(Gegenwind 228, September 2007)

Kommunalreform in Mecklenburg-Vorpommern

Mit der Verfassung unvereinbar

Das Urteil ist eindeutig: Die §§ 72 bis 77 des Gesetzes über die Funktional- und Kreisstrukturreform des Landes Mecklenburg-Vorpommern (...) sind mit Artikel 72 Absatz 1 Satz 2 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern unvereinbar. Die Paragrafen, um die es geht, betrafen die Neugliederung des Bundeslandes in fünf Kreise - statt bisher 18 Kreise. Die Aufgliederung in fünf Kreise widerspricht der Verfassungsvorschrift: "Die Kreise haben das Recht der Selbstverwaltung."

Verfassungsgericht kippt Funktional und Kreisstrukturreform

Bisher gibt es in Mecklenburg-Vorpommern 18 Kreise: 13 Landkreise und fünf kreisfreie Städte. Sie soll(t)en mit der Reform zu fünf Kreisen verschmelzen:

Genau das war Inhalt der genannten Paragrafen; § 72 des Gesetzes löste die 18 Kreise auf, § 73 bis § 77 definierte die fünf neuen Kreise.

Die neuen Kreise hätten eine Fläche von 3182 (Nordvorpommern-Rügen) bis 6997 (Westmecklenburg) qkm gehabt und damit zu den größten der Republik gehört. Die Einwohnerzahlen hätten bei 244.092 (Südvorpommern) bis 498.372 (Westmecklenburg) gelegen - in Einwohnerzahlen Mitte 2004 gerechnet. Denn genau das gehört zu dem Problem, das die Regierung mit der Reform lösen wollte und lösen will: Die Kreisgebietsreform sollte 2009 in Kraft treten, und zehn Jahre später gibt es keine Transferleistungen aus dem "Solidaritätszuschlag" mehr. Gleichzeitig wird die Bevölkerungszahl weiter abnehmen. Waren es zur Zeit der Wende noch fast 2 Millionen Einwohner, sind es heute nur noch 1,7 Millionen und damit weniger als in Hamburg. 2020, wenn der Solidaritätszuschlag endgültig abgeschafft ist, werden es nur noch 1,5 Millionen sein, 2050 schließlich wird nur noch mit 1,2 Millionen Einwohnern gerechnet.

Landkreise und kreisfreie Städte in Mecklenburg-Vorpommern 2006, Quelle: Oberste Landesplanungsbehörde M-V 03/2006

Bereits jetzt sind die Kreise in Mecklenburg-Vorpommern größer als anderswo in der Republik, unter den 20 größten Kreisen Deutschlands befinden sich sechs mecklenburgische. Die Einwohnerzahl sinkt aber vielerorts langsam, aber sicher, unter die Grenze von 100.000 oder gar unter 60.000 - das gilt gemeinhin als die Grenze, bei der sich Kreisverwaltung und Kreistag nicht mehr lohnen, weil aus Geldmangel nichts mehr zu entscheiden ist.

Außerdem sinkt die Bevölkerung nicht gleichmäßig. Es ist nicht das Hauptproblem, dass zu wenig Kinder geboren werden. Das größte Probleme ist die Abwanderung junger Menschen, vor allem junger Frauen. Zur Zeit der Wende waren 15 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt, heute sind es 25 Prozent, 2020 werden es 35 Prozent sein.

Gerade aus der Wendezeit gibt es eine Vielzahl von Landesbehörden und Sonderbehörden, auch hier will die Landesregierung gerne einen Schnitt machen. Der sollte beispielsweise so aussehen:

Kreise in Mecklenburg-Vorpommern ab 2009 (gemäß Verwaltungsmodernisierungsgesetz M-V), Quelle: Oberste Landesplanungsbehörde M-V 03/2006

Bei anderen Aufgaben sollte es verschieden gehandhabt werden. Aus den jetzt 16 Rettungsleitstellen (Einsatz für Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen) sollten fünf werden, eine bei jedem Kreis. Dagegen sollten die kreise Aufgaben wie die Gewerbeanmeldung, Fundsachenversteigerung, Gaststättenaufsicht oder Entscheidung über Öffnungszeiten an die Ämter und Gemeinden abgeben, so dass Gewerbetreibende nur noch zur eigenen Bürgermeisterin oder eigenem Bürgermeister gehen müssen - nicht mehr zur Kreisverwaltung, die nach der Reform vielleicht weiter weg ist. Ebenso sollten in Zukunft die Gemeinden und Ämter über Verkehrsregelung (z.B. Einrichtung von 30-km-Zonen oder Parkgebühren) entscheiden, nicht mehr die Kreise.

