(Gegenwind 222, März 2007)

Interview mit dem "Cap Anamur"-Kapitän Stefan Schmidt

"Wir begreifen es bis heute nicht"

"Cap Anamur"-Kapitän Stefan Schmidt

Gegenwind:

Wie lange sind Sie zur See gefahren? In wie vielen Ländern, in wie vielen Häfen waren Sie schon?

Schmidt:

Zur See gefahren bin ich von 1958 bis 1977, und Länder und Häfen kenne ich rund um die Welt. Bis auf Indien bin ich überall gewesen.

Gegenwind:

Haben Sie schon mal Schiffbrüchige gerettet?

Schmidt:

Ich habe keine gesehen und keine gerettet.

Gegenwind:

Sie haben im Juni 2004 im Mittelmeer Schiffbrüchige aufgenommen. Hätten Sie irgendwo auf der Welt solch eine Reaktion im Hafen erwartet?

Schmidt:

Überhaupt nicht. Das ist ja unbeschreiblich, dass ein deutschen Hilfsschiff einen europäischen Hafen nicht anlaufen darf. Es war nicht zu begreifen, warum so etwas passiert, und wir begreifen es heute noch nicht.

Gegenwind:

Sie haben vorher sicherlich diskutiert, dass es im Mittelmeer Boote gibt, mit denen Flüchtlinge nach Spanien, Italien oder Griechenland wollen. Haben Sie mit der Begegnung mit Schiffbrüchigen gerechnet? Hört man was als Kapitän?

Schmidt:

Ja, man sieht es. Es gibt das sogenannte Navtex, also die Verkehrswarnung für Seeschiffe. Da kommen jeden Tag drei oder vier Meldungen, dass irgendwo Boote gesichtet wurden, die am Untergehen sind oder die schon untergegangen sind und die Leute weg sind. Und wenn man da fährt, muss man aufpassen, dass man nicht drüber fährt.

Gegenwind:

Kann im Mittelmeer ein Flüchtlingsboot unbeobachtet übersetzen?

Schmidt:

Ich glaub das nicht. Wir wurden jeden Tag mindestens zweimal von einem Flugzeug ganz tief überflogen, einem italienischen, die uns sicherlich auch fotografiert hat. Wir wurden jeden Tag zweimal von Kriegsschiffen abgefragt, wer wir sind, wo wir hinwollen. Und wir wissen aus sicherer Quelle, dass das ganze Mittelmeer ständig von Satelliten meterweise beobachtet wird. Ich glaube nicht, dass dort irgend jemand unbeobachtet rüberkommt.

Gegenwind:

Als das Boot mit den Flüchtlingen in Sicht kam, gab es da was zu überlegen? Ansprechen oder weiterfahren? Hingucken oder weggucken?

Schmidt:

Wir haben es erst mal gar nicht geglaubt. Es war so weit auf See, solch ein kleines Schlauchboot, dass man gar nicht dran denken kann, dass sich damit Idioten auf die hohe See wagen. Wir haben erst gedacht, das wären Arbeiter von der Ölplattform, die dort in der Nähe war. Erst als sie nicht darauf zufuhren, sondern daran vorbei und anfingen mit ihrem roten Pullover zu winken, haben wir gemerkt, dass da etwas nicht stimmt. Man sah dann auch, dass der Motor qualmte, und wir haben hinterher festgestellt, dass da kein Öl drin war, was sonst automatisch zum Benzin dazu gemischt wird. Außerdem hatte das Boot schon Luft verloren. Wir haben hinterher festgestellt, dass sie bis zur nächsten Küste noch ungefähr drei Tage hätten fahren müssen, wenn der Motor funktioniert hätte, aber sie hatten auch schon kein Wasser mehr. Ich bin ja auch Lehrer an der Seemannsschule, und wir wissen und unterrichten da, dass ein Mensch gerade mal drei Tage ohne Wasser auskommen kann. Sie waren aber schon drei Tage unterwegs.

Gegenwind:

Hatten Sie eine Wahl, was sie als nächstes tun?

Schmidt:

Nein. Wenn ich sie nicht gerettet hätte, wäre ich in Deutschland ins Gefängnis gekommen, das ist ja unterlassene Hilfeleistung. Ganz klar.

Gegenwind:

Hätte das denn jemand angezeigt?

Schmidt:

Ich hoffe das.

Gegenwind:

Sie haben die Schiffbrüchigen an Bord genommen. Welche Möglichkeiten hatten Sie dann als nächstes? Sie hatten ja ausreichend Nahrungsmittel an Bord, Sie hatten Wasser.

