(Gegenwind 211, April 2006)
Wenn in Deutschland darüber diskutiert wird, wer Deutscher ist und wer Deutscher werden kann, geht es meistens nicht um den besten Weg in der Integrationspolitik. Es geht um bevorstehende Landtagswahlen am 26. März. Erst kam in Baden-Württemberg ein Fragebogen ans Tageslicht, mit dem die "Integration" moslemischer Bewerber um die deutsche Staatsangehörigkeit geprüft werden sollte. Und dann kam Mitte März der Einbürgerungstest aus Hessen mit seinen hundert Fragen.
Über beide Prüfungen wurde viel gespottet. Warum ausgerechnet die CDU-Regierung Baden-Württembergs die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft propagiere, wurde gefragt. Oder was die Kenntnis eines Gemäldes von Caspar David Friedrich mit dem Wechsel der Staatsangehörigkeit zu tun habe. Deutlich wurde schnell, es geht nicht um eine Prüfung oder gar um das Herausfiltern von Islamisten, sondern um Abschottung und Abschreckung.
In Schleswig-Holstein kam es sogar zu einer Diskussion zwischen den Koalitionspartnern CDU und SPD. Innenminister Ralf Stegner kündigte gleich an, hier werde es einen solchen Einbürgerungstest nicht geben, er ist inzwischen umgefallen. Ministerpräsident Peter Harry Carstensen widersprach: Solche Fragen würden nicht vom Innenminister, sondern vom Kabinett entschieden.
Was kaum ein Politiker weiß: Zum 1. Januar 2005 trat das Zuwanderungsgesetz in Kraft. Und dieses sieht für Neueinwanderer einen Integrationskurs vor. Alle, die neu kommen, um auf Dauer hier zu bleiben, lernen 600 Stunden Deutsch, danach gibt es einen 30-stündigen Orientierungskurs. In diesem Orientierungskurs geht es um die Staatsordnung, Geschichte und Kultur Deutschlands, er wird mit einer Prüfung abgeschlossen. Und diese Prüfung ist Voraussetzung für die Staatsangehörigkeit.
Die Bundesregierung hat das "Bundesamt für Migration und Flüchtlinge" damit beauftragt, die Kurse durchzuführen. Und dieses, pädagogisch völlig unerfahren, hat nicht versucht, einen Orientierungskurs und eine Prüfung zu entwickeln. Die Vereine und Firmen, die Deutschkurse anbieten, wurden aufgefordert, auch Orientierungskurse abzuhalten - denn diejenigen AusländerInnen, die bereits Deutsch können, müssen vor dem Antrag auf Staatsbürgerschaft den Orientierungskurs besuchen und die Prüfung ablegen. Die Materialien für den Orientierungskurs sowie die Prüfung müssen sich die Kursträger selbst organisieren. Lediglich die Gliederung wird vom Bundesamt vorgegeben. Einige Schulbuchverlage haben "Orientierungskurse" herausgebracht, die auch vom Bundesamt geprüft und "zugelassen" worden sind. Allerdings hat das Bundesamt noch keine Prüfung entworfen. Lediglich Langenscheidt und der Gegenwind haben einen - bundesweit verwendeten - Vorschlag für eine Prüfung ins Internet gestellt. Die Materialien des Gegenwind konnten allerdings über Monate nicht vom Bundesamt zugelassen werden, weil dort mehrfach die Prüfexemplare "verloren" gegangen sind. Schließlich wurde mitgeteilt, die Unterrichtsmaterialien würden kein ausreichend positives Bild von Deutschland vermitteln, ohne Einzelheiten nennen zu können, und für die Zulassung der Prüfung wäre man gar nicht zuständig, das müssten die Kursträger einzeln machen. Im übrigen können die Kursträger auch nicht zugelassene Materialien verwenden, also auch die Broschüren vom Gegenwind.
Zur Zeit werden ungefähr die Hälfte aller Orientierungskurse in Deutschland mit den Materialien vom Gegenwind durchgeführt, die Prüfung nutzen wohl noch mehr, da die anderen Orientierungskurse (außer Langenscheidt) keine Prüfungsunterlagen enthalten.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge war früher ausschließlich für die Ablehnung von Asylanträgen zuständig. Die neue Aufgabe, Integrationskurse zu organisieren, kam zum 1. Januar 2005 dazu. Das Bundesamt organisierte die Kurse so wie Asylverfahren: Die lückenlose Kontrolle der Teilnehmerinnen und Teilnehmer steht im Vordergrund, der Inhalt spielt eine untergeordnete Rolle.