Für die Bürgerinnen und Bürger sollte gelten, dass es in den Gemeinden Service-Büros gibt, die als Anlaufstelle für alles dienen. Dort sollte man auch Anträge für die Kreisbehörde ausfüllen und abgeben können, auf dass dieses Servicebüro sie dann per E-Mail an die Kreisverwaltung weiterleitet.

Durchführung und Scheitern

Die kommunale Gebietsreform und die Funktionalreform wurden anders angepackt als in Schleswig-Holstein. In Mecklenburg-Vorpommern wurde von Anfang an auf wissenschaftlicher Basis, mit Gutachten und Untersuchungen, festgestellt, welches Ergebnis das wirtschaftlich und organisatorisch beste wäre. Die Probleme wie abnehmende Bevölkerung und auslaufen des Solidarpaktes machen es unumgänglich, die kleinteiligen Strukturen und mehrstufigen Verwaltungsaufbauten zu verändern.

Die Entscheidung fiel zugunsten eines Modells, in dem Planungsräume identisch sind mit den Entscheidungsgremien. In jedem der fünf neuen Kreise sollte der Raum für die Planung, Entscheidung und Durchführung identisch sein. So gibt es in der Landesplanung keine Städte, für die ohne Betrachtung des Umlandes geplant wird. "Kreisfrei" sind einige Städte nur beim Verwaltungsaufbau, die Landesplanung muss immer das Umfeld mit einbeziehen. Diese Räume sollten in Zukunft deckungsgleich sein.

Die Entscheidung lief letztlich nur noch auf eine Entscheidung zwischen vier oder fünf Kreisen hinaus, weil die gesamte Landesorganisation in vier bis sechs Teilgebiete aufgegliedert ist, wie oben der Blick auf Umweltämter, Eichämter und so weiter zeigt.

Erst als die Planung fertig war, gab es die obligatorischen Anhörungen - allerdings gaben Landespolitiker schon freimütig Interviews, in denen sie sich für die Vier- oder Fünf-Kreise-Lösung aussprachen. Die von einigen Kreisen oder anderen Organisationen in den Anhörungen vorgebrachte Kritik an der Reform insgesamt interessierte da nicht mehr.

Das wurden der Landesregierung und dem Landesparlament, das letztlich verklagt worden war, jetzt zum Verhängnis. Nicht die Art der Entscheidung beanstandete das Landesverfassungsgericht, sondern ein Punkt der geäußerten Kritik selbst brachte das Modell zu Kippen. Es geht um die Demokratie.

Selbstverwaltung

Kreise haben laut Verfassung das Recht, sich selbst zu verwalten. Die Selbstverwaltung passiert im Kreistag. Dort sitzen Bürgerinnen und Bürger ehrenamtlich zusammen, die zuvor kreisweit gewählt wurden.

Um solch ein Ehrenamt auszuüben, so das Landesverfassungsgericht, muss der Kreis überschaubar sein, und die ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürger müssen sich bei bestimmten Fragen eine persönliche Übersicht, einen Eindruck vor Ort verschaffen können. In den fünf neuen Kreisen würden aber mehr als 20 Prozent der Bevölkerung über 40 km Luftlinie von dem Sitz der Kreisverwaltung und des Kreistages entfernt wohnen, Fahrzeiten mit dem Auto von mehr als einer Stunde wären dann normal - nicht nur für die Teilnahme an Kreistagssitzungen, sondern auch für viele Termine zwischendurch. So würden Kindergärten eingerichtet, geteilt oder zusammengelegt, Straßen und Brücken neu gebaut oder abgerissen, zwischen verschiedenen Varianten entschieden - und wenn Kreistagsabgeordnete heute über eine Frage an diesem Ort, morgen über ein 50 oder 60 km entferntes Problem zu entscheiden hätten, würden sich viel weniger zu einer Kandidatur bereit finden.

Das Landesverfassungsgericht entschied:

Eine Kreisgebietsreform ist in Ordnung. Das Land muss die Strukturen der Verwaltung den geänderten Verhältnissen anpassen und auf Probleme, zum Beispiel mit dem Geld, reagieren, auch so, dass zum Beispiel doppelte Verwaltungen zusammen gelegt und die Bürokratie vereinfacht wird.

Eine Funktionalreform ist auch in Ordnung. Die Aufgaben müssen beim Land, dem Kreis, der Gemeinde oder entsprechenden Ebenen dazwischen, also Landesämtern oder Ämtern liegen. Und von dort dürfen sie auch auf andere Ebenen umverteilt werden, wenn das sinnvoll ist, Vorteile bringt und gründlich abgewogen wird.