Schmidt:

In der Beziehung haben wir gar kein Problem gehabt. Wir hatten genug, Wasser mussten wir ein wenig rationieren, aber wir hatten auch einen Apparat an Bord, der Trinkwasser herstellte. Wir hatten genug Treibstoff, um um die halbe Welt zu fahren. Und Nahrungsmittel hatten wir containerweise, weil wir ja ab Oktober für die UNHCR vor der westafrikanischen Küste Flüchtlinge fahren sollten. Es war alles vorhanden. Aber natürlich wollten wir die nicht lange an Bord behalten. 37 junge kräftige Männer, die eigentlich nach Italien wollen, wenn man die im Ungewissen lässt, kann eine brenzlige Situation entstehen. Wir wollten die so schnell wir möglich an Land bringen. Wir hatten uns Lampedusa ausgesucht, weil das der nächste Hafen war. Wir sahen aber in unseren Handbüchern, dass wir da nicht reinkönnen, zu klein. Nur Kapitäne, die den Hafen kennen, dürfen ihn anlaufen. Das ging nicht, dann wurde von Land aus gesagt, fahrt mal nach Sizilien. Agrigent oder Porto Empedecle.

Gegenwind:

Wussten die italienischen Behörden, dass es Flüchtlinge sind?

Schmidt:

Ja, klar. Sie wussten es mindestens einen Tag bevor wir Sizilien angelaufen haben. Ich hatte Namen, alle Daten, die uns gesagt wurden, weitergegeben. Wir wussten natürlich nicht, ob die stimmen, aber alles inklusive Passfotos hatten wir rübergeschickt.

Gegenwind:

Gibt es auf hoher See Vorschriften, was man mit Schiffbrüchigen zu machen hat als Kapitän.

Schmidt:

Nein. Man muss sie nur auffischen und dann wird man allein gelassen. Das ist bis vor kurzem so gewesen, dass auch die International Maritim Organisation keine Vorschriften hatte. Jetzt haben sie als Empfehlung an Küstenstaaten gegeben, dass sie doch bitte so schnell wie möglich die Geretteten den Kapitänen abnehmen sollen. Das gab es zu unserer Zeit, 2004 noch nicht.

Gegenwind:

Glauben Sie, dass es jetzt leichter wäre, einen italienischen Hafen mit Schiffbrüchigen anzulaufen?

Schmidt:

Also, nein, eigentlich nicht. Die IMO hat ja auch kein Durchsetzungsvermögen. Es gibt jetzt eine Vorgabe, was gemacht werden sollte, aber sie haben keine Handhabe zu sagen, du musst das jetzt machen. Im Grunde genommen passiert es ja andauernd, dass irgendwelche Flüchtlinge aufgefischt werden. 14 Tage später hat ein deutsches Schiff auch Flüchtlinge aufgefischt, die trieben allerdings schon 10 Tage in der Gegend rum und die Hälfte war schon tot, den Rest haben sie in Sizilien abgeliefert und sind einen Tag später wieder ausgelaufen. Denen ist gar nichts passiert.

Gegenwind:

Wissen Sie, was aus Ihren Flüchtlingen geworden ist?

Schmidt:

Teilweise. Zwei sind noch in Italien, die italienischen Behörden sagen, weil sie die Wahrheit gesagt haben. Die anderen haben alle gesagt, sie sind aus Darfur, also dem Bürgerkriegsgebiet im Sudan. Wir haben nie gesagt, wir wissen, dass sie aus Darfur sind, wir haben immer gesagt, sie sagen, sie sind aus Darfur. Wir können das nicht prüfen, sie hatten gar nichts dabei. Es kamen zwei italienische Missionare zu uns, die lange im Sudan gearbeitet haben, die haben uns bestätigt, dass mindestens die Hälfte aus Darfur kam. Sie kannten dort so viele Orte, die man sonst gar nicht kennen kann. Die sind also alle abgeschoben worden bis auf die zwei. Von denen, die abgeschoben worden waren, hat Elias Bierdel die Hälfte wieder gefunden. Und es ist noch ein Fernsehteam dort gewesen und hat mit ihnen Interviews gemacht. Wo die andere Hälfte ist, wissen wir nicht. Wir wissen nur, einer von denen hat es noch mal versucht und ist im April 2006 auf dem Weg nach Italien ertrunken. Mohammed Yussif wurde 28 Jahre alt.

