(Gegenwind 220, Januar 2007)

Eine ehemalige Zwangsarbeiterin berichtet

Katarzyna Frankowska
Katarzyna Frankowska

"Ich wollte nie wieder Deutsch sprechen..."

Katarzyna Frankowska, geborene Serodojewa, genannt Baranowska, kam im Frühjahr 1941 als Zwangsarbeiterin in einen Haushalt nach Lunden. Wenig später verletzte sich die 19jährige beim Sirupkochen schwer und wurde etwa zwei Monate auf der Polenstation eines Heider Krankenhauses behandelt. Sie war anschließend kurz bei einer Heider Familie als Haushaltshilfe, danach drei Monate in Garding beim Lebensmittelhändler Kurt Voigt. Es folgten zwei Jahre im Hotel Johann Methmann in Tönning. Danach kam Frau Frankowska Ende 1944 in die Munitionsherstellung zur Maschinenfabrik Köster nach Heide. Als dort das Material ausging, musste sie einige Monate Zwangsarbeit in einem tierfellverarbeitenden Betrieb in Tönning leisten.
Am 17. November 1945 betrat Katarzyna Frankowska wieder polnischen Boden.

In meiner Familie waren die Eltern meiner Mutter, mein Mann und ich Zwangarbeiter.

Mein Mädchenname ist Serodojewa - Baranowska nannte ich mich, bevor ich nach Deutschland verschleppt wurde. Mein Name hat eine Geschichte: Als die russische Armee Polen angriff, wurden viele zwangsumgesiedelt. Mein Vater fürchtete um unsere Familie. Ein sehr guter Mensch half: Um unser Leben zu schützen, veränderten wir mit seiner Hilfe unsere Namen, so dass sie nicht polnisch, sondern russisch klangen.

Ich besuchte die Oberschule in Suwalki, das ist eine Stadt im Nordosten Polens und arbeitete danach in einem Büro. Ich bereitete Rechnungen vor, schrieb diese und bearbeitete alle damit zusammenhängenden Fragen. Das Leben war gut. Meine Familie wohnte in einem großen Haus. Jedes Kind hatte sein eigenes Zimmer, die Nachbarn waren sehr freundlich. Ich war glücklich, es fehlte uns an nichts. Ich hatte viele Träume und war zuversichtlich, dass die meisten ganz bestimmt in Erfüllung gehen würden.

Am Grab von Boleslaw Frankowski, einem Neffen aus der Familie ihres Mannes
Am Grab von Boleslaw Frankowski, einem Neffen aus der Familie ihres Mannes, von dessen Tod als Zwangsarbeiter sie zwar wusste, aber nicht von dessen Grab auf dem Heider Südfriedhof, auf das sie völlig unvorbereitet stieß

Am Tag, als der Krieg ausbrach, waren wir zu Hause. Vom Fenster aus sah ich, wie die Gebäude um uns herum in Flammen aufgingen. An der Strasse waren sehr viele Blumen - nun war alles unheimlich schwarz, man konnte überhaupt nichts mehr erkennen. Jeder betete unaufhörlich. Meine Mutter schrie verzweifelt: "Wieder Krieg und Blutvergießen, warum??".

Am nächsten Morgen war es muckmäuschenstill. Man konnte meinen, alles wäre nur ein Alptraum gewesen. Aber leider war es kein Alptraum. Ich überlegte, warum musste ich in solcher Zeit geboren sein, warum musste ich solch furchtbare Situationen erleben. Da wusste ich noch nicht, dass das erst der Anfang war und alles noch viel, viel schlimmer kommen sollte.