Beides zusammen passt auch. Das Land hat, so das Verfassungsgericht, eine Gebietsreform und Funktionalreform aus einem Guss entwickelt, die Aufgaben werden an die Ebene gegeben, die sie am besten und wirtschaftlichsten erledigen kann.

Das Land ist aber grundsätzlich verpflichtet, alle Aspekte im Auge zu behalten. Wenn Kosten bei der Verwaltung gespart werden, die parlamentarische Kontrolle aber durch größere Kreise schwieriger wird, weil die Kreistagsabgeordneten länger fahren müssen oder ein größeres Gebiet im Auge behalten müssen, muss das Land Vor- und Nachteile sorgfältig gegeneinander abwägen.

Das Problem ist die Größe der Kreise. Der größte Kreis Deutschlands ist der Kreis Ückermark (Brandenburg) mit 3.058 qkm - die neuen Kreise in Mecklenburg wären doppelt so groß oder noch größer. Das mag zwar wirtschaftlich und insofern auch vernünftig sein, aber: "Es liegt auf der Hand, dass eine ehrenamtliche Tätigkeit als Mitglied des Kreistages oder eines seiner Ausschüsse bei einer beträchtlichen Vergrößerung der Fläche des Kreises ebenso beträchtlich erschwert werden kann und vielfach wird. Infolge des höheren Zeitaufwandes, der damit verbunden wäre, drohte erkennbar die Gefahr, dass die Bereitschaft von Bürgern, ein Ehrenamt auf Kreisebene wahrzunehmen, weiter nachlässt." (Urteil, Seite 50)

Das Gericht führt aus, dass bereits jetzt in den Kreistagen überwiegend Angehörige des öffentlichen Dienstes und Rentner sitzen, aber kaum Freiberufler oder Selbständige. Diese Tendenz würde weiter zunehmen.

Die eingeplanten Maßnahmen von Landesregierung und Parlament hielt das Verfassungsgericht für nicht ausreichend. Im Gesetz ist vorgesehen, die Kreistage zu vergrößern, von jetzt 47 bis 53 Abgeordnete auf 67 bis 85, was bei nur noch fünf (statt 18) Kreistagen immer noch eine Einsparung bedeutet, für die einzelnen Abgeordneten aber für einen kleineren Zuständigkeitsbereich und eine bessere Verteildung der Arbeit sorgen sollte. Außerdem sollten die Mittel für Fraktionsmitarbeiter erhöht werden. Das ist nicht ausreichend, um die demokratische Selbstverwaltung zu gewähren, denn diese Maßnahmen bezögen sich nur auf Fraktionen. Einzelne Mitglieder des Kreistages, die es nach der Verfassung ja geben kann, weil jede Einwohnerin und jeder Einwohner kandidieren dürfen, hatten ja immer noch den ganzen Kreis als Zuständigkeitsgebiet. "Der Kreis kann schwerlich als Schule der Demokratie wirken, wenn faktisch weite Kreise der Bevölkerung von der Tätigkeit im Kreistag ausgeschlossen sind." (Urteil Seite 56)

Regierung und Landtag hätten, so das Verfassungsgericht, Alternativen prüfen müssen. Ausdrücklich wird erwähnt, dass die Entscheidung nicht "kreisfreie Städte oder keine kreisfreien Städte" lauten muss - man könne schließlich auch vier von sechs kreisfreien Städten in die Kreise eingliedern und zweien ihre Kreisfreiheit belassen. Auch müssten 18 Kreise nicht alternativlos auf fünf verringert werden, der Gesetzgeber müsste auch prüfen lassen, ob vielleicht mit einer Gliederung in 13 Kreise eine größere Wirtschaftlichkeit bei gleichzeitiger Möglichkeit der demokratischen Selbstverwaltung zu verwirklichen wäre.

Folgerungen für Schleswig-Holstein

Auch in Schleswig-Holstein wird über die Kombination von Funktionalreform und Kreisgebietsreform diskutiert. Verwaltungsmäßig ist Schleswig-Holstein bei vielen Dingen schon in vier Regionen gegliedert, sieht man sich die Landgerichte (Kiel, Itzehoe, Lübeck, Flensburg) an, die staatlichen Umweltämter, Katasterämter und vieles andere. Der Norden ist als Landesteil Schleswig bei vielen Dingen schon eine Einheit, das sehr viel dichter besiedelte Holstein wird meistens in drei Regionen eingeteilt, die sich an den drei Verkehrsachsen A1 (Lübeck - Puttgarden), A 23 (Pinneberg - Itzehoe - Heide) und A 7 (Neumünster - Rendsburg / Kiel) orientieren.

Schleswig-Holstein hat jetzt 11 Landkreise, von denen der kleinste 664 qkm groß ist, Pinneberg ist aber gleichzeitig mit 289.600 Einwohnern der einwohnerstärkste. Am wenigsten Einwohner hat der Kreis Plön, 132.000 Menschen auf 1.082 qkm. Der größte Kreis ist Rendsburg-Eckernförde mit 2.185 qkm. Damit ist er nur zwei Drittel so groß wir der kleinste geplante Kreis in Mecklenburg-Vorpommern, weniger als ein Drittel so groß wie der geplante größte Kreis.

Die Gegner der Gebietsreform in Schleswig-Holstein kommentierten überwiegend, damit hätten sich wohl die Pläne der Landesregierung erledigt, ohne zu bedenken, dass die jetzige fünfteilige Verwaltungsgliederung einfach zu teuer ist. Befürworter der Reform verwiesen darauf, dass in Schleswig-Holstein nicht, wie hier auch diskutiert, durch Expertengutachten eine "ideale" neue Verwaltungsstruktur mit Aufgabenverteilung entwickelt wird, die dann von oben durchgedrückt wird, sondern der Prozess im Wechselspiel zwischen Regierung, Parteien und Kreisen verläuft. Die FDP zum Beispiel vertritt die Meinung, gemessen am Urteil des Verfassungsgerichtes Greifswald wäre die jetzige Größe des Kreises Rendsburg-Eckernförde eine Art Obergrenze, wenn noch ein ehrenamtlicher Kreistag möglich sein soll, schließt aber freiwillige Zusammenschlüsse oder die Zusammenarbeit unterhalb des Niveaus von Zusammenschlüssen nicht aus.

Das Problem und die Diskussion werden uns noch lange erhalten bleiben.

Reinhard Pohl

Kiel arbeitet zusammen

Eine Initiative zur Zusammenarbeit haben die Verwaltungen, also die Kieler Oberbürgermeisterin Angelika Volquartz gemeinsam mit den Landräten von Rendsburg-Eckernförde Wolfgang von Ancken und Plön, Dr. Volkram Gebel ergriffen: Sie wollen zum 1. Januar 2008 eine gemeinsame Wirtschaftsforderungsgesellschaft gründen. Das soll die siechende "Kern-Region", einen eingetragenen Verein, ablösen. Die neue Wirtschaftsförderungsgesellschaft würde die vorhandenen Gesellschaften der drei Kreise zusammenschließen mit einer Zentrale in Kiel und Ansiedlung, Wirtschaftsförderung und so weiter für die drei Kreise gemeinsam betreiben.

Auf einer Pressekonferenz begründeten die drei das damit, dass man Konkurrenz und einen Wettlauf um gewisse Investoren vermeiden sollte, weil sich dadurch die Kreise gegenseitig unterbieten müssten, außerdem sagte z.B. Landrat Gebel ausdrücklich, der Kreis Plön müsste sich bei überregionaler Werbung sowieso immer auf Kiel beziehen. Neumünster, im Kern-Verein noch Mitglied, war wohl eingeladen, orientiert sich aber eher nach Süden, also nach Bad Segeberg und Hamburg.

Die neue Gesellschaft soll eine GmbH werden, wobei Kiel und Rendsburg jeweils 20 Prozent halten, Plön 15 Prozent, die übrigen Anteile würden IHK, Sparkasse und so weiter bekommen. Wenn Neumünster doch mitmacht, soll es sich mit 10 Prozent beteiligen.

Pferdefuß des ganzen: Die Verwaltungschefs stellten die Pläne Anfang August, also mitten in den Ferien vor, die Selbstverwaltung, also die Kreistage und die Ratsversammlung, hatten sich noch überhaupt nicht damit befasst. Dennoch ist es sicherlich auch ein Projekt, dass sich in die Diskussion um Kreisgrenzen und Aufgabenverteilung einfügt.

Zwei Wochen später gab Dithmarschen bekannt, es habe eine Vertrag mit Kiel: Alle Bußgeldbescheide von Polizei und Politessen aus Dithmarschen würden jetzt vom Ordnungsamt Kiel abgewickelt, also die Bescheide und Knöllchen in Zukunft dort ausgedruckt und verschickt. Die "Kundinnen und Kunden" würden davon im Grunde genommen nichts merken.

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