(Gegenwind 199, April 2005)

Ein Wahlergebnis und was Gewählte daraus machen

Heide-Mörder und Koalitionsverhandlungen

Regierungswechsel haben in Schleswig-Holstein anscheinend eine eigene Dramatik. Als die CDU Ende der 80er Jahre ihre Mehrheit verlor, hatten wir ein Patt im Landtag, eine geschäftsführende Regierung, Druck und Beschimpfungen gegen den SSW und letztlich Neuwahlen. Barschel ging, Engholm kam, aber der Regierungswechsel war alles andere als Routine in einer normalen Demokratie.

Die Zusammensetzung des neuen Landtages, der sich am 17. März 2005 zu seiner konstituierenden Sitzung versammelte, gibt der Politik erneut Probleme auf: 30 Abgeordnete der CDU können mit 4 FDP-Abgeordneten keine Mehrheit bilden, genauso wenig gelingt dies 29 SPD-Abgeordneten mit vier Grünen. Gut, dass es den SSW gibt: Seine zwei Abgeordneten können beiden Bündnissen zur absoluten Mehrheit verhelfen, die eine Regierung zur Wahl und zur Verabschiedung von Gesetzen braucht. Geeinigt haben sich Rot-Grün und der SSW. Am 16. März wurden Koalitionsvertrag und Tolerierungsvereinbarung unterschrieben, am 17. März sollte die Ministerpräsidentin gewählt werden.

Erst an diesem Tag stellte sich heraus, dass das Wahlergebnis doch anders war: 29 bis 30 Abgeordnete bei der CDU, nur 28 Abgeordnete bei der SPD. Grüne und FDP blieben bei 4, der SSW bei zwei Mandaten - aber das Modell der tolerierten Koalition brachte keine Mehrheit für die Wahl von Heide Simonis zusammen.

Wer war das?

In den Tagen danach ging es bei der SPD nur um eines: Wer ist die Verräterin? Oder der Verräter? Immerhin gab es Probeabstimmungen in der Fraktion, in denen das Ergebnis stets einstimmig war. Also war es hinterhältig. Andererseits war es keine Überläuferin oder ein Überläufer, denn schließlich bekam Peter Harry Carstensen auch keine Mehrheit.

Schnell gab es Spekulationen. War nicht Ingrid Franzen, im Frühjahr 2000 zur Landwirtschaftsministerin ernannt, Ende 2002 schon wieder entlassen worden? Hatte Klaus-Peter Puls nicht im Frühjahr 2003 gemeinsam mit Klaus-Dieter Müller hinter dem Rücken von Heide Simonis ein Treffen mit CDU-Abgeordneten organisiert, bei dem die Möglichkeiten einer großen Koalition diskutiert worden? An dem Treffen, von Puls später zum "Spargelessen" verharmlost, hatten mit Klaus Buß und Bernd Rohwer immerhin zwei Minister teilgenommen. Und wie war das mit Sandra Redmann? 2001 wurde sie "Kinderbeauftragte" in der Staatskanzlei, 2003 wurde das Amt sang- und klaglos abgeschafft, die Staatssekretärin im Sozialministerium übernahm die Aufgabe mit. Oder war es Bernd Schröder, Fan jeder Tonne Beton, die über dem Land ausgegossen werden kann, und Gegner aller grünen Vorschläge? Oder vielleicht Ralf Stegner, zur Zeit Finanzminister? Er hatte die Aufmerksamkeit durch einen "Offenen Brief" unmittelbar nach der gescheiterten Wahl der Ministerpräsidentin auf sich gezogen, in dem er alle Verräter so sehr beschimpfte, dass viele an ein Ablenkungsmanöver dachten.