Gegenwind:

Warum haben denn die italienischen Behörden auf Sie so allergisch reagiert?

Schmidt:

Inzwischen ahnen wir das, weil der Oberstaatsanwalt selber im Fernsehen in einem Interview gesagt hat, sie hätten damals verhindern müssen, dass Hilfsschiffe wie ein Trojanisches Pferd Menschen ins Land bringt. Das hört sich aber genauso an, als ob sie verhindern wollen, dass irgendwelche Schiffe überhaupt Schiffbrüchige auffischen. Die haben zum Beispiel ihren italienischen Fischern grundsätzlich per Gesetz verboten, Flüchtlinge aufzufischen, was eigentlich nach dem Seemannsgesetz gar nicht geht. Aber sie haben gesagt: Fischer, wenn ihr jemanden seht, der untergeht, dann tut nichts, sondern ruft die Küstenwache. Wenn sie Pech haben, kommt die Küstenwache einen Tag später, und dann sind die schon längst weg.

Gegenwind:

Die Organisation Cap Anamur ist ursprünglich gegründet worden, um vietnamesische Boatpeople zu suchen und aufzunehmen. Also die Organisation sollte Schiffbrüchige nicht zufällig treffen, sondern nach den Menschen auf untauglichen Booten suchen. Hat die italienische Regierung Angst, dass jetzt ein neues Schiff vor Italien kreuzt und Menschen rettet?

Schmidt:

Keine Ahnung. Ich glaube, dass es mehr darauf zielte, das allen Kapitänen zu sagen, nicht nur speziell uns. So hörte sich das jedenfalls an, was der Staatsanwalt sagt.

Gegenwind:

Haben Sie eine Ahnung, wie viele Menschen Italien aufnehmen müsste, wenn alle Schiffbrüchigen gerettet würden?

Schmidt:

Nein, das ist schwer zu sagen. Man rechnet, dass für jeden der ankommt, ein zweiter tot ist. Aber das sind keine sicheren Zahlen. Man weiß letztlich nicht, wie viele abfahren. Man weiß es nur, wenn Tote angetrieben werden, und man weiß es, wenn ein Boot ankommt, die Flüchtlinge aber erzählen, dass zwei Boote losgefahren sind, und das andere ist weg. Dann weiß man ungefähr, wie viele es waren. Aber merkwürdig ist ja, dass Italien jedes Jahr eine sehr geringe Zahl von Migranten aufnehmen wollte, bevor Prodi die Wahlen gewann. Diese Zahl haben sie jetzt unter Prodi drastisch auf eine halbe Million erhöht. Unsere 37 haben sie aus dem Land geprügelt, und kurz danach haben sie gesagt, wir brauchen eine halbe Million pro Jahr. Das ist nicht zu verstehen, aber es war so.

Gegenwind:

Wie sind Sie an Land empfangen worden? Es gibt ja nicht nur den Staatsanwalt, sondern auch Polizisten, Mitgefangene, normale Menschen...

Schmidt:

Die einzig Unfreundlichen waren die Bosse von den Behörden. Schon ein bisschen tiefer waren sie freundlich. Die Polizisten, die uns ins Gefängnis gefahren haben, haben uns unterwegs ein Eis ausgegeben und gesagt, sie entschuldigen sich dafür, sie müssen nur ihren Job tun. Im Gefängnis genauso, wir waren halbwegs die Helden. Schlecht ist es uns da nicht ergangen, obwohl ich nicht noch mal dort hin möchte. Wir haben wenig mitgekriegt, weil wir eben im Gefängnis saßen. Aber wir hatten einen kleinen Fernseher, und die anderen haben uns erzählt, was war. Die Bevölkerung, die Grünen, Gewerkschaften haben jeden Tag Riesenaktionen gemacht. Überall waren Plakate "Lasst sie frei" und so, das war schon gut. Und auch die großen Zeitungen waren voll, und alle auf unserer Seite. Das war nicht so wie die Zeitungen in Deutschland, die schrieben, sie haben die Flüchtlinge nur aufgefischt, um ins Fernsehen zu kommen.

Gegenwind:

Wenn Deutsche im Ausland ins Gefängnis kommen, bekommen sie Unterstützung von der Botschaft. Kann man sich darauf verlassen?

