(Gegenwind 232, Januar 2008)

Bildung braucht Fachkräfte mit Migrationshintergrund

Interkulturelles Lernen ist nicht selbstverständlich

2007 - Berlin: Zur Empörung der deutschen Kultusministerkonferenz stellte Vernor Muñoz Villalobos, der im Auftrag der UNO das deutsche Schulwesen inspizierte, fest: Das deutsche Schulsystem diskriminiert, und es diskriminiert besonders Kinder aus bildungsfernen Schichten, die zusätzlich noch einen Migrationshintergrund haben. Dies haben auch die jüngsten Ergebnisse der PISA-Studie bestätigt.

Dieser Sachverhalt kann nicht verwundern, denn interkulturelles Lernen ist überall in Deutschland, so auch in Schleswig Holstein, längst noch nicht selbstverständliche Praxis. Noch seltener als anderswo gibt es hierzulande regulär beschäftigte LehrerInnen und ErzieherInnen mit Migrationshintergrund. Die wenigen vorhandenen Fachkräfte erfahren Kinder und Eltern als gewinnbringende Hilfe, als Brücke zur Integration und zum Schulerfolg. Eltern und Kinder sehen aber auch die prekäre Lage gerade dieser Fachkräfte im deutschen Bildungssystem. Solche Vorbilder zur Integration senden auf diese Weise sehr widersprüchliche Botschaften.

Hier zwei typische Beispiele. Beide sind der Autorin persönlich bekannt.

2001 - Kiel

Herr H. spricht Deutsch wie ein Nachrichtensprecher. Häufig wird er darauf angesprochen, wo er als Türke so gut Deutsch gelernt habe. Dann verweist er auf sein Deutschstudium in der Türkei und seine Tätigkeit als Deutschlehrer dort und seine Kooperation mit dem Goethe-Institut. Ihn schmerzt es, wenn er hört, wie arm der deutsche Wortschatz vieler türkischer Kinder in Kiel ist, und dass diese Kinder oft genauso verstümmelt türkisch oder kurdisch sprechen. Schon lange engagiert er sich daher in seiner Freizeit in einem türkischen Verein in Kiel-Gaarden, macht Sport mit Jugendlichen, bringt ihnen bei, mit dem PC vernünftig umzugehen und Bewerbungsschreiben aufzusetzen. Gern würde er seinen Job in der Computerbranche aufgeben und endlich wieder als Lehrer arbeiten, zum Beispiel an einer Berufsschule. Inzwischen trifft er sich bei der AWO in einem Kreis von türkischen KollegInnen in ähnlicher Lage, die sich für interkulturelle Bildung einsetzen. Es gibt ihn schon viele Jahre, aber einen Angestelltenvertrag als LehrerIn hat niemand, denn das Bildungsministerium in Schleswig Holstein verweist immer nur auf die bisherigen mangelhaften Abkommen mit der Türkei. Demzufolge wird die gesamte Deutschlehrerausbildung von Herrn H. in der Türkei nur als Abitur anerkannt.

Foto: photocase/mareczko
Foto: photocase/mareczko

2004 - Kiel

Frau L. war stolz. Wieder hatte sie durch ihren Unterricht in einer Kieler Hauptschule eine Klasse, davon die Hälfte mit russischer Muttersprache, erfolgreich zum Abschluss gebracht. Diese Erfolge hätte vor fünf Jahren, als sie mit Deutschförderunterricht begann und dann nach und nach auch immer mehr regulären Unterricht übernahm, den jungen Leuten niemand zugetraut. Sie schon! Denn dies waren nicht die ersten, denen sie zu guten Schulabschlüssen verholfen hatte. Ihre solide pädagogische Ausbildung, ihre langjährige Unterrichtspraxis in der früheren Sowjetunion, und die Jahre, die sie als angestellte Deutschlehrerin in Hamburg gearbeitet hatten, ließen sie bisher den Zugang zu jeder Generation junger Russlanddeutscher finden - und zu ihren Familien. Mit Hausbesuchen baut sie Vertrauen auf, damit die Kinder und ihre Eltern an einen Schulerfolg in der neuen Heimat tatsächlich glauben.

Leider stellt die Bundesregierung die besondere Förderung für Russlanddeutsche ein. Frau L. sieht dies mit Sorge, denn dies bedeutet keine Vergütung für die Hausbesuche und für ihre Unterrichtstätigkeit. Eine Unterrichtstätigkeit, die offiziell nur als Förderunterricht, Jahr für Jahr immer wieder neu mit einem Stundenvertrag beantragt und genehmigt werden muss, obwohl sie inzwischen im Kollegium längst eine volle Stelle ausfüllt und sich für ihre Schule mindestens so einsetzt wie die langjährigen BeamtInnen. Das sieht das Kollegium auch so, ebenso die Eltern und der Rektor. Schon verschiedene Male hatte er Vorstöße beim Ministerium unternommen, um sie endlich als Lehrerin anstellen zu können. Die wegfallenden Bundesmittel sind für ihn erst recht der Anstoß, um eine konzertierte Aktion von Briefen an Landtagsabgeordnete und Medienöffentlichkeit für die Einstellung von Frau L. zu initiieren.