Eines Morgens, Anfang September, ungefähr um 8 Uhr, rückten die Deutschen in unseren Ort ein. Wer auch nur den Anschein von Gegenwehr machte, wurde ohne Erklärung sofort erschossen. Es gab keine Möglichkeit, zu flüchten, wir mussten uns den deutschen Soldaten ergeben. Meine Eltern warfen sich gegenseitig vor, nicht rechtzeitig in ein anderes Land geflohen zu sein, wo keine Gefahr drohte.

v. links: Georg Gerchen vom AK Widerstand und Verfolgung im nationalsozialistischen Dithmarschen, Magdalena Wida und Dr. Dietrich Stein vom Verein für Dithmarscher Landeskunde in der Kirche zum Heiligen Kreuz in Gudendorf
v. links: Georg Gerchen vom AK Widerstand und Verfolgung im nationalsozialistischen Dithmarschen, Magdalena Wida und Dr. Dietrich Stein vom Verein für Dithmarscher Landeskunde in der Kirche zum Heiligen Kreuz in Gudendorf

"Die Menschen wurden in eine Scheune gejagt - und die Deutschen setzten sie dann in Brand"

Fast anderthalb Jahre vergingen. Mein Bruder und mein Vater gingen auf's Feld - aber fast die gesamte Ernte wurde von der deutschen Armee einkassiert. Meine Mutter, meine Schwester und ich arbeiteten im Krankenhaus und halfen den Ärzten, verletzte Polen und in dringenden Fällen auch Deutsche, zu behandeln. Das war unangenehm, überall war immer Blut um uns herum. Doch wir waren sehr froh, dazu beitragen zu können, Leben zu retten.

Die echte Hölle begann im März 1941: Deutsche stürmten unser Haus und nahmen ohne jede Erklärung meinen Vater und mich mit. Wir vermuteten gleich warum. Eine Woche zuvor hatten wir nämlich polnischen Partisanen mit Kleidung, Essen usw. geholfen. Und nun hatte uns ganz offenkundig jemand bei den Deutschen denunziert, vielleicht aus Angst oder um sich so selbst zu schützen.

Ich konnte mich nicht mehr von meiner Familie verabschieden und war fast besinnungslos vor Angst, sie nie wieder zu sehen. Ich war voller Entsetzen, wie nie zuvor in meinem Leben. Ein bisschen ruhiger wurde ich erst, als ich richtig mitbekam, daß ja mein Vater bei mir war. Wir wurden mit lauten, kurz abgehackten Befehlen auf einen Lastwagen gescheucht - zu vielen anderen, die sich schon zusammengekauert und völlig verängstigt auf der Ladefläche befanden. Es waren dort Frauen, Kinder, Männer und ein Pfarrer. Der betete ununterbrochen: "Alles wird gut, der Glaube kann Wunder vollbringen". Es wurden brüllend immer mehr Menschen eingesammelt und als wirklich niemand mehr auf das Auto passte, verließen wir unseren Ort. Aufgeregt schrieen alle wild durcheinander, keiner wusste, was die Deutschen mit uns vorhatten, denn sie sprachen nicht mit uns. Sie gaben nur kurze Kommandos und Befehle in einer Tonart, dass keiner zu fragen wagte - und erst recht nicht zu protestieren oder zu flüchten.

Irgendwann machte der Lkw unterwegs plötzlich einen Stopp. Wieder kamen kurze, schnarrende Befehle, dass jeder, dessen Name aufgerufen wurde, vom Lkw runter musste. Mein Vater war auch darunter. Wir wurden voneinander getrennt. Es war fürchterlich, und wir beide mussten sehr weinen. Wir konnten uns nichts mehr sagen, nicht richtig umarmen, keinen Abschied voneinander nehmen, die Soldaten waren unberechenbar und duldeten nicht, dass man nicht sofort das tat, was sie befohlen.

Die ehemaligen polnischen ZwangsarbeiterInnen und ihre Begleitpersonen bei einem Besuch im Meldorfer Dom
Die ehemaligen polnischen ZwangsarbeiterInnen und ihre Begleitpersonen bei einem Besuch im Meldorfer Dom

Ich konnte noch kurz vor der Weiterfahrt sehen, wie die Gruppe, unter ihnen auch der Pfarrer, im Laufschritt zu einer nahe gelegenen Scheune gejagt wurde. Als sie voller Menschen war und niemand mehr rein passte, haben die Soldaten sie in Brand gesetzt (was ich erst viel später erfahren habe). Mein Vater war auch in der Scheune.

