(Gegenwind 210, März 2006)
Am 9. Februar fand im Gymnasium Glinde der "Migrationstag" statt, ein Projekttag für den 12. Jahrgang. Vier Referentinnen und Referenten boten verschiedene Themen an: "Integrationspolitik", "Zwangsheirat", "EU-Betritt der Türkei" und "Flüchtlinge aus Kurdistan". Die Schülerinnen und Schüler zeigten sich sehr interessiert. In der Arbeitsgruppe zur Flucht aus Kurdistan und dem deutschen Asylrecht stellte nach einer Einführung ins Asylrecht Zozan Kaygusuz ihre Geschichte vor.
Wir besuchten zwei Familien in Kiel, die in jüngerer Zeit nach Deutschland geflohen sind, und ließen uns ihre Geschichte erzählen.
"Eine Frau trug ein weißes Kopftuch, das voll mit Blut war"
Zozan erzählt: Im Februar 2000 wurde ich in der Schule festgenommen. Die Polizisten waren teils in Zivil, teils in Uniform. Wir machten nach der Schule eine Demonstration für Abdullah Öcalan, der seit einem Jahr im Gefängnis saß. Acht von uns wurden festgenommen, ich als einziges Mädchen. Sie kontrollierten meinen Schülerausweis, der Name Kaygusuz reichte für die Festnahme. Sie haben mich lange geschlagen, vier Polizisten brachten mich zum Revier des Stadtteils. Dort waren Polizistinnen, die mich ebenfalls schlugen. Sie brachten mich in eine kleine Zelle ohne Licht, zogen mich nackt aus. Später brachten mich zwei Polizisten in einem Jeep zum Krankenhaus, wieder angezogen, die Händen mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Ich wurde dort nicht untersucht, ich musste aber ein Protokoll unterschreiben. Der Arzt bestätigte den Polizisten, dass ich nicht misshandelt wurden war. Ich durfte den Zettel, den ich unterschreiben musste, nicht lesen. Danach wurde ich auf ein großes Revier gebracht, wieder gefesselt. Dort waren uniformierte und zivile Polizisten, die mich wieder mit Knüppeln verprügelten, während ich auf dem Boden lag. Beim Transport ins nächste Revier war ich immer gefesselt, die Hände auf dem Rücken, und trug eine Augenbinde. Ich wurde auf ein Revier gebracht, das als "Folterrevier" bei uns schon bekannt war. Dort wurde ich wieder geschlagen, gab aber auch Fingerabdrücke ab, auch wurden dort Fotos von mir gemacht. Ich trug hier wieder meine Schuluniform.
Sie brachten mich dann ganz runter in den Keller. Dort war es zwar dunkel, ich sah aber viele Frauen. Es waren sechs bis zehn, alle verletzt, auch alte Frauen dabei. Eine trug ein weißes Kopftuch, das voll mit Blut war, ich bekam noch mehr Angst. Ich wurde in eine sehr kleine Zelle gebracht, wo aber elf Frauen eingesperrt waren. Wir waren ohne Klo, zweimal am Tag bekamen wir sehr altes und trockenes Brot, wir haben zwei oder drei Tage nichts gegessen, aber es gab nichts anderes, wir mussten es essen. Die ganze Nacht wurde sehr laute Musik gespielt, faschistische türkische Militärmärsche, so dass wir nicht schlafen konnten. Diese Musik habe ich noch heute im Ohr.
Immer wieder kamen Polizisten, riefen meinen Namen. Einer band mit eine schwarze Augenmaske um, fesselten mir die Ellenbogen mit Handschellen auf den Rücken - das tat sehr weh. Sie verhörten mit, erst kamen Routine-Fragen, dann fragten sie nach meinem Bruder. Er ist in den Bergen, ich habe immer gesagt, ich weiß es nicht, ich habe keinen Kontakt. Sie sagten, ich würde in der Schule alles organisieren, einmal pro Woche meinen Onkel im Gefängnis besuchen, ich müsste Kontakt haben. Im Gefängnis waren auch zwei Guerilleros, deshalb dachten sie, ich hätte Kontakt.
Sie ließen mich das V-Zeichen mit den Fingern machen, sagten, das würde ich in der Schule bei Demonstrationen auch machen, sie hätten Fotos. Aber sie wollten das nur, um mir Kontakte an die Finger zu legen und mich mit Strom zu foltern. Wenn ich die Organisatoren der Demonstrationen verriete, würden sie mich freilassen - ich sollte nur in Zukunft jeden Tag zur Polizei kommen, um dort Namen zu sagen. So ging das jeden Tag weiter, jeden Abend Folter mit Strom, jede Nacht die Marschmusik. Immer drohten sie mir, mir die Kleidung endgültig wegzunehmen. Sie schlugen mich so hart ins Gesicht, dass ich mitsamt dem Stuhl umfiel. Ich sagte, ich würde mich umbringen, sie lachten.