Doch alles vergeblich. Selbst nach dem die Kultusministerin auf Vermittlung der GRÜNEN ein persönliches Gespräch mit Frau L. und weiteren Deutschlehrerinnen aus dem heutigen Russland geführte hatten, bleibt sie bei ihrer Haltung: Die Einstellung als Lehrerin sei völlig unmöglich. Zur Anerkennung der Ausbildung und Unterrichtspraxis aus der Sowjetunion existiere keine entsprechende internationale Vereinbarung. Daher müssten Frau L. und ihre Kolleginnen für eine reguläre Anstellung das erste und das zweite Staatsexamen erwerben und zwar durch ein Studium und Referendariat. Förderunterricht könnten sie weiterhin erteilen, wenn sich dafür Mittel zum Beispiel aus der Migrationsförderung des Innenministeriums fänden.

2005 - Kiel

Landeshaushaltsberatungen. Deutlich aufgestockt werden für die Jahre 2006 und 2007 Mittel für die frühe systematische Sprachförderung von Kindern. Schon 2003 hatten die GRÜNEN eine solche Förderung erstmals als Modellförderung durchgesetzt: Für alle Kinder mit Sprachproblemen, seien es deutsche MutterprachlerInnen, deren Sprechen nicht gut entwickelt ist, seien es Kinder mit Migrationshintergrund, die zu wenig deutsch können. Um diese Kinder zu finden, sollen die Schuleingangsuntersuchungen vorgezogen werden, damit Kinder auf diese Weise wenigstens das letzte Jahr vor der Schule in die Kindertagesstätte gehen und dort die Sprachförderung integriert werden. Faktisch kommt es aber doch nicht selten zum sogenannten Bussing, das heißt der Konzentration der Kinder für ein paar Stunden in einem Deutsch für Ausländer Zentrum (DAZ ). Sind hier nun LehrerInnen und ErzieherInnen beschäftigt, die sich besonders in der Gestaltung interkultureller Bildung qualifiziert oder selber Migrationserfahrung haben? Bisherige Indizien sprechen 2007 dafür, dass dies eher die Ausnahme als die Regel ist. Der erste Ergebnisbericht der Landesregierung erwähnt dieses Thema nicht.

Es ging schon mal anders: 1991 - Lüneburg und Hamburg

Für Interessierte mit Migrationshintergrund, die, egal was sie für eine Vorbildung haben, ihre Landsleute beraten und in der Bildung fördern, gibt es die Möglichkeit eines berufsbegleitenden Kurses an der Fachhochschule, um auf diese Weise die formelle Basisqualifikation für Stellen in der Migrationssozialarbeit zu erwerben. Die Kurse laufen erfolgreich schon seit Mitte der achtziger Jahre und wurden auch in Hamburg-Harburg von anderen Veranstaltern angeboten. Die ersten Frauen, die in Hamburg sich so schon in den achtziger Jahren weiterbildeten, haben inzwischen im Rahmen des türkischen Frauen- und Mädchentreffs INCI in Hamburg-Altona eine Ausbildung für Erzieherinnen und Erzieherinnenassistenzberufe mit Migrationshintergrund aufgebaut. Diese aus verschiedenen öffentlichen Etats finanzierte Maßnahme ermöglicht türkischen Müttern den Berufs(wieder)einstieg und das Besondere: Die Frauen können in der Ausbildung auch ihre oft fehlenden Schulabschlüsse nachholen und erhalten Hilfe bei der Kinderbetreuung.

Allerdings: Beide pragmatischen Initiativen für pädagogische Quereinstiege wenigstens außerhalb des Schuldienstes existieren im Jahr 2007 längst nicht mehr.

2007 - Kiel

Das neue Schulgesetz proklamiert einen Paradigmenwechsel: Statt früher Auslese individuelle Förderung. Die GRÜNEN im Landtag nehmen die Landesregierung nun beim Wort und starten einen erneuten Anlauf für die interkulturelle Bildung. Wir fordern in der Dezembersitzung 2007 in unserem Landtagsantrag, dass die Landesregierung endlich eine Offensive startet, um PädagogInnen mit Migrationshintergrund für Kindertagesstätten und Jugendzentren, sowie insbesondere für den Schuldienst zu gewinnen und dann tatsächlich auch auf festen Stellen zu beschäftigen. Kinder müssen zudem die Chance erhalten, Literatur in ihrer nichtdeutschen Muttersprache zu lesen. Daher brauchen sie auch schulischen Unterricht in ihrer Sprache, damit sie die Bilingualität wirklich als Vorteil für sich entwickeln können.

Aus der Begründung: Alle Kinder, nicht nur diejenigen mit Migrationshintergrund, brauchen interkulturelle Bildung und Erziehung. Dies funktioniert glaubhaft nur, wenn auch pädagogische Fachkräfte mit Migrationserfahrung überall dort arbeiten, wo Kinder lernen oder ihre Freizeit verbringen. Statt erfahrene Pädagogikfachleute zu StudienanfängerInnen zu degradieren, sollten pädagogische Fachkräfte mit Migrationshintergrund Lehrerfortbildungsveranstaltungen leiten.

Wer diese Initiative unterstützen will oder selber Erfahrung mit vergeblichen Bewerbungen in Schulen und Kindertagesstätten hat, soll sich gern bei der GRÜNEN Landtagsfraktion melden. Kontakt und Information über www.plietsch.sh.

Angelika Birk
Bildungs- und sozialpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen Schleswig Holstein

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