Ehrlicher hätte sich die SPD lieber überlegen sollen, ob es denn richtig war, nach einer Legislaturperiode Regierungsverantwortung ohne vorzeigbare Erfolge den gesamten Wahlkampf mit der einzigen Aussage "He!de" zu führen. Der Druck innerhalb der SPD, die Umfragen zeitweise zwischen 20 und 30 Prozent sahen, war so groß, dass bei Parteitagen nur noch 100-Prozent-Ergebnisse akzeptabel waren. Wie lange, dachten sich die Parteioberen denn, könnte man inhaltsfrei und nur auf eine Person fixiert den Laden zusammen halten?

Der rot-grüne Koalitionsvertrag

Der fertige rot-grüne Koalitionsvertrag wird nun nicht umgesetzt. Trotzdem sollte man ihn lesen, schon um den Vergleich zu einem möglichen neuen Vertrag einer anderen Koalition zu haben.

Peter Harry Carstensen im Mittelpunkt, Claus Möller und Wolfgang Kubicki im HintergrundPeter Harry Carstensen im Mittelpunkt, Claus Möller und Wolfgang Kubicki im Hintergrund

Es gibt fünf Kapitel: Arbeit, Bildung, Umweltschutz, Soziales und Innere Sicherheit. Dem vorangestellt ist der "Handlungsrahmen unserer Reformpolitik".

Handlungsrahmen

Zur Zeit befinden wir uns in der zweiten Hälfte des Doppelhaushaltes 2004/2005, in dem vermutlich schon mehr als 1 Milliarde Euro fehlen. So wird für den Sommer 2005 ein Nachtragshaushalt angekündigt, dem ein Haushalt 2006 und wieder zwei Doppelhaushalte 2007/08 und 2009/10 folgen sollen. Das soll die Haushaltsdiskussionen aus den für 2010 angesetzten Landtagswahlen heraushalten. Angekündigt werden weitere Einsparungen, genannt wird konkret die Energieeinsparung bei öffentlichen Gebäuden (was allerdings weniger als eine Milliarde Euro ausmacht). Weiterhin soll bei den Reformen der Verwaltung Personal eingespart werden. Am wichtigsten ist wohl die Vereinbarung: "Alle Maßnahmen, die in diesem Koalitionsvertrag bzw. der Tolerierungsvereinbarung vereinbart worden sind, unterliegen einem generellen Haushaltsvorbehalt."

Eine "große" Reform ist die Verwaltungsreform. Dabei sollen zuerst Landesaufgaben an die Kommunen (Kreise und Gemeinden) abgegeben werden - soweit die Aufgaben bei der Überprüfung als verzichtbar erkannt werden, sollen sie gleich eingespart werden. Um das tun zu können, müssen aber zunächst die Kommunen leistungsfähiger, also größer und effizienter werden.

Das hat sich auch gleich zum größten Streitpunkt entwickelt, obwohl das Problem klar auf der Hand liegt. In Schleswig-Holstein gibt es mehr als 1100 Gemeinden, die allerdings in ihrer Verwaltung schon längst total ineffizient sind. Deshalb haben sich viele zu "Ämtern" zusammengeschlossen. Dort fallen die meisten Entscheidungen, dort wird die Verwaltung aber nicht von einer gewählten Vertretung kontrolliert. Gewählt werden Gemeindeversammlungen und Kreistage, während die eigentlich mächtigen Amtsverwaltungen von Bürgermeistern gesteuert werden. Selbstständige Gemeinde und Ämter gibt es in Schleswig-Holstein 260 - das siebenmal so große Nordrhein-Westfalen kommt dagegen mit 360 Kommunalverwaltungen aus.

Die Zahl der Kommunalverwaltungen soll geviertelt werden. Das führt zu einem Aufschrei insbesondere bei der CDU, da sie die meisten Dorfbürgermeister und Landräte stellt. Andererseits hat Rot-Grün den Landesrechnungshof hinter sich, der Verwaltungseinheiten von mindestens 8000 bis 9000 Einwohnern fordert. Genau das sagt jetzt auch der Koalitionsvertrag. Wäre das so durchgesetzt worden, hätte endlich ein solcher Unsinn wie in Rendsburg aufgehört, wo die Einwohner bekanntlich von sieben Rathäusern verwaltet werden. Die Zusammenschlüsse sollten freiwillig erfolgen, spätestens am 30. Juni 2006 sollte dann ein neues Gesetz diejenigen zur Effizienz zwingen, die es alleine nicht geschafft haben.

Die Zahl der Landkreise sollte von 11 auf vier oder fünf reduziert werden, wobei Neumünster und Flensburg ihre Selbständigkeit verloren hätten. Da gibt es ebenfalls einigen Widerstand von Landräten, andererseits hatte Neumünster schon vorher damit begonnen, einen Zusammenschluss mit Segeberg zu planen.

Arbeit

Wie neue Arbeitsplätze geschaffen werden können - dazu gibt der Koalitionsvertrag keine Auskunft. Die Förderprogramme des Landes sollen weiter geführt werden, sich allerdings stärker auf nur noch vier Bereiche konzentrieren: Gesundheit, maritime Wirtschaft, Tourismus und erneuerbare Energien. Das sind die vier Bereich, in denen es bisher die besten Erfolge gibt.

Die Verkehrsinfrastruktur soll ausgebaut werden. Grüner Erfolg: Der Ausbau des Flugplatzes in Kiel ist im Koalitionsvertrag begraben worden. Die Industrie- und Handelskammer versucht noch, die Entscheidung der Stadt Kiel, die 45 Prozent am Eigentum hält, durch eine 100.000-Euro-Spende zu beeinflussen.

Alle anderen Verkehrsprojekte sind als Liste aufgeführt: Die A20 mit Elbquerung bei Glückstadt, der Ausbau der A7 auf sechs Spuren, der Ausbau der A21 (Kiel-Bad Segeberg), die Westküstenautobahn. Der Ausbau mehrerer Eisenbahnlinien, des Nord-Ostsee-Kanals und des Elbe-Lübeck-Kanals sowie die Fehmarnbeltquerung sollen umgesetzt werden - unter Nutzung aller Beschleunigungsmöglichkeiten, was im Klartext die Einschränkung der Beteiligungsrechte von Betroffenen bedeutet. Bisher sind diese Projekte am mangelnden Geld gescheitert - die Grünen haben dieser Liste wohl auch zugestimmt, weil die Umsetzung der meisten Projekte sowieso nicht zu befürchten ist.

Bildung

Ähnlich umstritten wir die Verwaltungs- und Gebietsreform ist das Vorhaben, vom gegliederten Schulsystem zu einer Gemeinschaftsschule überzugehen. Dazu soll in der zweiten Hälfte dieses Jahres das Schulgesetz geändert werden. Der Übergang soll dann "schrittweise" erfolgen, dabei soll auch das Sitzenbleiben auf wenige Ausnahmen begrenzt werden, also nicht direkt abgeschafft werden, sondern "konsequent zurückgeführt" werden. Die Koalitionspartner "wollen die Verkürzung der durchschnittlichen Schulzeit bis zum Abitur auf 12 Jahre", der Weg dorthin soll geprüft werden - alles nicht besonders konkret, was die Umsetzung angeht. Die Konkretisierung leistet erst die Tolerierungsvereinbarung, die den Start der Gemeinschaftsschule auf den Sommer 2006 festlegt.

Umweltschutz

Die beiden Koalitionspartner haben im Wesentlichen die Projekte festgeschrieben, die sowieso schon laufen. Da geht es um die sogenannte "Bildung für eine nachhaltige Entwicklung", um schon die Kindern zu aktiven Schützern unserer Umwelt zu machen, sowie die Bestätigung für Bingo-Lotto.

Festgeschrieben wird die 50-Prozent-Quote der regenerativen Energie am Stromverbrauch 2010, was den kräftigen Ausbau der Windenergie voraussetzt.

Für Tierschutzorganisationen soll das Verbandsklagerecht eingeführt werden, um gequälten Tieren endlich juristisch handlungsfähige Unterstützer an die Seite zu stellen.

Sozialpolitik

Wenig Konkretes ist im Kapitel über Sozialpolitik zu finden. Die Beauftragten sollen nicht nur erhalten werden, sondern endlich alle dem Landtag zugeordnet werden - in einem gemeinsamen "Bürgerbüro". Das Mädchenhaus in Kiel soll nicht nur erhalten, sondern "qualitativ weiterentwickelt" werden. Die Unterbringung schwieriger Jugendlicher in geschlossenen Einrichtungen wird abgelehnt.

Innere Sicherheit und Demokratie

Die polizeiliche Verwendung von DNA-Analysen sollen auf den nicht codierenden Teil des Strangs beschränkt werden, Generalstaatsanwälte sollen keine "politischen Beamte" mehr sein, "schwarze Sheriffs" werden abgelehnt.

Für ein Bleiberecht langjährig Geduldeter soll sich der Innenminister einsetzen, allerdings nur, wenn diese AusländerInnen gut integriert sind. Eine Altfallregelung auf Bundesebene anzustreben kann allerdings schnell heißen, auf Landesebene nichts zu tun. Denn die Arbeit der Migrationssozialberatungsstellen, des Flüchtlingsbeauftragten und der Härtefallkommission sollen lediglich "fortgeführt" werden.

Das Wahlalter für Landtagswahlen soll auf 16 Jahre gesenkt und EU-Bürger wahlberechtigt werden. Der Tierschutz soll als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen werden, ebenso die Rechte der Sinti und Roma als schleswig-holsteinische Minderheit.

Kampagne gegen den SSW

Begleitet wurden die Verhandlungen von einer Kampagne gegen den SSW. Den Beginn machte der FDP-Landesvorsitzende Jürgen Koppelin schon in der Wahlnacht. Das Ergebnis war noch nicht bekannt. Allerdings hatte der SSW ja bereits Wochen vor der Wahl die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung angekündigt. Koppelin erinnerte an die Schlacht von Hemmingstedt, dessen Ergebnis der SSW jetzt nicht umdrehen dürfe. Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Börnsen (Flensburg) forderte den SSW auf, sich aus den "inneren Angelegenheiten" Schleswig-Holsteins herauszuhalten. Bundespolitiker von Westerwelle bis Koch schlugen in die gleiche Kerbe - mit so heftigem nationalistischen Tönen und entsprechenden "privaten" Drohbriefen des braunen Bodensatzes der CDU, dass Peter Harry Carstensen und Klaus Schlie begannen, den SSW öffentlich zu verteidigen.

Diese Kampagne zeigte aber, dass die Bonn-Kopenhagener Erklärung, der gerade mit einer Briefmarke zum 50. Geburtstag gratuliert wird, bei vielen Rechten noch immer als rein taktischer Schritt gilt. Damals war die Zustimmung Adenauers zur den Rechten von Minderheiten eine Voraussetzung, um ein Veto Dänemarks gegen den NATO-Beitritt Deutschlands zu vermeiden.

In Kiel mussten die beiden SSW-Abgeordneten angereisten Journalistinnen und Journalisten aus Südelbien immer wieder erklären, dass auch sie erst gewählt werden mussten, um einen Sitz im Landtag zu erhalten, dass der SSW nur von Deutschen gewählt werden darf und dass er über 50.000 Stimmen schleswig-holsteinischer Wählerinnen und Wähler bekommen hat. Dennoch wurde immer wieder gefordert, eine "Minderheit" müsse sich im Parlament "neutral", also unpolitisch verhalten. Die rot-grüne Regierung wurde in Interviews von konservativer Seite auch gerne nicht als "Minderheitsregierung", sondern als "Minderheitenregierung" verleumdet.

Ein Problem erledigten die Abgeordneten in der konstituierenden Sitzung noch mit der Mehrheit von 35 Abgeordneten: Der SSW ist mit zwei Abgeordneten keine Fraktion, hat damit nach der Geschäftsordnung kein Stimmrecht in den Ausschüssen. