(Gegenwind 219, Dezember 2006)
Der "größte anzunehmende Unfall" (GAU), der laut Atomindustrie einmal in 1.000.000 Jahren passieren könnte, ereignete sich gerade einmal 15 Jahre nach der Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes in Tschernobyl. Er hat die "Restrisiko"-Logik auf tödliche Weise ad absurdum geführt - und Hunderttausenden von Menschen das Leben zerstört bzw. gekostet. Dieser GAU hatte nicht nur tödliche Strahlung "frei"gesetzt. Es hatte auch die politische Landschaft in eine brodelnde Vulkanlandschaft verwandelt. Die für tot erklärte Anti-AKW-Bewegung kehrte wieder zurück auf die politische Bühne.
Die zwischen Neubestimmung und Resignation schwankende Anti-AKW-Bewegung wurde von den Ereignissen nach Tschernobyl überrollt und mitgerissen: Hunderttausende demonstrierten in zahlreichen Städten der BRD. In Frankfurt demonstrierten 10.000 gegen die Atompolitik der Bundesregierung. Jede Art von Gemüse flog durch die Scheiben des Rathauses. Am 8.11.1986 demonstrierten über 20.000 Menschen in Hanau und der Friedensforscher Robert Jungk beendete seine Rede vor den Toren von Alkem/Nukem mit den Worten: "Macht kaputt, was euch kaputt macht." Und bis Ende des Jahres wurden knapp 100 Strommasten umgesägt. Plötzlich schien es möglich zu sein, die Friedensbewegung zu radikalisieren und die Anti-AKW-Bewegung zu verbreitern, gesellschaftliche Verankerung und politische Zuspitzung miteinander zu verbinden. Nicht nur den AKW-Betreibern, auch den politisch Verantwortlichen war klar, dass das Atomprogramm auf der Kippe stand.
Inmitten dieser aufgeheizten Stimmung und politisch äußerst brisanten Lage ereignete sich am 12. September 1986 ein weiterer Atomunfall, nicht weit weg in der Sowjetunion, sondern bei Geesthacht an der Elbe.1 Auf dem Gelände des staatlichen Forschungszentrums GKSS (früher Gesellschaft zur Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt) kam es zu einem "Brand"2, der bis 2001 geheim gehalten werden konnte. In Folge dieses Ereignisses wurde eine erhöhte Radioaktivität in der näheren Umgebung gemessen.
Alarmiert durch erhöhte Radioaktivität machte die dort aktive Bürgerinitiative zuerst das nahe liegende AKW Krümmel dafür verantwortlich. Die Landesregierung und vor allem Bundesstellen und (Aufsichts-)Behörden nahmen dankbar den Verdacht eines radioaktiven Lecks im AKW Krümmel auf und veranlassten entsprechende Untersuchungen.
Es wurde jedoch unterlassen, Bodenproben auf dem Gelände der GKSS, in unmittelbarer Nachbarschaft zum AKW Krümmel gelegen, zu nehmen. Es wurden keine Unterlagen beschlagnahmt, die die Aktivitäten der GKSS aufzeichneten und "Experimente" dokumentierten. Nicht einmal die Einsatzprotokolle und sicher gestellten Fundstücke der lokalen Feuerwehr, die einen Brand am selben Tag löschte, wurden angefordert und ausgewertet. Der Brand zerstörte nicht nur Fauna und Flora: "Auf einer früheren Luftaufnahme ist dort (ein zwischen GKSS und Kernkraftwerk Krümmel gelegenes Areal) noch ein Gebäude erkennbar."3
Auf dem Gelände der GKSS befanden sich auch mehrere Strahlendetektoren. Genau dort, wo sich der Unfall ereignete, fiel der Strahlendetektor über zwölf Wochen aus. Ein entsprechender Registrierungsauszug belegt dies eindeutig: "38. - 49. KW ungeplante Stationsverlegung nach Brand am ursprünglichen Aufstellungsort."4
"Im Zeitraum zwischen dem 15.9.1986 und dem 14.9.1987 wurden per Lkw ‘bestrahlte Brennstabsegmente’ ins bayrische Karlstein gefahren."5 Bis heute bleiben die Aufsichtsbehörden die Antwort schuldig, was es mit dieser Fracht, mit diesen "bestrahlten Brennstabsegmenten" auf sich hatte. Das Ziel dieser LKW-Fahrten war Karlstein/Bayern, wo sich bis 1993 ein Zwischenlager für Brennelemente befand.
