(Gegenwind 233, Februar 2008)
Anfang Dezember 2007 wurde das Ergebnis einer vom Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Auftrag gegebenen Fall-Kontroll-Studie veröffentlicht. Die Studie "Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken" oder KIKK-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder unter 5 Jahren mit zunehmender Nähe zu einem der 16 deutschen Standorten von Atomkraftwerken einem steigenden Leukämierisiko ausgesetzt sind.
Mit der Durchführung der Studie wurde das Deutsche Kinderkrebsregister (DKKR) der Universität Mainz beauftragt. In zwei vorangegangenen Studien in den 1990er Jahren hatten die dortigen WissenschaftlerInnen festgestellt, dass es keinen statistischen Zusammenhang zwischen der Zahl der Kinderkrebserkrankungen und den deutschen AKW-Standorten gebe.
Mit der unter Beobachtung einer externen Expertenkommission, in der auch das atomkritische Umweltinstitut München vertreten ist, durchgeführten dritten Studie müssen die Mainzer WissenschaftlerInnen ihre bisherigen Ergebnisse korrigieren.
ExpertInnen, die sich schon lange mit dem Thema Kinderkrebserkrankungen im Umfeld von Atomanlagen beschäftigen, sind vom Ergebnis der KIKK-Studie nicht überrascht, stimmen sie doch mit Aussagen internationaler Studien, welche in den USA, Kanada, Japan, Frankreich und Spanien durchgeführt wurden, überein.
Im Gegensatz zu anderen ExpertInnen sieht die Mainzer Wissenschaftlerin und Mitautorin der KIKK-Studie Prof. Dr. Maria Blettner im Studienergebnis keine Erklärung für ein erhöhtes Leukämierisiko (sie führte schon zwei Studien mit jetzt nicht mehr haltbaren Ergebnissen durch). Sie meint anhand der Studie nicht nachweisen zu können, dass Leukämien durch die Strahlenbelastungen von AKW ausgelöst worden sind. Ihrer Meinung nach ist das Wissen über Risikofaktoren für die Auslösung von Krebs und Leukämien zu gering. In Frage dafür können genetische Veranlagungen, diverse Umwelteinflüsse u.v.a.m kommen. Ihrer Ansicht nach besteht kein Anlass zur Panik, gibt es doch eine jährliche Erkrankungsrate von 5 bei 100.000 Kindern. "Außerdem", so merkt sie in einem Interview mit einer Tageszeitung an, "ist Leukämie bei Kindern inzwischen sehr gut heilbar". (Wie mag diese Aussage in den Ohren der betroffenen Kindern und Jugendlichen klingen - sofern sie überlebt haben?)
Das Bfs hält die Ergebnisse für "robust". "Nach bisheriger Prüfung ist kein Fehler beziehungsweise Irrtum bei der Entwicklung des Studiendesigns noch bei der Gewinnung und Analyse der Daten erkennbar, der den beobachteten Effekt erklären könnte", so Wolfram König, Präsident des BfS. "Die Studie stellt den entscheidenden Fortschritt bei der Beantwortung der seit etwa 30 Jahren diskutierten Frage nach gesundheitlichen Effekten in der Umgebung von Reaktoren dar."
Bundesumweltminister Gabriel und die CDU-Abgeordnete Reiche zweifelten umgehend die Meinung des BfS an. Sie sind der Ansicht, dass die Tatsache, dass die in der Strahlenschutzverordnung festgelegten Grenzwerte beim Betrieb der Atomreaktoren nicht überschritten werden, ein Beweis dafür ist, dass keine Gefahr von ihnen für die menschliche Gesundheit ausgehen kann.
Die Strahlenschutzverordnung wurde zwar mehrfach modifiziert, beruht aber auf den Daten der 1950er Jahre.
1958 schlug die Internationale Strahlenschutzkomission einen Grenzwert von 5 rem Strahlenbelastung durch Atomkraftwerke - verteilt auf 30 Jahre - vor. 30 Jahre waren der Zeitraum, in dem sich die meisten Menschen (damals) fortgepflanzt hatten. 5 rem Strahlenbelastung wurden nicht begründet mit gesundheitlichen Erwägungen, vielmehr stellte man fest, dass eine "beträchtliche Belastung" durch genetische Schäden zu erwarten sei. Diese seien aber "vertretbar" im Vergleich zum gesamtgesellschaftlichen Nutzen, der von der Atomkraft zu erwarten sei.
Kaum jemand weiß, dass die bundesdeutsche Strahlenschutzverordnung, auf die sich unser Umweltminister bezieht, auch heute noch auf diesen Daten beruht!
1969 empfahl die deutsche Atomkommission, die Grenzwerte von 5 rem auf 2 rem in 30 Jahren zu senken, um auch andere Strahlenquellen wie Röntgenuntersuchungen berücksichtigen zu können. Das entspricht etwa dem heute noch geltenden Grenzwert von 0,6 Milisievert (mSv) pro Jahr. Diese Empfehlung berücksichtigt einzig und allein Erbgutschäden an Keimzellen. Zum Schutz vor möglichen Krebserkrankungen ist dieser Wert vollkommen inakzeptabel - an Krebsrisiken dachte 1969 noch niemand.
Atomkraftwerke blasen strahlende Teilchen wie Tritium, radioaktiven Wasser-und Kohlenstoff in die Luft und pumpen sie in die Gewässer. Kommen defekte Brennelemente hinzu, treten außerdem radioaktive Edelgase aus dem Schornstein aus. Niemand weiß, welche Auswirkungen dieser radioaktive Cocktail auf die menschliche Gesundheit hat.
Indizien häufen sich, dass Atommeiler die Krebsrate in die Höhe treiben.
In der Elbmarsch um die Atomanlagen in Geesthacht hat man bei Blutuntersuchungen der Anwohner dizentrische Chromosomen entdeckt. Solche Anomalien sind ein Beispiel für starke Strahleneinwirkung. Ein Befund, der dafür spricht, dass im Raum Krümmel zumindest phasenweise eine erhöhte Strahlenbelastung aufgetreten ist, allen anders lautenden Behauptungen zum Trotz.
Es scheint klar zu sein, dass die deutschen Strahlenschutzgrenzwerte offensichtlich zu hoch angesetzt sind, denn weitgehend unstrittig unter ExpertInnen ist die Meinung, dass es für gesundheitliche Auswirkungen von Radioaktivität keinen Schwellenwert gibt.
Prof. Dr. Inge Schmitz-Feuerhake: "Jede noch so kleine Dosis ionisierender Strahlung kann Schäden an einer Zelle verursachen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Treffer kommt, steigt mit der Häufigkeit oder der Dauer der Exposition."
Jutta Freybe