(Gegenwind 228, September 2007)
Das Grünbuch "Schleswig-Holstein Energie 2020" des Ministeriums für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr, herausgegeben im Juni 2007, liefert eine Menge wissenswerter Daten zur Energieplanung in SH bis zum Jahr 2020. Zudem bietet es bedenkenswerte Einsichten in die künftige Energie-/Klimapolitik - dafür ist sein Autor, Ministerialdirigent Dr. Gustav Sauer, immer gut. Im Grünbuch wird mehrfach (u.a. zweimal im Vorwort von Minister Austermann) davor gewarnt, dass der geplante Ausbau der Windenergienutzung den CO2-Ausstoß in Schleswig-Holstein - bei Stillegung der Atomkraftwerke entsprechend dem "Atomkonsens" - verdreifachen würde.
Hier haben sich also zwei AKW-Lobbyisten gefunden: Austermann und Sauer. Letzterer wurde vom damaligen Sozialminister Günter Jansen seinerzeit tragischerweise als Leiter der Reaktorsicherheitsbehörde für den AKW-Ausstieg eingestellt.
Das Grünbuch stellt die Energie- und Klimasituation in sieben Kapiteln vor. Es geht um die globale, die deutsche und schließlich die schleswig-holsteinische Energiesituation, dann um die Auswirkungen auf das Klima. Schließlich geht es um die Handlungsmöglichkeiten des Wirtschaftsministeriums in Kiel, die Möglichkeiten Schleswig-Holsteins bis 2020 und um den Ausblick.
Das Wirtschaftsministerium geht davon aus, dass 2020 durch Windenergie an Land (onshore) 8,5 Terrawattstunden (1 TWh = 1 Milliarde Kilowattstunden) und auf dem Wasser (offshore) 12 TWh Strom produziert werden, Schleswig-Holstein zu dieser Zeit aber höchstens 16 TWh selbst verbraucht. Glückwunsch, könnte man sagen, mehr als 100 Prozent ökologisch. April-April, sagt Austermann: Diese Windenergieanlagen würden Strom "asynchron" zum Verbrauch produzieren, eben abhängig von Wind und Flaute. Deswegen könne die Stromproduktion der Windkrafträder an Land nur zu 11 %, die (kontinuierlichere) Produktion auf See zu 30 bis 40 Prozent im Lande selbst verbraucht werden. Der Rest könne nur ins europäische Verbundnetz eingespeist werden.
Da der Atomkonsens die Stilllegung der drei Atomkraftwerke Brunsbüttel, Krümmel und Brokdorf bis 2018 vorschreibe, müsste deren Stromproduktion ersetzt werden.
Die Autoren rütteln zwar nicht am Ausstiegskonsens. Doch warnen sie vor dem beabsichtigten Zubau von Windenergieanlagen um das Vierfache bis zum Jahre 2020 mit dem Klimatotschlag-Argument: Dann müssten 4 Kohlekraftwerke mit jeweils 800 MW Leistung als "back-up" neu errichtet werden, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Die Annahmen und Argumente sind grotesk: Die neuen Kohlekraftwerke ließen den Stromexport aus Schleswig-Holstein auf 30 TWh pro Jahr steigen, das wäre gut viermal so viel wie das AKW Brunsbüttel liefern kann. Schleswig-Holstein selbst wird 2020 nur etwa 16 TWh benötigen.
Wo steht geschrieben, dass der fehlende Strom bei Flaute in Schleswig-Holstein selbst erzeugt werden muss? Wenn der überschüssige Windstrom ins europaweite Netz eingespeist werden kann, warum kann der bei Flaute benötigte Strom nicht auch daher bezogen werden? Gibt es keine Wasserkraft in Schweden? Keinen Wind in Schottland? Zur Zeit stehen die AKWs Brunsbüttel und Krümmel still. Kommt der fehlende Strom etwa aus Kohlekraftwerken in Schleswig-Holstein?
Gänzlich unbeachtet bleibt, dass es in Deutschland einen riesigen Überhang an Kraftwerkskapazitäten gibt, mehr als der Leistung aller 17 deutschen AKWs zusammen entspricht. Allein aus Gründen der Versorgungssicherheit wäre also kein einziges neues Kohlekraftwerk erforderlich.
