(Gegenwind 227, August 2007)

Interview mit Anja Yüksel

"Zur Sicherheit immer ein Wörterbuch im Rucksack"

Anja Yüksel

Gegenwind:

Wie bist du Dolmetscherin geworden?

Anja Yüksel:

Ich hatte neben meinem Mathematik-Studium Türkisch-, Kurdisch- und Russisch-Veranstaltungen an der Uni besucht, da hatte ich etwa ein halbes Turkologie-Studium gemacht und konnte daher die türkische Sprache ganz gut. Ich habe dann immer mehr Kontakte gekriegt mit türkisch-sprachigen Leuten, gerade auch Flüchtlingen. Ich habe dann viel Begleitdolmetschen gemacht und bekam dann ein Angebot von einem Versicherungsbüro mit türkisch- und kurdischsprachigen Kunden. Er sagte, wenn du dich als Dolmetscherin vereidigen lässt, dann kannst du bei mir arbeiten. Ich hatte auch schon mehrmals für die Polizei gedolmetscht, die sagten hier in Bad Oldesloe auch, es wäre gut, mich vereidigen zu lassen, weil es weit und breit keine Türkisch-Dolmetscher gibt.

Gegenwind:

Eigentlich müsste es doch in der größten Ausländergruppe Schleswig-Holsteins Tausende Dolmetscherinnen und Dolmetscher geben. Wie kommt es, dass so viele Leute hier leben, aber kein Dolmetscher da ist?

Anja Yüksel:

Dolmetschen setzt eben gute Kenntnisse in beiden Sprachen voraus, setzt auch eine gute Allgemeinbildung voraus. Und zwei Sprachen gut zu können heißt noch lange nicht, dass man die auch gut dolmetschen kann. Als ich mich 1994 habe vereidigen lassen, war das noch nicht so schwierig. Wenn man sich jetzt die Voraussetzungen ansieht, die das Landgericht Lübeck an die Vereidigung neuer Dolmetscher stellt, dann ist das sehr schwer geworden.

Gegenwind:

Du dolmetscht Türkisch und Kurdisch ja als Deutsche. Hast du es leichter, wenn du nicht von vornherein im Verdacht stehst, zu einer politischen Gruppe zu gehören?

Anja Yüksel:

Ich habe schon öfter die Situation gehabt, dass sich traumatisierte Frauen bei mir ziemlich sicher waren, dass es niemand aus der eigenen Gruppe erfährt. Da habe ich zum Teil einen Vertrauensvorschuss gehabt.

Gegenwind:

Wie bist du an deinen ersten Auftrag gekommen?

Anja Yüksel:

Das ging über die Dolmetscher-Liste des Gerichtes. Eine Polizeiwache rief an, und zwar die in der Nähe des Versicherungsbüros.

Gegenwind:

Was muss man können, um bei der Polizei zu dolmetschen?

Anja Yüksel:

Man muss beide Sprachen gut können. Man muss Wissen mitbringen, was die Sache selbst betrifft. Man muss absolut verschwiegen sein, das gilt aber für eine Dolmetscherin generell.

Gegenwind:

Wie bist du an deinen ersten Auftrag bei Gericht gekommen?

Anja Yüksel:

Das war in Gützow, und zwar über eine andere Dolmetscherin. Sie hatte gleichzeitig einen anderen Termin. Es war nur eine richterliche Anhörung, also nicht in einem Verhandlungssaal, sondern im Büro. Irgendeine kleinere Strafsache.

Gegenwind:

Für welche Gerichte hast du schon gedolmetscht?

Anja Yüksel:

Erst mal viele Amtsgerichte hier: Bad Oldesloe, Bad Segeberg, Lübeck, Mölln, Ratzeburg, Bad Schwartau, Plön, Gützow, Ahrensburg, Schwarzenbek. Verwaltungsgericht Lüneburg, Oberlandesgericht Schleswig, Landgericht Lübeck, Sozialgericht Lübeck.

Gegenwind:

Was sind denn die größten Unterschiede zwischen Verwaltungsgericht, Sozialgericht oder einem Strafprozess?

Anja Yüksel:

Sozialgericht ist richtig schwierig, jedenfalls was ich gemacht habe. Das war eine Rentenangelegenheit, wo es um ein Gutachten der Sozialmedizinischen Untersuchungsanstalt ging. Da brauchte ich eine ganze Menge Medizinkenntnisse. Beim Verwaltungsgericht sind Dolmetscher oft in Asylverfahren tätig. Da genügt es nicht, die Sprache zu können, da muss man sich auch mit der Situation auskennen, aus der Flüchtlinge kommen, muss politische Gruppen, regionale Besonderheiten, Organisation der Sicherheitskräfte und so weiter kennen. Strafsachen können einen in verschiedenste Bereiche bringen, da weiß man oft vorher nicht, womit man zu tun hat.

Gegenwind:

Wie bereitest du dich vor?

Anja Yüksel:

Es ist die Frage, wie weit ich weiß, was auf mich zukommt. Zum einen nehme ich mir noch mal das juristische Wörterbuch vor und rekapituliere noch mal, mit welchen juristischen Begriffen ich konfrontiert sein könnte. Oftmals weiß man ja so ungefähr, worum es geht. Wenn ich angerufen werde, dann frage ich auch, worum sich das Verfahren dreht. Und dann habe ich zur Sicherheit immer ein Wörterbuch im Rucksack. Aber in der Gerichtsverhandlung selber habe ich es erst ein einziges Mal benutzt. Mir wurde in der Verhandlung spontan ein Schriftstück vorgelegt, wo ich was nachschlagen musste.