Wären ein paar Monate nach Tschernobyl die offiziellen Untersuchungen nicht ausschließlich auf das AKW Krümmel fokussiert, sondern auf das GKSS ausgedehnt worden, wären Spuren und Zusammenhänge ans Tageslicht gekommen, die das Atomprogramm mehr gefährdet hätten als die wieder an Kraft gewonnene Anti-AKW-Bewegung.
So brauchte es 15 Jahre, bis der Nachweis erbracht werden konnte, dass nicht das AKW Krümmel für die erhöhte Radioaktivität ursächlich verantwortlich war, sondern das ganz in der Nähe gelegene Forschungszentrum GKSS. Viel zu spät entdeckten Wissenschaftler der Arbeitsgemeinschaft für Physikalische Analytik und Messtechnik in der Umgebung der GKSS millimetergroße Kugeln, die weder in der Natur, beim Betrieb eines AKWs, noch bei oberirdischen Atomtests "abfallen". Auf Dachböden und im Erdreich wurden Transurane, u.a. Plutonium-241 und Americium-241, gefunden.
Nachdem alle deutsche Forschungsinstitute unisono eine Untersuchung der Bodenprobe ablehnten, wurde die internationale Sacharow-Universität in Minsk mit der Analyse beauftragt. Das Ergebnis war sensationell und ist bis heute nicht bestritten: Die nukleartechnischen Kügelchen enthalten die spaltbaren Stoffe Uran, Plutonium-241, Americium-241 und Curium.
Diese "PAC-Kügelchen" versinnbildlichen auf anschaulichste Weise den zivil-militärischen Doppelcharakter der angeblich ausschließlich friedlichen Nutzung der Nuklearforschung: Sie können als Brennstoffe für Hochtemperaturreaktoren genutzt werden. Auf Grund des hoch angereicherten Urans bzw. Plutoniums stellen sie zugleich die entscheidenden Komponenten für militärische Optionen dar.
Diese Entdeckung hätte zum falschen Zeitpunkt fatale Folgen haben können. Erstens: Die notorische Behauptung aller deutscher Bundesregierungen, die Nuklearforschung diene ausschließlich friedlichen Zwecken, hätte widerlegt werden können. Zweitens: Der Nachweis wäre erbracht, dass die Bundesrepublik seit Jahren den von ihr unterschriebenen Atomwaffensperrvertrag gebrochen hat. Drittens: Der "Atomstaat" wäre keine paranoide Vorstellung von Anti-AKW-Gegnern, sondern eine zwingende Konsequenz aus der Tatsache, dass der militärische Charakter der Atomforschung unter allen Umständen geheim gehalten werden muss.
Das heutige Wissen über einen verschwiegenen Atomunfall auf den Gelände der GKSS lässt ein weiteres Ereignis in einem möglicherweise anderen Licht erscheinen. Uwe Barschel (CDU) war Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, als sich der Atomunfall in Geesthacht ereignete. Nur ein Jahr später, 1987, standen Landtagswahlen an und der Spitzenkandidat der CDU fürchtete um seine Wiederwahl. Mit dreckigen Tricks versuchte er den Gegenkandidaten der SPD, Björn Engholm, zu diskreditieren. Als dies bekannt wurde, trat er am 2.10.1987 zurück. Kurz danach machte er zusammen mit seiner Frau Urlaub auf Gran Canaria. Dort erreichte ihn die Meldung, dass ein Untersuchungsausschluss zur "Barschel-Affäre" eingerichtet worden sei. Der Ex-Ministerpräsident zeigte sich erbost und drohte - im Gegenzug - vor dem Untersuchungsausschuss "auszupacken" und vereinbarte ein Interview mit der Illustrierten Stern in Genf.
Uwe Barschel brach seinen Urlaub ab und flog alleine in die Schweiz. Zur selben Zeit flog Werner Mauss nach Genf und bezog Quartier im benachbarten Hotel von Uwe Barschel. (ak 294) Werner Mauss arbeitete sowohl für den Verfassungsschutz, als auch für den Auslandsgeheimdienst/BND. Tags darauf wurde Uwe Barschel tot in der Badewanne gefunden. Mit der Umsicht eines Menschen, der keinen Ausweg mehr sah, ließ Uwe Barschel seine Hotelzimmertür offen, damit ein Stern-Reporter das Foto schießen konnte, das den Selbstmord eindrucksvoll belegen sollte ...
Warum ein Ex-Ministerpräsident nach Genf flog, um dort Selbstmord zu begehen, konnten und wollten die Untersuchungen nicht klären. Die Familie Barschel widersprach jedenfalls der "Selbstmordthese". Die Untersuchungen Schweizer Behörden wiesen auf deutliche Anzeichen eines Fremdverschuldens hin. Dennoch verliefen alle weiteren Untersuchungen im Sand.
