabach und andere. Ein alter Konflikt auf Zypern ist inzwischen in die EU geholt worden.
Die einfache Ansage, innersowjetische und innerjugoslawische Verwaltungsgrenzen der Einfachheit halber als Staatsgrenzen zu übernehmen, empfinden Minderheiten als ungerecht. Mit der Unabhängigkeit von Kosova hat die NATO jetzt erstmals das Recht auf Sezession anerkannt, ohne logisch zu erklären, warum das anderen Minderheiten verweigert wird und warum auch hier eine alte Verwaltungsgrenze die Staatsgrenze sein muss, schließt sie doch jetzt eine serbische Minderheit im Norden Kosovas mit ein. Russland will Osseten und Abchasen eine Abspaltung zugestehen, die den Tschetschenen blutig verweigert wird. Die Türkei unterstützt auf Zypern das Recht auf Abspaltung, will aber Aserbaidschan in der prinzipiellen Ablehnung jeder Separation unterstützen, die auch im eigenen Staat Kurden blutig verweigert wird.
Deutschland unterstützt Kosova bei der Abspaltung, erkennt allerdings das "Recht" Georgiens und Russlands an, Abspaltungen zu verhindern. Beim Konflikt um Karabach verhält sich die Bundesregierung neutral. Aller drei Haltungen werden mit "völkerrechtlichen Prinzipien" erklärt, die man erkennbar weder hat noch einhält.
So bleibt wieder mal das Resümee, dass auch während dieses Krieges die Nachrichten im Wirtschaftsteil der Zeitungen, wo es um den aktuellen Erdölpreis ging, wesentlich klarer erläutert wurden als im politischen Teil.
Reinhard Pohl