Das Grünbuch geht davon aus:
Ernst zu nehmende Möglichkeiten, die unregelmäßige Stromproduktion der Windkraft auszugleichen, werden im Grünbuch nicht angesprochen. Möglich wäre ein größeres Verbundnetz, möglich wäre auch die intelligente Nutzung von Speicherkraftwerken, der schnellere Zubau von Biomassekraftwerken.
Das Grünbuch stellt es als klimaschädlich dar, dass die Atomkraftwerke (angeblich ohne CO2-Emission) stillgelegt und daher notwendig durch Kohlekraftwerke ersetzt werden müssen. Einsparziele der Bundesregierung werden als unrealistisch bezeichnet, ohne ihnen eigene entgegenzusetzen. Der CO2-Ausstoß soll sich laut Grünbuch stark erhöhen:
"Mithin ist bis zum Jahr 2020 mit einer CO2-Emissionsverminderung - bezogen auf die gesamte Stromerzeugung in Schleswig-Holstein - nicht zu rechnen. Im Gegenteil, die Emissionen dürften insgesamt um bis zu 6 Mio. t CO2 steigen. Das liegt vor allem an der unvermeidlichen Substitution von KE (= Kernenergie, Red.) durch Kohle." (Seite 41)
Wie gesagt, warum das "unvermeidlich" sein soll, erschließt sich aus dem Gründbuch nicht. Indirekt wird aber die Katze aus dem Sack gelassen:
"Würde indes die KE (= Kernenergie) bis 2020 erhalten bleiben, könnte eine Emission von bis zu 10,8 Mio. t CO2 gänzlich vermieden werden..."
In Dänemark ist 1996 der Bau neuer Kohlekraftwerke verboten worden. Große, zentrale Anlagen erzeugen dort nur noch 56 Prozent des Stroms, der Rest wird dezentral produziert, oft mit Biomasse, wobei Kraft- und Wärmeerzeugung gekoppelt sind. Das Netz selbst ist staatlich, so dass alle Erzeuger zu gleichen Bedingungen Strom einleiten, durchleiten und entnehmen können.
Das Grünbuch diskutiert die Perspektiven der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) nur am Rande: Effizient, klimaschonend und preiswert wäre das ja, aber sie müsste praktisch neu aufgebaut werden. "Ein Vergleich mit der hohen KWK-Durchdringung Dänemarks liegt neben der Sache, weil dort die entsprechenden Entscheidungen bereits ab den 1980er Jahren umgesetzt wurden. Eine generelle Übertragung auf Deutschland verkennt die zwischenzeitlich manifesten Unterschiede, was man zwar beklagen, aber nicht mehr ändern kann." (Seite 38)
Das lässt einen Gestaltungswillen der Regierung völlig vermissen.
Diese Aussage gerade in einem Grünbuch zu treffen, in dem es um die anstehende Umgestaltung der gesamten Energielandschaft geht - drei Atomkraftwerke sollen in den nächsten 15 Jahren stillgelegt, vier Kohlekraftwerke neu gebaut werden - ist schon dreist. Manifest ist nur die Macht der Konzerne. Wie stillgelegte Atomkraftwerke ersetzt werden, ist eine Frage, die sich die Regierung keineswegs aus der Hand nehmen lassen sollte.
Der Energieminister handelt: Er unterstützt den Bau von 4 großen klimaschädlichen Kohlekraftwerksblöcken, und schanzt so den Energiekonzernen für weitere 40 Jahre Profite zu, mit dem vorgeschobenen Argument, die Windkraftnutzung erfordere das; denn den Ausbau der Windenergienutzung kann er trotz massiver Behinderung beim Repowering, dem Netzausbau und der Off-shore-Nutzung nicht stoppen.
Die deutliche Botschaft lautet: Am besten für den Klimaschutz wäre es, die Restlaufzeiten des AKWs zu verlängern.
Karsten Hinrichsen / Reinhard Pohl