"Die Frauen mussten sich nackt ausziehen"

Wir waren inzwischen weitergefahren. Nun allein, fast verrückt vor Angst um meinen Vater und meine Familie, ging die Fahrt bis zu einer Bahnhofsstation. Dort standen Zugwaggons ohne Fenster - Viehwaggons. Soldaten schrieen, dass wir alle da rein müssen. Drinnen waren sehr viele Leute, 40, 50, vielleicht auch mehr. Auf dem Boden war ein bisschen Stroh. Teilweise lag fast jeder auf jedem, wie Sachen gestapelt.

Während der Fahrt spürte man die Angst aller. Manche stöhnten, viele weinten, andere redeten völlig durcheinander. Ich hatte auch Angst, große Angst. Ich sprach aber zu mir selbst, dass Angst und Weinen auch nicht weiterhilft. Trotzdem hatte ich sie, die Angst - und ich weinte auch.

Wer sein großes oder kleines Geschäft verrichten musste, tat dies in einer Ecke - irgendwie. Vor allen anderen. Es war furchtbar. Und es stank entsetzlich.

Der Dithmarscher Landrat Dr. Jörn Klimant mit den polnischen Gästen nach dem Empfang im Kreishaus
Der Dithmarscher Landrat Dr. Jörn Klimant mit den polnischen Gästen nach dem Empfang im Kreishaus

Unterwegs hielt der Zug einmal. Alle Frauen mussten aus dem Waggon aussteigen und sich draußen vollständig nackt ausziehen. Dann wurden wir in eine Art großes Badezimmer geschickt und mussten danach - immer noch nackt - vor deutschen Offizieren antreten. Die winkten sich, in dem sie mit ihren Fingern auf bestimmte Mädchen zeigten, die schönsten Frauen raus. Wir anderen durften uns wieder anziehen und wurden in die Viehwaggons zurückgescheucht. Von den Mädchen, für die sich die Offiziere entschieden hatten, hat nie wieder jemand was gehört.

Wir fuhren fast eine Woche, das war schrecklich, es war schwül. Wir hatten Durst und Hunger. Wir sahen auf der ganzen, langen Fahrt nie den Himmel. Unterwegs starben viele Leute. Sie wurden wie Müll rausgeschmissen. Niemand sagte mehr etwas. Man hörte ringsherum nur Weinen. Weinen und Stöhnen. Alle wollten raus, aber das war unmöglich. Trotzdem bemühten wir uns, miteinander mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Alle überlegten: "Was kommt? " Das Gebet half sehr viel.

Pfingsten 1941 in Neumünster

Nach endloser Fahrt trafen wir in Neumünster ein. Ich sah die Sonne, ich fühlte die Luftbewegung. Frische Luft - das war für mich schon fast wie die Freiheit. Von Krieg nichts zu spüren. Wenn die Umstände nicht so waren, wie sie waren, wäre das ein Tag zum Genießen gewesen. Sich den Ort angucken, spazieren gehen, Menschen kennen lernen...

Was wir hier sollten, wie lange es dauern, wie es mit uns weitergehen würde - kein Wort von alledem. Drei Tage hauste ich mit den anderen in einem Kino oder öffentlichen Gebäude - in Deutschland feierte man Pfingsten. In den Ort durften wir natürlich nicht. Im Grunde genommen durften wir uns überhaupt nicht bewegen.

K. Frankowska und Enkelin Agnieszka vor dem Haus des früheren Lebensmitteleinzelhändlers Kurt Voigt in Garding
K. Frankowska und Enkelin Agnieszka vor dem Haus des früheren Lebensmitteleinzelhändlers Kurt Voigt in Garding

Von Neumünster ging es nach Heide. Im Arbeitsamt in der Ernst-Mohr-Straße haben wir ein, zwei Nächte in Etagenbetten verbracht, draußen gab es endlich auch Wasser zum Waschen - kaltes Wasser, aber Wasser. Wir wurden registriert, aufgeteilt und bekamen Nummern.

