(Gegenwind 222, März 2007)
Der Lübecker Kapitän Stefan Schmidt hat im Sommer 2004 auf einer Fahrt im Mittelmeer 37 afrikanische Flüchtlinge aus Seenot gerettet. Er wurde wegen Schlepperei angeklagt. Seit November letzten Jahres wird ihm auf Sizilien der Prozess gemacht.
Seit dem 27. November 2006 steht Stefan Schmidt zusammen mit dem Erste Offizier Vladimir Datschkewitsch und dem damaligen Leiter der Hilfsorganisation "Cap Anamur" Elias Bierdel vor Gericht. Die Anklage lautet "Beihilfe zur illegalen Einreise in einem besonders schweren Fall". Übersetzt ist das der Vorwurf bandenmäßiger Schlepperei. Den dreien, die auf dem Rettungsschiff "Cap Anamur" im Mittelmeer unterwegs waren, wird zur Last gelegt, sie hätten als Schlepperbande Menschen geschmuggelt und zwar zur eigenen Bereicherung. Sollte es zu einer Verurteilung kommen, drohen den Angeklagten bis zu zwölf Jahre Haft. Ein Ende des Prozesses ist nach den ersten Monaten nicht in Sicht - das Verfahren wird sich über Jahre hinziehen.
Was war geschehen? Vor drei Jahren - am 29. Februar 2004 - lief die "Cap Anamur" in Lübeck aus mit Kurs auf Westafrika: Die Fracht bestand aus Hilfsgütern. Von Westafrika aus nahm die "Cap Anamur" Kurs auf das Mittelmeer. Im Frachtraum befand sich eine komplette Krankenhaus-Ausstattung für den Irak, der über Jordanien per LKW Richtung Bagdad gelangen sollte. Ende Mai musste die Fahrt aufgrund von Reparaturarbeiten unterbrochen werden. Es wurde auf Malta festgemacht.
Bei einer der darauf folgenden Testfahrten, am 20. Juni, nahm die "Cap Anamur" 37 Schiffbrüchige an Bord. Die afrikanischen Männer waren mehrere Tage unterwegs gewesen und fanden sich nun in einem navigationsunfähigen Schlauchboot wieder: ohne Trinkwasser, der Motor ausgefallen und es stand Wasser im Boot. Die Küste Libyens war knappe 50 Seemeilen, die Lampedusa und Malta doppelt bzw. vierfach soweit entfernt.
Es folgte ein zermürbendes Hin- und Her. Eine erteilte Einfahrtgenehmigung für den Hafen von Porto Empedocle wurde ohne Begründung zurückgezogen. Einer der Zeugen, ein Marschall der Hafenbehörde und Offizier der Küstenwache sagte am zweiten Prozesstag, die Behörde habe die Ankunft von Schiffbrüchigen an das Innenministerium gemeldet. Dort ging man aber von einer illegalen Einreise aus und gab die Order aus, das Schiff nicht einlaufen zu lassen. Deutlicher geht es kaum: Die Blockade der "Cap Anamur" ging auf unmittelbare Weisung aus Rom zurück.
Fast zwei Wochen lang wurde die "Cap Anamur" von Militärschiffen belagert und am Einlaufen in den italienischen Hafen gehindert. In dieser Zeit wuchs das Medieninteresse an dem Rettungsschiff, das die "boatpeople" aus dem Mittelmeer aufgenommen hat.
Die Dramen, die sich seit Jahren an den Küsten des südlichen Europas und abseits der öffentlichen Wahrnehmung abspielen, bekamen im Juli 2004 endlich Medienaufmerksamkeit.
Doch während in Italien eine Welle der Solidarität mit dem Team der "Cap Anamur" und den Geretteten losbrach, ergab sich in Deutschland ein ganz anderes Bild: Nach und nach mehrten sich die Medienstimmen, die der Frage nachgingen, ob es sich bei der Rettungsaktion um eine Inszenierung der Hilfsorganisation gehandelt habe, ob man Flüchtlinge auf diese Art instrumentalisieren dürfe; der Spiegel berichtet über "Fatale Fischer".
