(Gegenwind 212, Mai 2006)
Seit Ende März machen gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen kurdischer Bevölkerung und Staatsgewalt in der Türkei Schlagzeilen. Auslöser für die Unruhen war der Tod von 14 Guerillakämpfern durch einen Giftgaseinsatz des türkischen Militärs im Osten der Türkei in der Nähe von Mus. in Diyarbakir nahm die kurdische Bevölkerung massenhaft an der Beerdigung von vier der Getöteten teil. Mit Protestrufen und auch mit Steinwürfen machten die Menschen ihrer Wut über die anhaltende Unterdrückung Luft. Polizei und Militär reagierten mit massiver Gewalt.
In der Folge griffen die Unruhen auf weitere Städte zunächst in der Osttürkei, aber auch in der Westtürkei über. Etwa 15 Menschen starben, davon drei aufgrund eines Bombenanschlages in istanbul, die anderen fielen den Schüssen der Staatsmacht zum Opfer. Zahlreiche Kinder und Jugendliche wurden inhaftiert. Die türkische Regierung beschuldigt die PKK (die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans) der Provokation der Unruhen. Sie verweigert den Dialog mit der legalen prokurdischen Partei DTP (Partei für eine demokratische Gesellschaft), die als Nachfolgepartei der gerade verbotenen Dehap gegründet wurde und in den meisten Kommunen in der Osttürkei die Kommunalwahlen gewann. Die Regierung beschuldigt die Vertreterinnen der DTP, der verlängerte Arm der ehemaligen PKK zu sein.
Sie verkennt dabei, dass eigentliche Ursache für die Unruhen das soziale Elend ist, das durch brutale Unterdrückung und systematische Benachteiligung hervorgerufen wurde. Hinzu kommt die Enttäuschung über die Nicht-Einhaltung der im Rahmen der EU-Annäherung gegebenen Versprechen zur Anerkennung der politischen und kulturellen Rechte der KurdInnen.
Diese Einschätzung liegt zumindest nahe angesichts der Eindrücke, die ich im Rahmen der Reise einer Hamburger Delegation zur Beobachtung der diesjährigen Newrozfeiern gewann, an der ich als Vertreterin des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein teilnahm.
Die Reise ging von Diyarbakir in die kurdischen Gebiete in der Osttürkei im Dreieck an der Grenze zum irak und zu Syrien. in der Kleinstadt Sirnak traf unsere Delegation auf ca. 10.000, in Silopi auf 30.000 Menschen, die das traditionelle kurdische Neujahrsfest, Newroz, feierten und gleichzeitig für die politischen Rechte der Kurdinnen und Kurden in der Türkei demonstrierten.
Nachdem es in den Vorjahren überall noch massive Behinderungen und teilweise lokale Verbote gegeben hatte, konnte die DTP überall im Land Veranstaltungen mit riesigen Bühnen, Lautsprecheranlagen und Transparenten teilweise sogar in kurdischer Sprache durchsetzen. Zwar waren die Veranstaltungsplätze von Polizeikräften umstellt, und die Besucherinnen wurden in den meisten Städten auf verbotene Symbole durchsucht, aber zu größeren Zwischenfällen kam es in diesem Jahr nicht. Vielfach gelang es den Menschen, trotz der Kontrollen Tücher in der verbotenen Farbenkombination grün-gelb-rot, Poster mit dem Bild des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan und sogar verbotene Parteifahnen durchzuschmuggeln, so dass die Menschenmenge optisch überall davon geprägt war.
Abgesehen von der von uns selbst miterlebten Veranstaltung in der Kleinstadt Silopi (100.000 Einwohner, nur wenige Kilometer entfernt von den Grenzen zu Syrien und zum Irak), konnten wir unsere eigenen Eindrücke in Berichten aus anderen Städten bestätigt sehen. Diese Fernsehbilder wurden über den kurdischen, in Dänemark stationierten Fernsehsender Roj-TV ausgestrahlt, dessen Empfang in der Türkei zwar strafbar ist, der aber dennoch in Hotels, Restaurants und Teestuben fast ununterbrochen läuft.
