(Gegenwind 209, Februar 2006)
Ihre Situation bewegt seit Februar 2003 viele Menschen im Kreis Segeberg: Merdiye Erman, heute 19, war mit ihrer Familie vor der mordenden türkischen Armee geflohen. In Itzstedt (Kreis Segeberg) wurde sie erst von jungen Neonazis an Leib und Leben, später von der Ausländerbehörde Segeberg in ihrer Existenz bedroht. Erst nach einem Antrag an die Härtefallkommission erhielt Merdiye im Februar 2005 einen sicheren Aufenthaltsstatus. Einige Monate später veröffentlichte die Dortmunder Musikgruppe Hevalz (hevalz.de) jetzt ein Lied über die junge Kurdin und will damit auch die Forderung nach Sicherheit für die gesamte Familie Erman unterstützen. Merdiyes Bruder steht derweil kurz vor der Abschiebung...
"Merdiye, du warst neun, als sie euer Dorf niederbrannten, ihr musstet fliehn, dorthin, wo sie niemanden von euch kannten, Mutter, Vater und du - die älteste deiner Geschwister. Die Jüngste im Arm brennende Metallsplitter. Sie wurde gezeichnet, wie euer Vater, für ein Leben lang, vielleicht vergisst er Haft und Folter irgendwann. Ihr wolltet nur frei sein, wie viele, die glücklich sind. Du hast oft geweint, in dieser neuen Welt, als Flüchtlingskind. Hier ist es eisig, nicht nur wegen den Wintertagen. Willkommen in einem Land, wo sie Träume aus Hass zerschlagen. Sie halten sich fern von Menschen mit Kriegserlebnissen und schicken sie dorthin zurück, wo sie Kriege weiter erleben müssen. Du kennst diese Angst und möchtest kein Leben in Mitleid, nur ein wenig zurück von deiner verlorenen Kindheit. Doch was für immer bleibt ist die Liebe in deinem Herzen, nicht mal deren Brände konnten es füllen mit Schmerzen. Du hast keinen von euch dem Schicksal übergeben, die Last der Jahre gab dir Kraft, um heute zu überleben. Halt noch ein wenig aus, zusammen werden wir alles ändern, und du siehst einen schöneren Morgen aus deinem Fenster."
(Aus dem Liedtext Merdiye der Gruppe Hevalz, Dortmund 2005)
Die Familie erinnert sich noch gut an den Tag im Jahre 1996, als die Özel-Teams der türkischen Armee "Besonderes Armeekorps für Sicherheit und Ordnung (Özel Asayis Kolordusu)", in ihr Heimatdorf kamen. Sie erzählen nicht viel darüber, aber die heute 14-jährige Necla hatte die Metallsplitter noch im Arm, als die Ermans nach Deutschland kamen. Der Krieg der türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung war auf einem Höhepunkt angelangt: Insgesamt 4.000 Dörfer waren zerstört, niedergebrannt worden, mehr als 30.000 Menschen getötet und weitere zwei Millionen vertrieben. Vater Kutbettin wurde schon vor dem Überfall auf das Heimatdorf der Familie mehrfach festgenommen und schwer gefoltert. Nachdem der Ort von der Armee mitsamt seiner BewohnerInnen niedergebrannt worden war, floh er nun direkt nach Deutschland, die Familie kam über Umwege drei Monate später nach.
Doch die Segeberger Ausländerbehörde - mittlerweile bundesweit für überdurchschnittlich hartes und unmenschliches Vorgehen bekannt - ficht die traumatische Geschichte der Ermans nicht an: Ihr Asylbegehren wurde abgelehnt, die Familie in den gefürchteten Status der "vollziehbaren Ausreisepflicht" versetzt. Fortan begleitete die Ermans die Angst, wieder in die Türkei, zu den Folterern des Vaters, zurück geschickt zu werden. 1999 ist die Familie im Segeberger Örtchen Itzstedt untergebracht worden, einer verschlafenen Gemeinde an der Verkehrsachse Bad Segeberg - Norderstedt - Hamburg.