Kaum jemand sprach von dem Skandal, das Europa Tausende an den eigenen Grenzen krepieren lässt und von der Schande, dass einem europäischen Rettungsschiff die Einreise in einen europäischen Hafen verweigert wurde. Regierungsvertreter wurden kaum gefragt, wie man diesem Drama begegnen könne. Welche Maßnahmen sollten denn eingeleitet werden?
Stattdessen äußerte sich der damalige Innenminister Otto Schily und sein italienischer Kollege Beppe Pisanu aus der Berlusconi-Regierung gemeinsam zu dem Fall: Es gehe ihnen vor allem darum, "einen gefährlichen Präzedenzfall zu verhindern". Kein Wunder, denn die Ausmaße der Flüchtlingstragödien auf dem Mittelmeer sind groß - Tendenz steigend. Da will niemand so genau hinsehen.
Da Migration praktisch nur noch unter den Bedingungen der "Illegalität" stattfinden kann, fehlen verlässliche "offizielle" Zahlen zu Abreise und Ankunft. Die französische Menschenrechtsorganisation "Migreurope" hat innerhalb der letzten zehn Jahre knapp 8.000 nachgewiesene Fälle registriert, in denen Menschen auf ihrem Weg nach Europa ums Leben gekommen sind. Doch die Zahl der Toten ist wohl viel höher: Im letzten Sommer sprach die spanische Polizeigewerkschaft bereits von 3.000 Leichen, die allein seit Januar 2006 vor spanischen Küsten geborgen worden seien. Dazu kommen Tausende, die auf der gegenüberliegenden, afrikanischen Seite angespült wurden.
Realistische Schätzungen gehen davon aus, dass die "Versinkrate", also der Anteil von gekenterten oder "verschwundenen" Booten bei mindestens 50 Prozent liegt. Das würde bedeuten, dass allein auf dem Weg in Richtung Kanarische Inseln - und nur im vergangenen Jahr - bereits über 25.000 Menschen ihr Leben verloren hätten. Die Meere durch die die südliche Grenze Europas verläuft sind längst zum "größten Massengrab Europas" geworden.
Kein Wunder, dass die Innenminister "gefährliche Präzedenzfälle" verhindern wollen - nur so kann das Problem aus dem Blickfeld der europäischen Öffentlichkeit herausgehalten werden.
Am 12. Juli 2004 erklärt Stefan Schmidt den Notstand auf der "Cap Anamur", denn die psychische Situation an Bord war in dem zermürbenden Warten, der großen Unklarheit und der ständigen Belagerung brenzlig geworden. Die 37 Geretteten wurden in Abschiebehaft genommen und - mit zwei Ausnahmen - umgehend abgeschoben. Der UNHCR hat den italienischen Behörden vorgeworfen, dabei die internationalen und europäischen Standards missachtet zu haben. Es gab kein Verfahren, keinen Rechtsbeistand. Einen Monat nach der Rettung aus Seenot waren die Menschen auf dem Weg in die Heimat.
Mit der Ankunft auf italienischem Festland wurden aber auch noch drei weitere Männer in Haft genommen: Neben Kapitän Schmidt wurde auch der Erste Offizier des Schiffes und Elias Bierdel, der damalige Kopf der Hilfsorganisation, verhaftet, das Schiff wurde beschlagnahmt.
Dabei tat Kapitän Schmidt nur, was internationalem Seerecht entspricht: Er hat Menschen aus Seenot gerettet und in einen sicheren Hafen gebracht. Dazu war er rechtlich (nicht nur menschlich) verpflichtet. Erst zum 1. Juli 2006 trat allerdings eine Regelung in Kraft, die Staaten nach internationalem Recht verpflichtet, die humanitären Pflichten des Kapitäns zu übernehmen, um dem Schiff die Weiterfahrt mit möglichst kurzer Verzögerung zu ermöglichen. Kapitäne müssen und können nicht entscheiden, ob die Geretteten "Wirtschaftsflüchtlinge" sind oder politische Verfolgte. Dies ist in den jeweiligen Staaten zu klären - in einem ordentlichen Asylverfahren.