Neben der Hauptveranstaltung in Diyarbakir mit mehreren hunderttausend Teilnehmerinnen gab es Großveranstaltungen mit mehr als hunderttausend Teilnehmerinnen in Istanbul, Adana, Mersin, Van und Urfa sowie Veranstaltungen mit mehreren zehntausend Teilnehmerinnen in nahezu allen kurdischen und vielen türkischen Städten.
Gegenüber den Vorjahren war neu, dass das Musikprogramm praktisch nur aus kurdischen Liedern bestand. Auch die Reden wurden zu einem großen Teil in kurdischer Sprache gehalten oder waren zumindest mit kurdischen Parolen durchsetzt, obwohl der Gebrauch des Kurdischen bei öffentlichen Veranstaltungen, in Schulen und Amtsgebäuden und ähnlichen Einrichtungen nach wie vor verboten ist. Zulässig ist Kurdisch lediglich in der Umgangssprache sowie als "Fremdsprache" im Privatunterricht an Sprachschulen, die nach einem einjährigen Probelauf alle wieder schließen mussten, weil niemand das Geld hat, diese Kurse zu besuchen und sie ohnehin nachmittags, also neben bzw. nach dem staatlichen türkischsprachigen Pflichtunterricht an den öffentlichen Schulen abgehalten werden müssten.
Dass der relativ entspannte Umgang mit den Newroz-Feiern trog, erfuhren wir zum einen in den zahlreichen Gesprächen, die wir während der einwöchigen Reise führen konnten. Zum anderen machte auch die massive allgegenwärtige Präsenz von Militär und Jandarma - einer berüchtigten paramilitärischen Polizeitruppe - deutlich, dass von Normalität keine Rede sein kann.
Unsere Gesprächspartnerinnen, u.a. der Bürgermeister von Sirnak, Ahmet Ertak, und der Vorsitzende des Vereins zur Unterstützung von Binnenflüchtlingen Göc-Der in Batman, Ahmet Demir, wiesen insbesondere auf die dramatische soziale Lage eines Großteils der Bevölkerung hin. Folgen der militärischen Auseinandersetzungen in der Region und der fehlenden Unterstützung der Kommunalverwaltungen durch die Zentralregierung in Ankara sind mangelnde infrastruktur und fehlende Möglichkeiten der Existenzsicherung der Bevölkerung. So wird an die Kommunen ein staatlicher Betrag gezahlt, der sich an der Einwohnerzahl orientiert. Dabei werden allerdings die vielen Flüchtlinge, die aus den zerstörten Dörfern in die Städte geflohen sind, nicht mitgezählt, so dass die Summe dem Bedarf in keiner Weise entspricht. Auch EU-Projekte, die von den Kommunen beantragt werden, kommen nicht zur Bewilligung, da die Zustimmung aus Ankara nötig ist.
Zu den zahlreichen Binnenflüchtlingen, die aus den im Krieg zerstörten Dörfern in die Städte zogen, kommen die Armutsflüchtlinge, die ebenfalls in die Metropolen gehen. in den dortigen Zuzugsvierteln herrschen bis zu 70 Prozent Arbeitslosigkeit, Klassen mit 100 Schülerinnen sind keine Seltenheit. Die Menschen leben in behelfsartigen Unterkünften und haben kaum Zugang zu sozialer und Gesundheitsversorgung. in Sirnak und Silopi gibt es zwar jeweils ein öffentliches Krankenhaus mit 50 Betten, aber keinen approbierten Arzt. Die privat praktizierenden Ärztinnen können sich nur wenige leisten. in Batman, einer der Zuzugsmetropolen, wuchs die Bevölkerung in den letzten 10 Jahren von 50.000 auf 350.000 Menschen an, dazu kommen die vielen Binnenflüchtlinge, die nicht registriert sind. Die Mitarbeiterinnen des Frauenprojektes Selis in Batman wiesen auf die hohe Selbstmordrate von Frauen hin, die durch die Entwurzelung und ihre katastrophale Lebenssituation in den Städten traumatisiert seien und keine Perspektive sähen.