Schmidt:

Überhaupt nicht. Der einzige, der uns besucht hat, war der Agrarattaché. Der war sehr freundlich, hatte aber überhaupt keine Ahnung. Er hat versucht, uns Unterhosen zum Wechseln ins Gefängnis zu bringen, was aber am Gefängnisdirektor scheiterte. Sonst kam nichts von der Botschaft. Einmal habe ich ein Telefonat entgegen genommen, da hat sich einer von den Höheren halbtot gelacht und gesagt, wenn wir die Flüchtlinge in Italien nicht loswerden, dann müssten wir sie eben an Bord behalten, das fand er lustig.

Gegenwind:

Wer hat sich um einen Anwalt gekümmert?

Schmidt:

Die Organisation Cap Anamur.

Gegenwind:

Sie waren jetzt am 2. Sitzungstag beim Prozess. Wie ist dort die Stimmung, was passiert dort?

Schmidt:

Vom ersten Verhandlungstag hat Elias erzählt, da war ein Riesenrummel, Zeitungen und Fernsehen und alle waren da. Sie waren viel freundlicher als früher, auch die Deutschen. Als ich da, haben wir gar keine Medien da gehabt, nur ein Professor aus Palermo, ein Menschenrechtler.

Gegenwind:

Was wird denn dort verhandelt?

Schmidt:

Das sind Akten über einen halben Meter, die der Staatsanwalt gesammelt hat. Unsere italienischen Anwälte haben es alles gelesen, da steht eigentlich gar nichts gegen uns drin, haben sie gesagt. Trotzdem hat die Richterin eine Hauptverhandlung eröffnet. Der Anklagepunkt wird aufrechterhalten, das ist Beihilfe zur illegalen Einreise, und zwar bandenmäßige Beihilfe in einem besonders schweren Fall. Bandenmäßig, weil sie noch den 1. Offizier zu Elias und mir genommen haben, ab drei sind wir eine Bande. Und ein besonders schwerer Fall, weil es mehr als zwei, drei Leute waren.

Gegenwind:

Was kommt dabei raus? Wie ist Ihre Prognose?

Schmidt:

Klar, sie werden uns freisprechen. Wenn sie es im ersten Prozess nicht machen, werden wir in Berufung gehen. Wir werden nicht mal einen kleinen Teil Schuld auf uns sitzen lassen, weil wir die nicht haben. Wäre ja noch schöner, wenn Leute, die Menschen retten, ins Gefängnis kommen.

Gegenwind:

Wie sind die Reaktionen hier? Ein Lübecker Kapitän hat mit einem Lübecker Schiff Menschen gerettet. Kamen Glückwünsche vom Bürgermeister und Innenminister?

Schmidt:

Über den Innenminister weiß ich nichts. Der Bürgermeister hat zur Taufe des Schiffes hier in Lübeck eine Rede gehalten und hat gesagt, ganz Lübeck steht hinter uns. Aber das hat er wohl vergessen. Jetzt wollte ich ihm das Buch von Elias Bierdel überreichen, aber Bernd Saxe war dazu nicht bereit. Er hatte keine Zeit.

Gegenwind:

Gibt es sonst Reaktionen hier in Schleswig-Holstein?

Schmidt:

Von Lehrern und Schüler sind die Reaktionen gut, wir halten ja auch in Schulen gelegentlich Vorträge. Das ist sogar sehr gut, wie die Schüler darauf eingehen, wie betroffen sie sind, das ist toll. Und die Grünen sind auch auf unserer Seite, Anke Erdmann und Angelika Beer. Die Lübecker Nachrichten berichten immer sehr positiv, "Lübeck online" oder der Offene Kanal auch.

Gegenwind:

Hatten Sie sich mehr versprochen?

Schmidt:

Ja, von der Politik schon, zumindest damals. Aber die einzige, die sich damals sehr positiv geäußert hat, war die Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Andere haben mal kurz gesagt, nun lasst sie mal frei, dann war aber auch gut. Kurz vor der Bundestagswahl passte es nicht so.

Gegenwind:

Steht der Verein Cap Anamur hinter Ihnen? Elias Bierdel war ja damals Vorsitzender und wurde abgewählt.

Schmidt:

Der Verein unterstützt uns, und er bezahlt unsere Anwälte. Da kann ich nichts Negatives sagen.

Gegenwind:

Fühlen Sie sich als Teil der großen Politik missbraucht?

Schmidt:

Wir sind zufällig hineingeraten in die Politik, das muss man so sagen. Aber je mehr ich hineingerate, desto mehr interessiert es mich, auch die Hintergründe zu kennen. Je mehr man hinter die Kulissen guckt, desto mehr mochte man wissen, was dort außerhalb des Teils des Eisbergs, den man sehen kann, passiert.

Interview: Reinhard Pohl

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