Zurück zum "Fall Cap Anamur". Bei diesem Verfahren kann man guten Gewissens von einem politischen Schau-Prozess sprechen. Der Vorwurf der Schlepperei ist schon deshalb schwer nachvollziehbar, bestehen doch die Hauptkennzeichen der "Schlepperei" laut Gesetz vor allem darin, dass diese erstens heimlich und zweitens aus ökonomischen Gründen betrieben wird. Beides trifft auf den vorliegenden Fall aber nicht zu. Die Schiffbrüchigen wurden bei den italienischen Behörden ordnungsgemäß mit Namen, Geburtsdaten und Fotos noch vor Einfahrt in die nationalen Hoheitsgewässer angemeldet. Ein "Versuch der illegalen Einreise" sieht normalerweise anders aus. Geld ist nicht an "Cap Anamur" geflossen - auch nicht, wie teilweise behauptet wird, über den Verkauf von Filmbildern an Bord. Es war zwar ein Filmteam auf dem Schiff, um eine Dokumentation über die Arbeit vom Komitee Cap Anamur zu drehen und die gesamte Fahrt des Rettungsschiffes im Internet zu zeigen. Aber trotz der plötzlichen Medienaufmerksamkeit ist zum einen nur ein Bruchteil des Materials verkauft worden. An das Komitee Cap Anamur ist dabei kein einziger Cent geflossen. Aber dieser Punkt wird erst später im Verfahren aufgerufen. Zeuge der Anklage wird ein Panorama-Reporter sein
Andere Vorwürfe ließen sich da schon schneller aus dem Weg räumen: So wurde Kapitän Schmidt zur Last gelegt, er wäre letztlich mit Gewalt und ohne Rücksicht auf andere Boote in den Hafen eingedrungen. Die Aussagen der Polizisten und Vertreter der Hafendirektion am zweiten Verhandlungstag waren eindeutig: Das Verhalten von Schmidt sei korrekt gewesen.
Kann man nun also auf einen fairen und geordneten Prozess hoffen? In den ersten Verhandlungstagen bot sich Stefan Schmidt und Elias Bierdel jedenfalls ein seltsames Bild der Prozessführung:
"Die Türen zum Verhandlungssaal stehen offen, überall klingeln Mobiltelefone, es wird telefoniert und der Geräuschpegel ist erheblich. Dafür sind die bunten Uniformen der Polizisten hübsch anzusehen, die im Zeugenstand zwar oft die wichtigsten Informationen vergessen haben, dafür aber wilde Mutmaßungen und Interpretationen zum Besten geben", so Schmidt. Das ganze wirke auf ihn "nach deutschem Verständnis von einem integren Gerichtsverfahren sehr ungewöhnlich".
Der Lübecker Stefan Schmidt wird in den kommenden Jahren mehr Tage in Italien verbringen, als ihm lieb sein kann. Und so wird er sich noch mehrere Jahre zwischen zwei ganz unterschiedlichen Rollen wieder finden: Einmal im Monat als mutmaßliches Mitglied einer Schlepperbande in einem Schauprozess, im Rest der Zeit als Menschenretter und lebendes Beispiel für Zivilcourage - kurz vor dem Prozessbeginn wurde er von der Stiftung PRO ASYL geehrt. "Dabei habe ich nur getan, was ein Kapitän eines Schiffes machen musste, von Anfang bis zum Ende." Zusammen mit anderen hat er nun den Verein Border-Line e.V. gegründet, der eine größere Öffentlichkeit für das erreichen will, was an den Grenzen Europas geschieht - meist unbemerkt.
Anke Erdmann