Gegenwind:

Kann man in der Verhandlung im Wörterbuch nachschlagen?

Anja Yüksel:

Das kommt auf die Situation an. Wenn man ein Schriftstück vorgelegt bekommt, das war damals ein türkisches Original mit zum Teil schwierigen Begriffen, kann einem niemand verdenken, wenn man ein Wörterbuch aus der Tasche zieht. Das Schriftstück hätten sie im Vorfeld vielleicht besser übersetzen lassen sollen. Aber wenn man in der Verhandlung ständig im Wörterbuch blättert, macht das einen schlechten Eindruck.

Gegenwind:

Und wenn Angeklagte oder Zeugen etwas Zweideutiges sagen? Es kann ja eine Beleidigung oder Drohung sein, was beim Dolmetschen nicht rüberkommt, wie das im Türkischen klingt.

Anja Yüksel:

Wenn ich meine, dass eine Erläuterung nötig ist, mache ich das als Erläuterung kenntlich oder frage, ob ich etwas erläutern dürfte. Viele Kurden verwenden, wenn sie Türkisch sprechen, den Plural, sprechen von "wir", wenn sie "ich" meinen. Als Dolmetscherin muss ich das mit "wir" übersetzen. Wenn der Richter das nicht weiß, können daraus eine Menge Probleme entstehen. Und wenn etwas gesagt wird, was zweideutig ist, was ich auch nicht entscheiden kann, würde ich beide Varianten anbieten.

Gegenwind:

Bist du schon mal abgelehnt worden? Gab es schon mal den Vorwurf "Die dolmetscht falsch"?

Anja Yüksel:

Bis jetzt bin ich dreimal in solche Situationen gekommen. Einmal war ich als Dolmetscherin für die türkische Sprache bestellt, musste Kurdisch dolmetschen und verstand den Betreffenden gut, aber der wollte für das Verfahren, in dem es für ihn und seine Familie um alles ging, eine andere Dolmetscherin haben. Ich habe dem Richter erklärt, dass es im Kurdischen viele regionale Unterschiede gibt und die Verständigung schwierig sein kann. Der Richter fragte dann: Woher müsste der Dolmetscher denn kommen? Der Betreffende sagte dann: Egal, woher er kommt, Hauptsache er ist Kurde. Mit so was kann man leben.
Mir ist noch was anderes passiert. Das Verfahren lief nicht so, wie die Partei das wollte. Dann wurde es auf die Dolmetscherin geschoben, das hat mich ziemlich mitgenommen. Es wurde gesagt, ich würde nur über Grundkenntnisse des Kurdischen verfügen und anderes mehr. Aber ich habe dann auch selbst vorgeschlagen, jemand anderen zu holen, weil die eine Partei eben deutlich gemacht hatte, dass sie mich nicht wollte. Der Richter hat dann angerufen und gesagt, sie holen jemand anderes. Aber er sagte, er weiß schon, wie er das einzuschätzen hat, und für andere Verhandlungen würde ich wieder bestellt. Er sagte auch, er habe mit anderen Richtern gesprochen, und alle hätten gesagt, dass ich gut dolmetschen würde. Aber für eine Dolmetscherin ist das eine schwierige Situation.

Gegenwind:

Unangenehme Situationen gehören ja zu deinem Beruf. Es geht um Körperverletzung, es geht um Mann gegen Frau. Wie wirst du damit fertig? Was bringst du mit nach Hause, was müssen deine Kinder aushalten?

Anja Yüksel:

Ich bin seit acht Jahren auch Therapiedolmetscherin, und in den Refugio-Fortbildungen habe ich gelernt, wie ich mich schützen kann. In der Anfangszeit war es anders, aber ich habe gelernt, die Sachen dort lassen zu können. Ich weiß aber nicht, ob es mich mehr mitnehmen würde, wenn es die Muttersprache wäre, in der ich das alles höre. Allerdings: Wenn es um schlimme Erlebnisse von Kindern oder aus der Kinderzeit geht, das nimmt mich immer noch mit. Es ist allerdings schon vorgekommen, dass ich zwar ordentlich gedolmetscht habe, aber danach fast umgekippt wäre.

Gegenwind:

Was würdest du einer Berufsanfängerin raten? Wie kommt sie in den Beruf rein, und wie kann sie davon leben?

Anja Yüksel:

Es ist nicht einfach, in den Beruf reinzukommen. Aber wenn sie Deutsch und eine andere Sprache wirklich gut kann und die Voraussetzungen für die Vereidigung erfüllt, wird es trotzdem lange dauern, bis sie davon einmal leben kann. Sie sollte mit Refugio und anderen Organisationen Kontakt aufnehmen, sich auf alle Aufgaben gut vorbereiten und sich erst mal die Hoffnung abschminken, davon leben zu können.

Gegenwind:

Wie ist denn das Verhältnis von Dolmetscherinnen untereinander? Hilft man sich oder gönnt man sich die Termine nicht?

Anja Yüksel:

Schwer zu beurteilen. Als Dolmetscherin ist man total alleine. Man hat selten die Situation, abgesehen von den Dolmetscher-Treffen, wo man wirklich mit anderen zusammen kommt. Ich habe einen Kollegen, mit dem ich gut in Kontakt bin, wir teilen uns schriftliche Übersetzungen und unterstützen uns. Das ist aber von der Persönlichkeit abhängig. Es gibt viele Einzelkämpfer, und andere arbeiten zusammen.

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