Da nur wenige Menschen neu nach Deutschland einreisen, besteht die Kundschaft der Integrationskurse überwiegend aus MigrantInnen mit jahrelangem Aufenthalt. Diese müssen ihre Zulassung zum Kurs beantragen, außerdem die Finanzierung, das muss mit Kopien des Ausweises, der Sozialbezüge oder Lohnbescheinigung untermauert werden. Da die Förderung der Kurse nicht an die Kursträger geht, sondern formell an die einzelnen TeilnehmerInnen, muss es auch noch eine Abtretungserklärung geben. Dann gibt es ein Merkblatt zum Kurs (in 20 Sprachen) und einen Teilnahmevertrag. Müssen TeilnehmerInnen den Kurs ganz oder teilweise selbst bezahlen, wird diese Bezahlung mit einer Quittung bestätigt.
Der Kurs besteht aus sieben Modulen. Weitgehend sind die TeilnehmerInnen identisch, sie sollen normalerweise die sieben Module nacheinander besuchen. Bei besonderen Problemen wird mal ein Modul wiederholt, TeilnehmerInnen mit guten Vorkenntnissen können mal ein Modul überspringen. Dem Bundesamt müssen aber nicht diese Ausnahmen gemeldet werden, sondern die sieben Module werden mit Teilnahmelisten einzeln angemeldet.
Die gleichen Anmeldeformulare für den Kurs mit Anträgen auf Kostenübernahme gibt es noch mal einzeln für die Prüfungen (Deutsch und Orientierungskurs). Auch diese Anträge müssen natürlich mit Kopien der Leistungsbescheide begründet werden. Die Bescheinigungen über die Teilnahme am Kurs gibt bekommen die TeilnehmerInnen getrennt von der schriftlichen Aufforderung, zur Prüfung persönlich zu entscheiden, und der Bescheinigung des Prüfungsergebnisses. Das Zertifikat wird natürlich nicht nur ausgehändigt, die Aushändigung wird von den Teilnehmenden auch auf einem gesonderten Formular bestätigt, damit das Bundesamt die Kontrolle behält.
Nicht nur für die Teilnehmenden, auch für die Kurse (jedes Modul einzeln) gibt es dann Formulare, die ausgefüllt werden müssen. Das sind Meldungen über Unterrichtszeiten, über Ferienzeiten, Meldungen über Lehrkräfte, Meldungen über Lehrwerke. Die Teilnehmer müssen dort aufgeführt werden, und zwar mit ihrer persönlichen Kennziffer vom Bundesamt, der Ausländerbehörde und dem Bundesverwaltungsamt.
Dass es Anwesenheitslisten gibt, ist klar. Zusätzlich muss aber auf dem Abrechnungsbogen die Anwesenheit noch einmal bestätigt werden. Dort sind auch Fehlstunden zu melden, unterschieden nach "entschuldigt" und "unentschuldigt". Weiter gibt es natürlich Listen für die Prüfungen für den Sprachkurs und Listen für die Prüfungen des Orientierungskurses.
Die Prüfungsmeldungen müssen noch gesondert der Zertifizierungsorganisation gemeldet werden, und zwar die Anmeldung zur Prüfung, dann die Teilnehmerliste, für Selbstzahler auf einer gesonderten Liste. Die Prüfung wird nach Bestehen bescheinigt auf durchnummeriertem Spezialpapier, dafür gibt es spezielle Bestellformulare. Wenn man die Bestellung bekommt, wird flink das Formular Empfangsbestätigung ausgefüllt und dem Bundesamt zugeschickt. Die Aushändigung der Bescheinigung wird dann natürlich in Listen erfasst.
Jetzt könnte das Bundesamt natürlich sagen: Diese Kontrolle brauchen wir. Wir müssen wissen, wer teilnimmt, wer das nächste Modul anfängt, wer sich zur Prüfung anmeldet. Und wir müssen das doppelt wissen, einmal auf die Teilnehmenden bezogen, einmal auf die Kurse bezogen. Doch das ist noch nicht Kontrolle genug.
Denn dann gibt es auch noch die Quartalserhebungen. Vierteljährlich müssen die begonnenne Kurse sowie die beendeten Kurse gemeldet werden, ebenso die Anzahl der Abbrecher und die Ergebnisse der Testverfahren (es gibt einen Einstufungstest).
Wenn man das zusammen zählt, sind das pro Kurs (mit 20 Teilnehmenden) für 630 Stunden Unterricht 592 Kopien zur Verwaltung der Teilnahme. Da ist noch keine einzige Kopie enthalten, die sich mit der Sprache, der Staatsordnung, der Geschichte oder der Kultur Deutschlands befasst.
Für die Kursträger kostet diese Verwaltung, wenn sie nicht ehrenamtlich erbracht wird, rund 3000 Euro pro Kurs. Bezahlt werden vom Bundesamt 140 Euro für die "Verwaltung". Im Jahre 2005 nahmen rund 100.000 Menschen an den Integrationskursen teil. Pro Modul sind das 2,5 Millionen Formulare und Kopien bundesweit, pro Integrationskurs mehr als 17 Millionen Kopien. Die Verwaltungskosten bei den Trägern wurden mit 3000 Euro pro Kurs geschätzt - die Verwaltungskosten des Bundesamtes, das die Formulare auswertet oder zumindest abheftet, kann hier nicht geschätzt werden. (Ich bedanke mich für die Zusammenstellung dieser Übersicht bei Marta Aparici, Simone Henke, Michael Kaiser, Britte Hindelang und Gert Fenselau, die Integrationskurse in Stuttgart organisieren.)
Die Orientierungskurse sollen über die Rechtsordnung, die Geschichte und Kultur Deutschlands informieren. Es liegt auf der Hand, dass 30 Stunden dafür zu kurz sind, aber mehr wird nicht bezahlt. Auch die Sprachkurse für Aussiedler und anerkannte Flüchtlinge umfassten früher 1200 Stunden, für andere 800 Stunden und wurden jetzt aus Kostengründen gekürzt.
Für den Orientierungskurs hat das Bundesamt lediglich ein Inhaltsverzeichnis vorgegeben, keine bestimmten Inhalte. Es gibt nur die allgemeine Bestimmung, der Kurs müsse ein "positives Bild von Deutschland" vermitteln. Unterrichtsmaterialien können "zugelassen" werden, die Kursanbieter sind aber frei in ihrer Entscheidung, welche Materialien sie verwenden. Viele verwenden auch Kopien aus verschiedenen Angeboten.
Die Schulbuchverlage haben sich abgesprochen und 64-Seiten-Broschüren im DinA4-Format herausgegeben, die rund 8 Euro kosten. Sie enthalten jeweils nur einen Teil des Stoffs, ohne zwischen der "Pflicht" und dem Zusatzstoff zu unterscheiden.
Der Verlag Cornelsen bringt den Orientierungskurs im Layout der Deutschkurse heraus. Dabei gibt es acht Lektionen "Grundstoff" und acht Lektionen "Extra-Stoff", wobei sich der Verlag aber nicht an die Vorgaben des Bundesamtes hält. Diese einzuhalten sind die Kursträger insofern selbst aufgefordert. Auffällig ist die distanzierte Sprache sowie Beispiele, die nicht auf die Lebenswelt von MigrantInnen abgestimmt sind. Die Einwanderung wird mit dem Abdruck von Statistiken abgehandelt. Bei den Parteien wird im Foto die FDP doppelt präsentiert, die Linke.PDS dagegen ausgelassen. Den Teilnehmenden wird nahegebracht, dass sie trotz fehlenden Wahlrechts Einflussmöglichkeiten haben - ohne daran zu denken, dass Aussiedler an den Kursen teilnehmen, die sehr wohl wählen dürfen. Die Diskussion über Strafrecht und Gefängnis wird am Beispiel der Graffiti diskutiert. Im Nationalsozialismus finden wir auf den abgedruckten Fotos nur Opfer: deutsche Soldaten in Stalingrad, Zwangsarbeiter, jüdische KZ-Häftlinge. Bei der bildlichen Darstellung der Religionen ist die evangelische Kirche wiederum doppelt. Als Beispiel für Demonstratio-nen muss ein Protest gegen die Asylcard herhalten, ein Indiz, dass die Autoren nur ungefähr Bescheid wissen.
Dagegen enthalten die Extras wohl in weiser Voraussicht umfangreiche Listen über Bundesländer, Flüsse, Berge, Seen und Inseln - das wird den hessischen Ministerpräsidenten freuen. Die staatliche Gliederung gibt zwischen Ländern und Kreisen die "Regierungsbezirke" an, ein Hinweis darauf, wo die Autoren wohnen.
Die Broschüre des Klett-Verlages ist sehr viel lockerer layoutet, weniger Stoff, mehr Platz. Ob allerdings Einwanderer, die ja erwachsene Menschen sind, wirklich eine Deutschland-Fahne zum Selbst-Anmalen brauchen, darf bezweifelt werden. Probleme werden ausgespart, so bedeutet der Verfassungsbegriff "Verteidigungsfall": "So verteidigt sich der Staat". Das bei der Einführung in den Staatsaufbau "Regierung" und "Verfassung" verwechselt wurde, ist ein Flüchtigkeitsfehler, der durch die schnelle Produktion Ostern 2005 entstand. Die beispielhafte Lohnabrechnung wäre anschaulich, wenn die Tabulatoren stimmen würden. Bei der Vorstellung der Parteien sind nur für die CDU und die FDP Fotos vorgesehen, für die übrigen reichte der Platz nicht mehr. Interessant, dass zu den fünf staatsbürgerlichen Pflichten Außer Steuern, Wehrpflicht, Erziehung und Schulpflicht auch die Mülltrennung gehört, nicht aber Meldepflicht und Passpflicht. Aber für den Orientierungskurs ist diese Auswahl sicherlich unterhaltsamer. Bei den Möglichkeiten des Engagements findet man, welch Zufall, wieder ein Farbfoto der FDP. Die deutsche Kultur wird an anderen Beispielen dargestellt als im hessischen Einbürgerungstest. Wer die Klett-Broschüre gelernt hat, kennt Albrecht Dürer, die Porta Nigra von Tier und den Thomanerchor in Leipzig, wird aber an der Frage nach dem Kreidefelsen von Rügen scheitern.
Die Broschüre von Langenscheidt ist in neun Kapitel eingeteilt und enthält einzelne Themen aus der Pflicht und dem Aufbauwissen, allerdings nicht besonders unterschieden oder gekennzeichnet. Zusätzlich bietet der Verlag aber Informationen für Lehrer an (im Wesentlichen eine Unterrichts-Gliederung, eine Prüfung sowie ein paar Formulare, in denen Teilnehmende Behördenadressen und Ähnliches notieren können. Die Broschüre enthält sehr viele und sehr klein gedruckte Texte. Die Materialien sind wenig aufbereitet und fordern viel von den Lehrkräften, um daraus Unterricht zu machen. Eine Bemerkung am Rande: Die Autoren haben eine neue Europafahne erfunden, die auch noch in einem Test abgefragt wird. Beispiel für Toleranz ist ein fremdes Auto, das die eigene Einfahrt zuparkt - eines der vielen Beispiele, die der Lebenswelt der Autoren, aber nicht der Teilnehmenden entsprechen.
Nun kann man sagen: Ob der Orientierungskurs interessant oder langweilig, lebensnah oder abgehoben ist, spielt keine Rolle. Es sind nur 30 Stunden, und die sind Pflicht. Sicherlich gibt es auch Kursträger und Teilnehmende, die das so handhaben.
Allein: Eine Integrationshilfe, eine Orientierung im Einwanderungsland ist so kaum möglich, hängt weitgehend vom Engagement der Teilnehmenden und der Lehrkräfte ab. Unfair ist es auf jeden Fall, im Gesetz diese Pflicht vorzuschreiben, sie zur Voraussetzung für die deutsche Staatsangehörigkeit zu definieren, Übergangsfristen zu schaffen - und dann mit länderspezifischen und parteispezifischen Fragebögen zu überraschen.
Bisherige Anmeldungen zeigen, dass viele Einwanderer auch nach Jahren noch gerne solche Kurse besuchen wollen, wenn die denn sinnvolle Lebens- und Integrationshilfe vermitteln. Mit der Organisation, die das Bundesamt bisher anbietet, wird aber der Sinn der Kurse schon konterkariert, so dass eine inhaltliche Kritik am Stoff oder den Unterrichtsmaterialien wenig hilft.
Reinhard Pohl
Angebot des Magazin-Verlages:
Mein Orientierungskurs, Bd. 1 bis 3
(5 Euro)
www.orientierungskurs.de