Eine Gruppe, darunter ich, wurde nach Lunden gebracht, wo sich deutsche Frauen Menschen aussuchten. Sie zeigten mit dem Finger auf jene, die sie haben wollten. So begann ich, bei Johann Klusen (?) zu arbeiten. Der Bauer hatte Frau und zwei Kinder (von denen eines an der Front umkam). Außer mir war noch eine andere Zwangsarbeiterin dort, ein 15jähriges Mädchen - Helena Chyza.

Mein Schlafplatz war auf dem Dachboden, wo es sehr dunkel und im Sommer unheimlich schwül war.

Zu meinen täglichen Aufgaben gehörte: Waschen, Aufräumen, Kochen, die Tiere zu versorgen und alle Arbeit im Feld und Garten zu verrichten. Gearbeitet wurde von frühmorgens bis in den Abend hinein, 10, 11 Stunden, manchmal auch mehr, je nachdem, wie viel zu tun war. Frei gab es nur sonntags, wenn überhaupt. Am freien Tag konnten wir aber von anderen Deutschen ausgeliehen werden, um zum Beispiel dann dort im Haushalt zu arbeiten oder das Grundstück zu säubern.

Im Gegensatz zur Bäuerin ging der Bauer mit mir gut um, das half mir Deutsch zu lernen. So wurde das Leben für mich etwas einfacher.

Eine Situation habe ich deutlich in Erinnerung behalten. An einem Samstagnachmittag, putzte Helena die Treppe, während ich das Abendbrot vorbereitete. Die Bäuerin kam, um uns zu kontrollieren, ob wir die befohlene Arbeit auch machten. Sie war wütend, dass Helena nicht die Treppe machte, sondern bei mir in der Küche war und fing an, sie fürchterlich zusammenzuschlagen. Ich versuchte ihr zu erklären, dass Helena mit mir gemeinsam das Essen vorbereiten wollte und eben damit begonnen hatte. Die Frau sagte nun nichts. Solche Situation gab es später dann nie mehr. Trotzdem wollte ich dort eigentlich bis zum Ende des Krieges bleiben, weil ich glaubte, dass er bald vorbei sei. Die Arbeit war nicht leicht, aber man kann sich an alles gewöhnen. Ich sprach darüber mit Helena. Sie war noch ein Kind, ihre Eltern waren auf der Flucht umgekommen.

Als ich dann von Lunden wegmusste, sah ich Helen nie mehr. Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist.

K. Frankowska mit anderen beim Krabbenpuhlen
K. Frankowska mit anderen beim Krabbenpuhlen

Das Essen war dort übrigens dasselbe wie das der Bauern. Ich musste keinen Hunger leiden. Ich bekam von ihnen auch Kleidung. Den ganzen Tag über war ich in der Regel im Haus, nur ab und zu machte ich im Ort Einkäufe.

Nach vier Monaten kam ich im Sommer 1941 in die Ausländerbaracke des Krankenhauses in Heide/Holstein: ich hatte mir beim Sirupkochen aus Rüben die Hand schwer verbrannt und konnte nicht arbeiten.

Nach Hause hätte ich nur als Tote, allenfalls als Schwerstkranke, die den Deutschen nichts mehr nutzt, gekonnt. Aus der Polenkrankenstation kam ich - ebenfalls in Heide - für knappe drei Monate in einen Haushalt mit sieben Kindern. Der Mann arbeitete als Kommandant von französischen Kriegsgefangenen außerhalb des Ortes.

"Ich durfte entscheiden, was gegessen wird!"

Bald darauf wurde ich für - wiederum so etwa drei Monate - zu Kurt Voigt nach Garding geschickt. Seine Familie hatte ebenfalls sieben Kinder, und hier musste ich im Haushalt sowie im dazugehörigen Lebensmittelgeschäft helfen. Das war eine sehr, sehr gute Familie. Ich durfte am gleichen Tisch essen - und manchmal sogar entscheiden, was ICH gerne essen wollte.

Hier ging es mir relativ gut, denn die Familie behandelte mich wie einen Menschen. Ich freute mich, bis jetzt überlebt zu haben. Ich hatte inzwischen gelernt und wusste, dass Weinen auch nicht hilft, trotzdem musste ich es oft. Es half mir unsagbar, wenn mich dann die Voigt'schen Kinder, die dies sahen, einfach in den Arm nahmen und mich zu trösten versuchten. Was mich aber wirklich am Leben hielt, war die Hoffnung - dass es meiner Familie einigermaßen gut geht, dass sie überlebt, dass der Krieg irgendwann einmal zu Ende ist und ich wieder zu meiner Familie, nach Hause kann.

Peter, der Sohn des Meisters Willy Schumacher, zeigt K. Frankowska Fotos mit seinem 1973 verstorbenen Vater und der Firma Köster
Peter, der Sohn des Meisters Willy Schumacher, zeigt K. Frankowska Fotos mit seinem 1973 verstorbenen Vater und der Firma Köster

Als Herr Voigt zur Wehrmacht eingezogen wurde, musste seine Frau das Geschäft aufgeben, und ich wurde erneut woanders hin befohlen, und zwar in das Hotel von Johann Methmann in Tönning. Das Hotel hatte 18 Zimmer, und es gab auch ein Restaurant. Hier blieb ich nun etwa zwei Jahre.

Im Hotel waren die Deutschen nicht freundlich. Dort arbeiteten polnische und ukrainische Zwangsarbeiter. Jeder hatte seinen Aufpasser, der haargenau kontrollierte, ob alles so wie befohlen gemacht wurde. Menschen waren wir für die nicht, vielleicht so etwas wie irgendwelche Kreaturen. Es war wirklich nicht leicht. Weil wir zusammenhielten, überstanden wir das. Der Kontakt unter den ZwangsarbeiterInnen war überhaupt nicht gern gesehen und wurde ständig genauestens kontrolliert, man befürchtete, dass wir eine Verschwörung machen könnten. Gut war nur, dass sie uns nicht verstanden, wenn wir untereinander sprachen. Aber manchmal verboten sie uns auch das.

Ich putzte, räumte die Zimmer auf und servierte das Essen für die Hotelgäste. Das Essen selbst bereiteten andere zu. Wir arbeiteten von sehr früh morgens bis spätabends. Ich wohnte in einem klitzekleinen Zimmer mit zwei anderen Mädchen, Barbara und Maria, zusammen. Die Männer der beiden waren im Konzentrationslager. Im Raum, wo ich schlief, waren drei Matratzen mit Stroh in einer Kiste, die aus Brettern zusammengebaut war. Das war alles. Das wichtigste allerdings war, dass man lebt, überlebt. Aber die Frage war, wie. Die Deutschen meinten, dass wir nicht wert sind, Essen und einen Wohnplatz wie sie zu bekommen. Und das ließen sie uns hier in Tönning auch jeden Tag spüren.

Wir bekamen anderes Essen als die Deutschen. Leider konnte man fast nie Essbares heimlich mitnehmen. Jeder aber, der konnte oder die Möglichkeit hatte, schmuggelte Essen. Wer erwischt wurde, den erwarteten drakonische Strafen. Manche wurden schon wegen einer Lappalie erschossen. Allein das Gerücht, dass man für den Diebstahl von Lebensmitteln, egal was und wie viel, von den Deutschen sofort aufgehängt oder erschossen wird, sorgte dafür, dass man es nicht tat. Und zuzutrauen war den Deutschen ja buchstäblich alles, das hatten wir schnell kapiert.

Am Deich von Friedrichskoog: 5. von links K. Frankowska, 8. von links: Olienkieviecz, knieend Magdalena Wida
Am Deich von Friedrichskoog: 5. von links K. Frankowska, 8. von links: Olienkieviecz, knieend Magdalena Wida

Mit Sehnsucht warteten wir auf den Tag, an dem wir zu unseren Familien kommen und endlich ganz normal leben könnten, ohne Angst und Gedanken, was später kommt. Oft wurden wir schikaniert, die weiblichen Zwangsarbeiter wurden zwar nicht körperlich misshandelt, die männlichen dagegen umso mehr, das ging von Treten, Ohrfeigen, Boxen bis zum blutigen Zusammenschlagen.

Während der Arbeitszeit wurden wir von Flugzeugen bombardiert und mussten uns verstecken - Polen war es aber unter Strafandrohung verboten, bei Luftangriffen Luftschutzbunker aufzusuchen. Sie waren ausschließlich den Deutschen vorbehalten. Also suchten wir dann irgendwo einen schützenden Unterstand. Wir hörten dieses Dröhnen und sahen zerstörte Gebäude, wo die Leute wohnten. Nach solchen Bombardements lagen manchmal tote Menschen auf den Strassen, blutende Menschen, die schreiend um Hilfe riefen. Leider konnten wir nicht helfen. Verletzte wurden oft umgebracht. Uns Zwangsarbeiter überprüfte man sehr genau, besonders die, die nach den Angriffen aufräumen mussten, ob wir auch wirklich unsere Aufgaben machten.

In Tönning verliebte ich mich im Januar 1944 in Ryszard. Er war als Zwangsarbeiter beim Wasserbauamt, in der Nähe vom Hotel Methmann, nur wenige Muten entfernt hauste er mit anderen Zwangsarbeitern in einer Baracke. In ihn hatte ich mich auf den ersten Blick verliebt. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich aufgehört, um mein Leben zu kämpfen. Ich war nun einerseits unglaublich verliebt und sehr glücklich, aber gleichzeitig quälte ich mich Tag für Tag damit rum, was wohl mit meiner Familie passiert war. Trotz meines Glückes war das Leben nur sehr schwer auszuhalten.

Einmal hielt ich mich mit anderen bei Ryszard noch nach 20 Uhr in seiner Baracke auf, als die Deutschen eine Razzia machten und uns erwischten. Herr Methmann, der Hotelbesitzer, musste für mich eine Strafe von 20 Mark Reichsmark bezahlen, und ich bekam ordentlich Ärger, aber keine Schläge oder so etwas. Das war noch mal glimpflich ausgegangen und hätte auch ein ganz anderes, grauenhaftes Ende nehmen können.

Vielleicht wäre ich dort bis zum Kriegsende geblieben, aber im September 1944 kam urplötzlich ein Befehl, dass Ausländer nicht mehr in Restaurants und Hotels bleiben durften. Ich weiß nicht warum, aber wahrscheinlich hatten die Deutschen Angst, wir könnten uns so leichter gegen sie verschwören.

"Auf dem Papier bekam ich sogar Lohn von den Deutschen...."

Vor über 60 Jahren arbeitete K. Frankowska an dieser Stelle in der Maschinenfabrik Köster in Heide; rechts: Betriebsleiter Boysen
Vor über 60 Jahren arbeitete K. Frankowska an dieser Stelle in der Maschinenfabrik Köster in Heide;
rechts: Betriebsleiter Boysen

Ich kam dann zur Maschinenfabrik Köster in Heide/Holstein. Dort war ich vom Oktober 1944 bis Dezember 1944. Das war der schlimmste Ort, den ich bis dahin kennen lernen musste. Der Betrieb hatte etwa 280 Mitarbeiter und ca. 50 Zwangsarbeiter. Etwa zwei Monate arbeitete ich zusammen mit anderen Polen im Mehrschichtbetrieb an einer Maschine, die Munitionsformen machte, und eigentlich nur von kräftigen Männern bedient werden konnte. Willy Schumacher, der Meister, hatte Mitleid mit mir und versetzte mich an einen anderen Arbeitsplatz, wo ich nicht ganz so schwere Arbeit leisten musste. Nun bemalte ich Granatenhülsen mit grüner Farbe. Bis auf diesen Meister ging man bei der Firma Köster mit uns um wie mit Tieren oder Sklaven. "Auf dem Papier" erhielt ich dort sogar Lohn: für rund vier Monate 389,56 Reichsmark. Abgezogen wurden davon 50,64 für die Steuer und 36,88 als Sozialversicherungsbeitrag, und für die Deutsche Arbeitsfront musste auch noch 5,60 Reichsmark entrichtet werden. Weiter gab es Abzüge für Verpflegung und Unterkunft, so dass am Ende für vier Monate Schufterei 38,44 Reichsmark verblieben - aber selbst die habe ich nicht bekommen.

Ich "wohnte" in einem mit Stacheldraht umgebenen Lager in der Harmoniestraße. In einem kleinen Raum befanden sich drei Etagenbetten für zwölf Personen. Uns bewachte ein Lagerführer mit einem großen Hund. Manchmal hetzte er "aus Spaß" den Hund auf uns. Wir alle wussten nie, vor wem wir mehr Angst haben mussten, vor diesem Menschen oder seinem Hund.

Zum Essen bekamen wir einmal pro Tag eine Suppe - aus Wasser mit einem kleinen Stückchen Karotte, außerdem morgens 200 Gramm Brot, manchmal hart wie Holz, und schwarzen Kaffee. Hin und wieder gab man uns zusätzlich Kartoffelreste, die oft schon verfault waren und stanken. Das war alles. Es war sehr, sehr schwer, das überzustehen. Einige fielen vor Hunger und Müdigkeit um. Die Arbeit bei Köster endete, als den Deutschen das Material für die Granatenherstellung ausging.

Ryszard und ich wurden am 5. Juli 1944 standesamtlich getraut.

Seit der zweiten Hälfte Dezember 1944 arbeitete ich in einem Tierfellverarbeitungsbetrieb im Neuweg in Tönning. Ich musste Kaninchenfelle von Transportern abladen und sortieren - eine schwere Arbeit, von morgens um 7 Uhr bis abends 18 Uhr, oder so lange, wie Felle abzuladen waren. Eine Stunde war Mittagszeit. Ich wohnte bei einer Familie und hatte dort ein Zimmer und konnte die Küche benutzen. Die Leute kümmerten sich um mich. Ich bekam einen halben Liter Milch pro Tag. Der Mann arbeitete im Gaswerk und war gegen Hitler. Abends durfte man im Winter bis 20 Uhr, im Sommer bis 21 Uhr raus gehen. Wurde man außerhalb dieser Zeiten von der Polizei erwischt, gab es Bestrafungen.

In der Tierfellfabrik in Tönning; von links: K. Frankowska, A. Olienkieviecz, Werner Kohrts, der Enkel des Meisters von Frau Frankowska
In der Tierfellfabrik in Tönning; von links: K. Frankowska, A. Olienkieviecz, Werner Kohrts, der Enkel des Meisters von Frau Frankowska

Das "P", das alle polnischen Zwangsarbeiter gut sichtbar auf ihrer Kleidung zu tragen hatten, steckte ich in die Tasche. Nur wenn ich Polizei sah, heftete ich es schnell an die richtige Stelle.

Endlich kam der so lange erwartete Tag, das Ende des Kriegs. Die Engländer rückten in Deutschland ein und ließen uns frei. Nach ein paar Tagen wurden wir Zwangsarbeiter zu einer Kaserne gebracht. Dort waren wir von Mai bis Oktober 1945. Wir bauten oder reparierten den Unterschlupf. Es entstand auch eine provisorische Kirche, in der ich dann Ryszard kirchlich heiratete. Es gab insgesamt fünfzehn Ehepaare, die von einem Pfarrer den Segen bekamen. Im Oktober brachten die Engländer uns mit dem Auto nach Szczecin, von dort sollten wir allein nach Hause fahren. Mein Mann und ich waren sehr glücklich, dass alles endlich, endlich zu Ende war. Wir fuhren nach Woclawek, und die Familie meines Mannes nahm mich sehr freundlich auf. In Polen herrschte bitterste Armut. Noch lange mussten wir um das tägliche Essen kämpfen. Aber wir waren stolz, dass unser Land den Krieg überstanden hatte.

Nach sechs Jahren ständiger Suche fand ich meine Mutter und Schwestern wieder - das Rote Kreuz half dabei. Mein Mann besuchte die Polizeischule, und ich kümmerte mich um die inzwischen eigenen Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Wir fanden in Leslau, 100 km westlich von Warschau, eine Wohnung und kehrten langsam zu einem normalen Leben zurück.

Nachdem die Kinder groß waren, wurde ich Mitarbeiterin und später dann Leiterin eines Supermarktes. 1982 starb Ryszard.

Ich wollte alles vergessen, aber die Erinnerungen kommen wieder, immer wieder - immer wieder. Bis heute, auch noch nach über 60 Jahren. Ich kann zwar immer noch gut deutsch sprechen und auch verstehen. Aber ich habe mir damals geschworen, nie mehr in meinem Leben deutsch zu sprechen.

Agnieszka Olienkieviecz
Agnieszka Olienkieviecz

Der Bericht über das Leben von Katarzyna Frankowska ist einer Arbeit ihrer 16jährigen Enkelin Agnieszka Olienkieviecz entnommen, die im Rahmen eines Wettbewerbs von der Stiftung "Polnisch-Deutsche Aussöhnung" in Warschau eine Auszeichnung erhalten hat.
Übersetzt wurde der Bericht von Agnieszka Stapel.
Bearbeitet und durch eigene Aufzeichnungen während des Besuches ergänzt wurde der Bericht durch Dieter Boßmann von der Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein in Kiel.

Fünf ehemalige polnische ZwangsarbeiterInnen besuchten vom 3. - 9.11.2006 auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiel zum ersten Mal nach über 60 Jahren Dithmarschen.

Ziel solcher Besuche ist es, den ehemaligen ZwangsarbeiterInnen zu ermöglichen, ihre ehemaligen "Arbeitsstellen" noch einmal aufzusuchen, mit deutschen ZeitzeugInnen zusammenzutreffen und insbesondere jungen Menschen über ihr Leben zu berichten:

ZwangsarbeiterInnen berichten SchülerInnen der Meldorfer Gelehrtenschule
ZwangsarbeiterInnen berichten SchülerInnen der Meldorfer Gelehrtenschule

Leon Jaworski war 12 Jahre als er 1943 zur Zwangsarbeit in die Schmiede Wendt nach Windbergen, Kreis Dithmarschen, verschleppt wurde.

Ein Jahr älter war Jan Olewczynski, der bei einer Baufirma in Heide/Holstein als Tischler eingesetzt und kurz vor der Befreiung noch für einige Wochen zur Heider Bahnmeisterei/Deutsche Reichsbahn befohlen wurde.

Antoni Korybski war "bereits" 14 Jahre und bis zu seinem 18. Lebensjahr auf dem Bauernhof von Wilhelm Vollstedt in Gudendorf.

Irena Frolowicz war auf einem landwirtschaftlichen Betrieb in Dithmarschen.

Durchgeführt wurde der Besuch der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen von der Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein in Kiel, dem Verein für Dithmarscher Landeskunde e.V., dem AK Widerstand und Verfolgung im nationalsozialistischen Dithmarschen in Kooperation mit der Stiftung "Polnisch-Deutsche Aussöhnung" in Warschau und mit Unterstützung durch den Fonds "Erinnerung und Zukunft" der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" in Berlin.
Unterstützung gab es durch den Kreisverband Dithmarschen von Bündnis 90/Die Grünen, der GEW in Heide, dem DGB in Heide, der Gemeinde Gudendorf, der Kirchengemeinde Gudendorf-Windbergen sowie der Spedition Thomsen in Gudendorf.
Bei der Projektdurchführung halfen u.a. Superintendent a. D. Klaus Looft, Frau Looft, Sönke Sönksen aus Barlt, Silke Schmidt aus Schalkholz, Martina Stein aus Gudendorf, Brigitte und Günter Kleemann aus Marne und viele andere mehr.
Magdalena Wida, Pressesprecherin der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung in Warschau, übernahm zusätzlich zur Betreuung der polnischen Gäste fast die gesamte Übersetzungs-/Dolmetscherarbeit.

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