Nach einer Woche brachten sie mich zu einem Gericht, mein Onkel ist Rechtsanwalt, er kam mit zwei anderen Rechtsanwälten. Ich wollte meine Verletzungen von der Folter zeigen, meine Beine, meinen Rücken. Aber der Richter sagte, ich sollte nur auf seine Fragen Antworten, er war auch faschistisch. Der Richter sagte, wenn ich wieder was mache, käme ich sofort ins Gefängnis. Danach wurde ich freigelassen, wurde von meiner Familie abgeholt und ging nach Hause. Insgesamt war ich eine Woche bei der Polizei, am 16. Februar wurde ich festgenommen, am 23. Februar war ich beim Gericht.
Anschließend konnte ich zwanzig Tage nicht zur Schule. Einen Monat ging ich zur Psychotherapie, schlief im Bett bei meinen Eltern. In der Schule war ich danach nur noch die "Terroristin", auch mein Direktor sah mich so. Meine Mitschülerinnen hatten Angst, mit mir zu sprechen, weil auch in unserer Schule Polizisten patrouillieren. Ich habe seitdem viele Probleme in der Schule gehabt, weil ich mich nicht mehr konzentrieren kann, auch Privatunterricht half mir nicht. Ich war damals 17 Jahre alt. Meine Eltern hatten mich vorher nie geschlagen, diese Erfahrung bei der Polizei war für mich völlig neu.
"Wir machen mit ihnen das Gleiche, was wir mit den Armeniern gemacht haben"
Ahmet Inanc stammt aus einer politischen Familie. Seit den 80er Jahren war er in seiner Geburtsstadt Batman aktiv, setzte sich für die Rechte der Kurden und ihrer Organisation, die PKK ein. Der Onkel wurde gesucht, deshalb kam die Polizei zu Ahmets Vater, schlug und folterte ihn. Daran ist sein Vater 1980 gestorben. Ein Bruder war fünf Jahre im Gefängnis in Diyarbakir, wöchentlich besuchte er ihn zusammen mit der Mutter und war deshalb ständigen Schikanen ausgesetzt, beide wurden häufig an den Kontrollstellen geschlagen. Dennoch wurde er 1989 zur Armee eingezogen und war eineinhalb Jahre, bis Anfang 1991, in Ankara stationiert.
Nach dem Militärdienst war er wieder politisch aktiv, ließ keine Demonstration aus, wie er erzählt. Die gesamte Familie geriet immer mehr unter Beobachtung der Polizei. Ein Bruder war schon 1989 nach Deutschland geflohen, beantragte Asyl. Ein zweiter Bruder floh 1995. Beide wurden als asylberechtigt anerkannt, heute leben sie mit einem deutschen Pass hier.
Ahmet Inanc blieb zunächst in Batman. Dort wurde er in den örtlichen Vorstand der kurdischen Partei HADEP gewählt. Er war verantwortlich für einen Stadtbezirk. In dieser Zeit wurde er ebenfalls mehrfach festgenommen und misshandelt. Er erzählt von einem typischen Vorfall: 1995 kehrte er mit der HADEP-Mitarbeiterin Selma von einer HADEP-Versammlung aus Ankara zurück. An einer Straßensperre des Militärs vor Batman mussten alle aussteigen, die Soldaten verprügelten sie mit Knüppeln. Sie mussten in der Sonne den ganzen Tag stehen bleiben, bei fast 50 Grad Wärme, ohne Essen, ohne Wasser. Nachts wurden sie in den Keller der Militärstation gebracht. Als ein Soldat versuchte, den Gefangenen heimlich Wasser zu geben, wurde er sofort von einem Offizier beschimpft: "Wir machen mit ihnen das Gleiche, was wir mit den Armeniern gemacht haben", schrie er. Sieben Tage dauerten Haft und Folter, Ahmet Inanc wurde dabei immer wieder nach dem Verbleib seiner Brüder gefragt.
Zwei Cousins starben in den 90er Jahren als Guerillas im Gefecht mit türkischen Soldaten. Ahmet Inanc heiratete in dieser Zeit Selva, eine Cousine. Deren Vater war HEP-Vorsitzender von Batman gewesen, die HEP ist eine nach kurzer Zeit verbotene Vorgänger-Partei der HADEP.
Er erzählt uns von 2001. Zum Weltfriedenstag planten kurdische Organisationen eine große Demonstration in Ankara, eine Million Kurdinnen und Kurden sollten mobilisiert werden, um für den Frieden zwischen Türken und Kurden zu demonstrieren, ein Ende von Krieg und Verfolgung zu fordern. Ahmet Inanc mobilisierte in Batman rund eintausend TeilnehmerInnen, die sich gleichzeitig mit DemonstrantInnen aus anderen Stadtteilen in Bussen auf den Weg machten. Schon nach einer kurzen Strecke Richtung Ankara wurden alle an Straßensperren des türkischen Militärs gestoppt, dort stundenlang festgehalten. Bei den Auseinandersetzungen wurden zwei Freunde von ihm schwer verletzt, rund 15 Personen festgenommen. Ihm selbst wurde klar gesagt: Die nächste politische Aktivität wäre seine letzte, wenn ihm sein Leben lieb sei, dürfte er ab jetzt nicht mehr auffallen. Diese Drohung ist durchaus ernst zu nehmen, von den Anfang September 2001 Festgenommenen sind zwei bis heute, 2006, verschwunden. Also ging Ahmet Inanc illegal nach Istanbul, versteckte sich dort und organisierte falsche Papiere für die Ausreise. Anfang November kam er nach Deutschland, wo er mit seiner Familie in Lübeck Asyl beantragte. Doch der Antrag wurde abgelehnt, ebenso entschied 2004 das Verwaltungsgericht. Seine politischen Aktivitäten und die Verfolgung wurde ihm geglaubt. Allerdings hätten sich die politischen Verhältnisse in der Türkei mittlerweile geändert, er müssen nicht mehr um sein Leben fürchten, so die Richter. Er ging vors Oberverwaltungsgericht und zum Bundesverwaltungsgericht, wo die Berufung Ende 2005 endgültig abgelehnt wurde.
Auch hier in Kiel, wo er mittlerweile mit seiner Familie lebt, blieb er politisch aktiv. Zeitweise war er Vorsitzender, später Kultur-Verantwortlicher der "Deutsch-kurdischen Gesellschaft", veröffentlichte darüber hinaus Artikel in der kurdischen Zeitung "Özgür Politika" und im Gegenwind. Bei überregionalen Demonstrationen war er häufig verantwortlich für die Organisation, meldete Veranstaltungen an und mietete die Busse für die Fahrt.
Bei einer Rückkehr in die Türkei, die Abschiebung ist der gesamten Familie angedroht, befürchtet er die sofortige Verhaftung. Ein Bruder von ihm, hier als politisch Verfolgter anerkannt, wagte vor kurzem einen Besuch in der Meinung, sein deutscher Pass würde ihn vor Verfolgung schützen. Schon am Flughafen in Istanbul wurde er verhaftet, im ersten Verhör schon ging es um den Verbleib von Ahmet Inanc, der gesucht wurde und wird. Sein Pass schützte ihn übrigens tatsächlich, das deutsche Konsulat erreichte seine Freilassung und die Rückkehr nach Deutschland.
Seine Frau Selva hat die Verfolgung und Flucht nicht so einfach verkraftet. Sie hat bis heute Alpträume, war sie doch Augenzeugin, als ihr Vater von Polizisten zu Tode geprügelt wurde. Schon in der Türkei war sie in psychologischer Behandlung, die sich allerdings auf die Verabreichung von Tabletten beschränkte. Hier ist sie in Psychotherapie, bekommt aber zusätzlich Medikamente, die sie manchmal tagelang außer Gefecht setzen. Auch sie kommt aus einer Familie, deren Mitglieder fast alle politisch aktiv waren und sind. Ihr Vater wurde getötet, ihre Brüder mussten damals untertauchen und flohen später nach Deutschland, wo sie heute als anerkannte Flüchtlinge und inzwischen mit deutschem Pass leben. Sie selbst hatte nie die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen, kann bis heute nicht lesen und schreiben. Jahrelang litt sie in der Türkei unter den häufigen "Besuchen" der Polizei, die auf der Suche nach ihrem Mann, nach Brüdern und Cousins nicht nur die Wohnung durchsuchten, sondern sie häufig schlugen und misshandelten. Am schlimmsten war die Zeit, als ihr Mann im Oktober 2001 nach Deutschland floh, aber es für sie und die Kinder noch keine Möglichkeit zur Flucht gab. Trotz der Verantwortung für die Kinder und ihrer Krankheit arbeitete sie in der kurdischen Frauenorganisation in Batman mit, organisierte Demonstrationen und nahm an Beerdigungen getöteter Guerilleros teil.
Auch an den Kindern ist die Verfolgung nicht spurlos vorübergegangen. Der neunjährige Sohn ist bis heute Bettnässer. Die große Tochter, täglich die kranke Mutter vor Augen, hat beschlossen, Ärztin zu werden. Auch die Kinder sprechen miteinander über die angedrohte Abschiebung. Die Eltern versuchen, ihnen ein unbeschwertes Leben in Kiel zu ermöglichen, aber die Angst der Eltern spüren die Kinder täglich.