Der Vorsitzende von Göc-Der in Batman, Ahmet Demir, bezeichnete die Abschiebung kurdischer Flüchtlinge von Deutschland in die Türkei als unverantwortlich. Das von der Regierung im Rahmen der EU-Annäherung aufgelegte Rückkehrprogramm liefe ins Leere, da die Rückkehrwilligen gezwungen würden, sich als Dorfschützer zu verdingen, einer Art staatlich gedungener Kollaborateure, die gerade auf dem Land zur Kontrolle und Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt werden. Eine Ansiedlung in den sterilen und ebenfalls von Dorfschützern kontrollierten sogenannten Strategischen Dörfern käme für die Menschen aufgrund der dort herrschenden Unfreiheit und der aufgrund ihrer Lage fehlenden Möglichkeit zur Existenzsicherung nicht in Frage. Völliges Unverständnis äußerte er über die Beteiligung deutscher Firmen und der deutschen Regierung durch eine Hermes-Bürgschaft an dem erneuten Versuch, das ilisu-Staudammprojekt am Tigris durchzusetzen. Hier ist geplant, u.a. das Dorf Hasankeyf zu überschwemmen, das ein jahrtausendealtes Kulturerbe beherbergt. insgesamt seien 180 Dörfer und ca. 80.000 Menschen betroffen, die heimatlos werden bzw. denen die Existenzgrundlage entzogen werde. So produziere Deutschland einerseits Flüchtlinge und schicke sie auf der anderen Seite in ein Land zurück, wo sie nach wie vor von Repression und Diskriminierung bedroht und jeder Grundlage einer Existenzsicherung enthoben seien.
In aller erster Linie sind die aus ihren Heimatdörfern vertriebenen kurdischen Binnenflüchtlinge und aus Deutschland und anderen europäischen Ländern abgeschobenen Flüchtlinge die Opfer der aktuellen Entwicklung. Der Flüchtlingsrat und andere Organisationen fordern deshalb einen Abschiebestopp für ausreisepflichtige Menschen aus der Türkei.
Vertreterinnen der DTP in Sirnak und Silopi bedauerten aber auch, dass sich die internationale Aufmerksamkeit im wesentlichen auf die Zeit um Newroz beschränkt. Dass dies nicht ausreicht, zeigte schon zwei Tage nach Newroz unser Gespräch mit Vertreterinnen der Lehrergewerkschaft Egitim Sen in Diyarbakir, die von ersten Anzeigen gegen die Organisatorinnen der Feiern berichteten, aufgrund der verbotenen Symbole und Lieder, die von ihnen nicht untersagt wurden.
Am Wochenende nach den Newroz-Feiern fand der eingangs genannte Angriff des Militärs auf die Guerilla-Kämpfer statt. im letzten Jahr hatte die nach der Verhaftung Öcalans noch verbliebene Guerilla ihren einseitig verhängten Waffenstillstand beendet. Sie begründete diesen Schritt damit, dass die Regierung die versprochenen Reformen nicht umgesetzt habe. Anlässlich der diesjährigen Newroz-Feiern hatte sie aber kurzfristig die Waffen wieder niedergelegt.
In der Tat macht es sich die EU ebenso wie die deutschen Asylentscheider relativ einfach, indem sie die Gesetzesänderungen mit umgesetzter Praxis verwechselt. Laut Berichten der Menschenrechtsorganisation iHD gibt es nach wie vor Folter und ungestrafte Polizeigewalt. Es ist kein Zufall, dass die Protagonistinnen der Fortsetzung der Proteste vor allem ganz junge Menschen sind. Für junge KurdInnen gibt es kaum eine Zukunftsperspektive. Daher rührt das Aufstandspotential. Ob die Proteste, wie die Regierung behauptet, von den Nachfolgeorganisationen der PKK angeheizt werden oder nicht, spielt keine Rolle. Entscheidend für die Lösung der Kurdenfrage ist die Anerkennung ihrer politischen und kulturellen Rechte und die Lösung der massiven sozialen Probleme. Die Regierung und auch die EU werden nicht umhin kommen, die gewählte kurdische Partei als Gesprächspartner anzuerkennen. Es geht darum, einen Kriegszustand zu lösen, dafür müssen auch die Kriegsparteien an einen Tisch.
Eine internationale Vermittlung könnte hier vielleicht helfen. Dies setzt allerdings ein interesse der internationalen Gemeinschaft voraus. Zwangsweise Rückführungen von kurdischen Flüchtlingen in die Türkei sind gegenwärtig jedoch vollkommen unangemessen.
Astrid Willer
Informationen zu Hasankeyf und zum Ilisu-Staudamm-Projekt auf www.weed-online.org