Während dort die Angst vor der Ausländerbehörde täglich wächst, werden die Ermans mit einem anderen Teil deutscher Realität konfrontiert: Eine Neonazigruppe hat die Familie bemerkt und sich zum Ziel gesetzt, die KurdInnen aus dem Ort zu vertreiben. Es beginnt ein Monate dauernder Terror: unter den Augen von Nachbarn, Geschäftsleuten und sogar der örtlichen Polizei versammeln sich die 10-15 Jungfaschisten in den Sommermonaten täglich, betrinken sich an der Tankstelle gegenüber dem Wohnhaus der Ermans und rufen - teils Stunden lang - ausländerfeindliche Parolen. Immer wieder kommt es auch zu Übergriffen, auf die jüngeren Kinder, auf den Vater, sogar auf Mutter Masallah. Etwa in dieser Zeit - wir schreiben das Jahr 2002 - entwickelt sich die damals 15-jährige Merdiye zur "Außenministerin" der Familie.
Sie geht sogar mit einigen der Nazis in Norderstedt zur Schule, hat aber als Einzige kaum Angst um sich selber und ist schließlich auch die Sprecherin der Familie, als die skandalösen Zustände durch den Gegenwind (Ausgabe 174, März 2003) öffentlich werden. Sie führt Interviews, lässt sich - oft beschämt - fotografieren, spricht auf dem Wohnzimmersofa - unter dem Bild von "Apo" Öcalan - mit Polizei und Landeskriminalamt. Letzteres war erst nach diversen Berichterstattungen auf den Neonazi-Terror aufmerksam geworden, die örtliche Polizei hatte zuvor oft weggesehen oder auffällig langsam reagiert. Merdiye übersetzt und berichtet auch, als nach und nach immer häufiger UnterstützerInnen im Wohnzimmer der Familie sitzen und gemeinsam mit den Ermans Pläne und Strategien gegen die Nazis schmieden. Zunächst sind es nur aktive AntifaschistInnen aus Norderstedt und Hamburg, später auch empörte ItzstedterInnen, die das Ausmaß der Bedrohung bemerkt haben. Die Kirchengemeinde Nahe wird aktiv und beginnt, ein kleines Grüppchen aufzustellen, dass im Ort für Familie Erman und gegen die Neonazis die Trommel rührt, wieder ist Merdiye der Kontakt. "Merdiye macht das schon"
, dachten sich alle, die sie in dieser Zeit kennen gelernt haben.
Sie machte auch. Machte und machte. Erst als sie selber zur Zielscheibe der Ausländerbehörde wurde, als es um sie persönlich ging, nicht um andere, da machte sie nicht. Da versagte ihr die Kraft. Monatelang saß sie die sich langsam zuspitzende Lage aus, wurde stiller, war nicht mehr in der Lage, sich in der Schule zu konzentrieren. Im Sommer 2004 ließ Merdiye sich von der Realschule zur Hauptschule versetzen, obwohl ihre Leistungen noch kurz zuvor für einen Wechsel aufs Gymnasium gesprochen hatten. Im letzten Moment, sozusagen "fünf nach Zwölf" erfuhren im Spätsommer 2004 UnterstützerInnen der Familie von der akuten Lage: Merdiye stand kurz vor ihrem 18. Geburtstag im September - und damit ebenso kurz vor ihrer Abschiebung. Die Ausländerbehörde Segeberg hatte bereits zur Besprechung der Formalitäten der Rückführung geladen, um die junge Kurdin alleine in ihr Verfolgerland zu deportieren. Diesmal musste Merdiye hinnehmen, dass sie selber unterstützt wurde, ihre persönliche Situation in den Mittelpunkt rückte. Und die Proteste nahmen noch einmal deutlich zu: Nach diversen Presseerklärungen, mehreren Artikeln in der Norderstedter Zeitung, Berichten auf Noa4, 600 Unterschriften ihrer FreundInnen, MitschülerInnen und LehrerInnen, einem Brief an Bundeskanzler und Bundespräsidenten, Interventionen des schleswig-holsteinischen Flüchtlingsrates wie der diakonischen Flüchtlingshilfe und diversen Protestaktio-nen gelang der Kraftakt: Der damalige Innenminister Klaus Buß setzte sich auf den öffentlichen Druck hin für Merdiye ein. Am 17. Februar 2005 öffnete sie ein Schreiben des Ministers, der ihr zunächst den Aufenthalt für weitere zwei Jahre zusicherte.
Während Merdiye nun vorerst sicher in Deutschland lebt, ist ihre Familie weiter in akuter Gefahr. Obwohl unter anderem der Segeberger Landrat Gregor Gorrissen noch im Juni 2004 davon gesprochen hatte, dass "die Familie Erman als Einheit zu betrachten"
sei, sind Vater, Mutter und Geschwister teils akut von ihrer Abschiebung in das Verfolgerland Türkei bedroht. Insbesondere ihr Bruder ist wegen seines 18. Geburtstages ins Visier der Behördenmitarbeiter Bonus und Matthießen gekommen, beide zuständig für die sogenannte "Rückführung" von Flüchtlingen. Noch dramatischer die Lage von Merdiyes Cousin: Er liegt nach einem Zusammenbruch in der Psychiatrie - nach einer weiteren Konfrontation mit der Ausländerbehörde, die auch ihn und seine schwerkranke Frau abschieben will.
Die Geschichte von Merdiye und ihrer Familie hat sich mitterweile die bekannte kurdische Musikgruppe Hevalz zum Anliegen gemacht. Mit dem fünfminütigen, melancholisch-kämpferischen Lied Merdiye veröffentlichten sie einen bereits hundertfach downgeloadeten Song, in dem ihre Solidarität zu Merdiye und ihrer Familie zum Ausdruck kommt. Auf ihrer Internetseite beziehen Hevalz ebenfalls deutlich Position für die Familie: "Ihr Heimatort wurde zerstört durch das Militär (...). Sie kamen hierher voller Hoffnung, eine Hoffnung akzeptiert zu werden und in Freiheit leben zu können. Doch hier ist auch nichts anders geworden. Es ist hier genauso schwer in Freiheit zu leben, das zeigen die zerbrochenen Fenster in der Wohnung der Familie oder die ausländerfeindlichen Schreie nachts vor der Wohnung der Familie, und die Drohungen von denen die Menschen hassen, weil sie eine andere Sprache oder eine andere Hautfarbe haben. Noch heute haben Merdiye und ihre Familie Angst, abgeschoben zu werden."
Inzwischen wollen auch zahlreiche Fans der Gruppe helfen, die im Online-Forum und im Gästebuch von Hevalz Unterstützung zusagen: "Yallah, ich verstehe diese Welt nicht, es kann nicht sein, die wollen einfach so mal eine Familie trennen (...)? Was soll das Mädchen alleine in Türkei machen? Sie ist 18 verdammt!!! Wir müssen sie alle unterstützen, wir müssen für Leute da sein, die Hilfe brauchen, aber zu wenige tun das (...). Ich hab vor so ne Merdiye-Page zu machen, da kann jeder voten mit Begründung. Brüder und Schwestern: Wir müssen uns alle die Hände reichen!!!"
Und das ist auch bitter nötig, vor allem im Kreis Segeberg: Erst im April 2005 ließen Behördenmitarbeiter Bonus und Matthießen die kurdische Familie Özdemir um vier Uhr morgens von der Polizei abholen (vgl. Gegenwind 202, Seite 17). Mutter Besime Özdemir erlitt während und in Folge der Abschiebung eine schwere Retraumatisierung. Zwischenzeitlich befand sie sich sogar in Lebensgefahr, weil sie - entgegen der "Annahme" der Segeberger Ausländerbehörde - keinerlei medizinische Behandlung in der Türkei erfuhr. Im Juni folgte der ebenfalls aus Kurdistan stammende Murat Savas, der ebenfalls nachts abgeholt wurde. In seinem Fall machten Ausländerbehörde und Polizei noch nicht einmal davor Halt, den Mann aus einer akuten, stationären Behandlung im psychiatrischen Klinikum Rickling heraus festzunehmen und - stark suizidgefährdet - zu deportieren. Wie es Savas derzeit geht, ob er noch lebt, ist völlig unklar. Dafür interessiert sich auch die Ausländerbehörde wenig. Mitarbeiter Bonus jedenfalls war sich nach der Abschiebung der Özdemirs keiner Schuld bewusst: "Angemessen" sei sein Vorgehen damals gewesen, die nächtliche Abholung lediglich Folge der Abflugzeit der Maschine in Düsseldorf. Man sei, so Bonus weiter, sogar noch "sozial" gewesen, und habe versucht, die Familie gemeinsam abzuschieben.
Ob das Lied Merdiye dazu beitragen kann, solcherlei Ignoranz zu stoppen, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Bis zum März soll nun Merdiyes 18-jähriger Bruder das Land "freiwillig" verlassen. Wohin, das weiß er allerdings nicht. Die UnterstützerInnen der Familie sind jedenfalls seit Wochen wieder in "Alarmbereitschaft"... und in Dortmund sammelt Hevalz Protestbriefe für ein dauerhaftes Bleiberecht der Ermans.
Olaf Harning