Ein ganz normaler Skandal um schmutzige Praktiken, an der Macht zu bleiben, drohte außer Kontrolle zu geraten. Was stand alles auf dem Spiel? Was wäre los gewesen, wenn er gegenüber dem Stern öffentlich gemacht hätte, was in dem staatlichen Forschungszentrum GKSS Normalbetrieb ist, was "außer Kontrolle" geraten war?
Nachdem sich der Schwerpunkt der unabhängigen Nachforschungen ab 2001 auf das atomare Forschungszentrum GKSS verlagerte, häuften sich abermals die "Zufälle": Im Büro der Feuerwehrzentrale, die den Brand auf dem Gelände der GKSS löschte, brach am 1.9.1991 ein Feuer aus - und vernichtet alle dort gelagerten Unterlagen. Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wurde unterlassen. Ob es sich bei den gefundenen Transurane um PAC-Kügelchen handelt, ob damit - unter Verstoß des Atomwaffensperrvertrags - mit militärischer Zielsetzung geforscht und experimentiert wurde, hätten die zuständigen Behörden schnell klären bzw. sicher entkräften können.
Die Atomfirma "Hobeg" in Hanau hatte damals die kugelförmigen Brennelemente für den Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop und den Forschungsreaktor in Jülich hergestellt. Ein Vergleich der dort produzierten kugelförmigen Brennelemente mit den Funden in der Umgebung der GKSS hätte jeder Spekulation den Boden entziehen können. Nichts, aber auch gar nichts wurde unternommen.
Auch die Dementis der Landesregierung und aller Bundesaufsichtsbehörden, auf dem Gelände der GKSS habe es gar keinen Unfall gegeben, könnten schnell und eindeutig untermauert bzw. ad absurdum geführt werden. Wenn die "Fachkommission Leukämie" über Luftbilder vor dem 12.9.1986 verfügt, auf denen eindeutig ein Gebäude zu erkennen ist, das es nach dem Unfall nicht mehr gab, dann liegt es an der Aufsichtsbehörden, diesem schwerwiegenden Indiz nachzugehen, anstatt geisteswissenschaftliche Überlegungen über die Hintergründe der gemachten Vorwürfe anzustellen.
Die wiederholte Anfrage an die Pressestelle der GKSS, einen Lage- bzw. Gebäudeplan aus den 1980er Jahren zur Verfügung zu stellen, wurde bis dato mit Schweigen quittiert. Interessanterweise findet man auf dem aktuellen Lage- und Gebäudeplan der GKSS6 kein Gebäude mehr, das den Namen "Institut für Physik" trägt. Hat es sich einfach in Luft aufgelöst?
1992 wurde die "Untersuchungskommission Leukämie" von der schleswig-holsteinischen Landesregierung eingesetzt. Nachdem diese Jahre lang den falschen Spuren folgte, änderte sich ab 2002 die Untersuchungsrichtung. Sie ging neuen Spuren nach und beantwortete Fragen, die zuvor nie gestellt wurden.
2004 stellte sie ihren Abschlussbericht vor. Er war vernichtend - für die Auftraggeber:
Eigentlich ist ein Brand in einem Feuerwehrhaus, bei dem die Unterlagen eines anderen Brandes zerstört werden, nicht zu toppen. Doch die Landesregierung setzte im Rahmen der organisierten Vertuschung und Unterlassung noch eines drauf. Als absehbar war, dass die von ihr eingesetzte Untersuchungskommission nicht zu dem gewünschten Ergebnis kommt, setzte die Landesregierung Schleswig-Holsteins zum Plot an:
Sie beauftragte Dr. Wolters mit Expertisen und Gegengutachten, die die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der eingesetzten Untersuchungskommission widerlegen sollten. Jener Dr. Wolters war langjähriger Leiter des Referats Reaktorsicherheit im Ministerium für Finanzen und Energie in Kiel. Er war also verantwortlich für die Aufsicht der Geesthachter Nuklearanlagen. Nachdem er vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde, wechselte er zur Firma "SAST" und fertigte dort als "unabhängiger" Gutachter jene Expertisen und Gegengutachten an, die das Cleaning seiner eigenen Aufsichtstätigkeiten mit zum Gegenstand hatten.
Das ist das vorläufige Ende eines Politthrillers, der in einer Gegend spielt, die heute die weltweit einmalige Häufung von Leukämie-Erkrankungen aufweist. Solange Behörden und Regierungsstellen nicht ihrer Pflicht zur Aufklärung nachkommen, ist von der "Größten Anzunehmenden Regierungskriminalität" auszugehen.
Wolf Wetzel
Anmerkungen: