(Gegenwind 233, Februar 2008)

Eine Jüdin in Rendsburg während der Nazi-Zeit

"...in ewiger zermürbender Furcht vor Verfolgung und Verhaftung"

Lieselotte am Fenster schreibend
Lieselotte am Fenster schreibend

Die Verfasserin zog Juni 2007 nach Rendsburg und hat in ihrem Haus Briefe, Fotografien und Dokumente der damaligen Besitzerin gefunden. Diese haben sie so interessiert, dass sie dieser Geschichte nachgegangen ist.

"Ich weiß nicht, ob es die Hitze ist oder die Unfruchtbarkeit meiner Gedanken, oder das Alleinsein, oder wieder der Nachtbetrieb, dass mir alles so schal und unwichtig erschienen ist, dieser ganze Großstadtbetrieb, dieses Hetzen nach Geld, nach Autos, schönen Frauen. Ich habe einfach Sehnsucht nach dem Land, nach beschaulicher Ruhe und nach sehr viel Liebe. Ich kann das natürlich alles nicht so ausdrücken, aber Du verstehst es schon, mein ferner Liebster! Ich will und muss einfach glauben, dass Du mich verstehst - wer denn sonst?"

Diesen Brief schrieb Lieselotte S. am 9. Juni 1938 aus Frankfurt/M. an ihren Verlobten Will H., den sie 1936 in Rostock kennen gelernt hatte. Er ist einer von zahlreichen Briefen, die aus der Zeit zwischen 1936 und 1946 erhalten geblieben sind, Briefe, die sie aus verschiedenen Orten Deutschlands abgeschickt hatte.

Lieselotte im Strandkorb
Lieselotte im Strandkorb

Lieselotte S. wurde 1910 in Hamburg geboren. Sie war nach eigener Aussage "Volljüdin", der Vollständigkeit halber muss aber erwähnt werden, dass sie keinen Nachweis über die Herkunft ihrer Mutter erbringen konnte. Ihr Vater Abraham S. wurde um 1870 in Hamburg geboren, war Schauspieler und ist laut Sterbeurkunde 1937 in Stettin gestorben. Lieselotte S. schrieb 1946 in ihrem Antrag beim "Amt für Wiedergutmachung", einer Geschäftsstelle des Landrats Rendsburg, dass er wenige Tage nach der Vernehmung durch die Gestapo starb.

Als Jüdin musste Lieselotte S. unerkannt leben und immer wieder ihre Spuren verwischen. Den ersten Brief aus der "Ferne" schrieb sie am 13. Juni 1936 aus Timmendorfer Strand, unter anderem wohnte sie auch in Rostock, Erfurt, Frankfurt/M., Düsseldorf und Husum, immer nur zur Untermiete. Ihren erlernten Beruf als Schauspielerin konnte sie nicht mehr ausüben. Sie nahm nur Arbeit in Betrieben an, "die nicht genau nach den Papieren fragten" und verdingte sich u.a. mit Schreibarbeiten und als Bardame:

"Die Nächte in unserer Bar sind scheußlich. 6 Bardamen und der Chef warten von 9 - oft 2 Uhr auf den ersten Gast und erst beim Eintritt dieses ersten armen Opfers beginnt die Kapelle mit ihren »lustigen Weisen«, zwingen wir uns alle, vor Langeweile schon müde geworden, zu äußerster Lustigkeit, rennen die Ober, die ja trotzdem nichts zu tun haben, strahlend und geschäftig hin und her. Du siehst schon, ich habe einen Fehlgriff getan, das Geschäft läuft sehr, sehr schlecht. Finanziell aufgebaut ist das Ganze auf 2, 3 Leute, die allerdings wohl auch schon mal mehrere hundert Mark ausgeben, zu Nutzen und Frommen des Chefs und der einen Glücklichen, die diesen Gast hat. Alle übrigen dürfen zusehen und - - »lächeln meine Damen! Lächeln!!« Dieser allesseligmachende Gast wird dann mit allem Krampf bis 7 Uhr aufgehalten, und wir natürlich alle mit. Vor 6 Uhr morgens bin ich jedenfalls noch nicht heimgekommen."
Lieselotte mit Sohn Frank
Lieselotte mit Sohn Frank

1931 heiratete sie den jüdischen Kaufmann Hermann M., 1932 wurde Sohn Frank geboren. Diese Ehe wurde kurze Zeit später wieder geschieden. Ihren Sohn brachte sie - wie sie glaubte - in Sicherheit zu ihren Großeltern nach Stettin, bevor sie ihre Odyssee durch das Deutsche Reich begann. Sie sollte nie mehr erfahren, ob ihr Sohn und ihre Großeltern den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten zum Opfer gefallen oder doch entkommen waren. Ihr sechs Jahre älterer Bruder Kurt S. war bis 1933 Redakteur bei der Stettiner sozialdemokratischen Zeitung. 1933 fand die Geheime Staatspolizei bei Kurt S. "belastendes Schriftgut", das zur sofortigen Verhaftung führte. Bei der Flucht stürzte sich Kurt S. aus dem zweiten Stock des Gefängnisses in den Hof. Mit gebrochenen Gliedern kam er ins Krankenhaus, der rechte Arm musste amputiert werden. Später gelang es ihm, mit Hilfe von Freunden seiner Partei erneut aus dem Gefängnis zu fliehen und sich über die Tschechoslowakei nach Schweden in Sicherheit zu bringen. 1946 hatte Lieselotte S. nach acht Jahren wieder ein Lebenszeichen von Kurt erhalten. Die letzten vorhandenen Briefe aus der Korrespondenz zwischen Lieselotte und Kurt S. stammen aus dem Jahre 1952. Er lebte in der Nähe von Stockholm mit Frau und Sohn und verdiente sich sein Brot als Archivar in einem sozialwissenschaftlichen Institut. In seinen Briefen hatte er mehrmals geschrieben, dass er nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wolle.

1946 hatte sie ihre neue Heimat in Rendsburg gefunden. Endlich konnte sie ihren Mann heiraten. Er war bereits zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens Architekt und arbeitete vor und während des Krieges bei Fa. Beggerow in Rostock, später als "BauPi"-Soldat, also Baupionier unter anderem in den Kasernen Berlin-Karlshorst, Schleswig und Rendsburg (Eiderkaserne und Stellungsbaustab der Lornsenschule). Lieselotte kam Ende 1945 aus Husum nach Rendsburg, und vermutlich war der letzte Aufenthalt von Will H. ausschlaggebend für die endgültige Niederlassung in Rendsburg. 1950 baute Will gemeinsam mit zwei Familien ein Dreifamilienhaus im Rendsburger Ortsteil Hoheluft. 1951 bezogen Lieselotte und Will das zunächst noch als "Palazzo Fiasco" bezeichnete Haus.

Von 1947 an erhielt Lieselotte S. als "Wiedergutmachung" vom Kreissonderausschuss Rendsburg nach Absprache mit der Jüdischen Wohlfahrt Kiel "Lebensmittelkarten für Schwerarbeiter", eine "vorzugsweise Zustellung einer Zweizimmerwohnung" sowie - später - Steuerermäßigung. Damit war sie als "rassepolitisch Verfolgte" anerkannt. Wie sehr sie darunter gelitten hatte, bezeugen ihre Zeilen an die britische Militärregierung vom 21.1.1947:

"Ich selbst entzog mich den damaligen allgemeinen Judenverfolgungen durch ständigen Wechsel meines Wohnortes. 12 Jahre lang befand ich mich sozusagen auf der Flucht und in ewiger zermürbender Furcht vor Verfolgung und Verhaftung. Eine Heirat mit meinem Verlobten war 10 Jahre lang unmöglich. Ich konnte weder eine Familie noch ein Heim haben. Auch beruflich war ich schwer geschädigt, da ich nie eine meinen Kenntnissen und meiner Ausbildung entsprechende Stellung annehmen konnte, sondern auf Gelegenheitsarbeit, wo nicht nach Papieren gefragt wurde, angewiesen war. Dadurch dass das oft auch nicht möglich war, ging es mir finanziell manchmal sehr schlecht.
Durch diese schrecklichen persönlichen Erlebnisse sind meine Nerven völlig verbraucht und meine Gesundheit schwer geschädigt."

Lieselottes Mann starb 1978, sie folgte ihm sechs Jahre später. In der Nachbarschaft waren ihre Erfahrungen als Jüdin im Dritten Reich weitgehend unbekannt.

Verena Fink

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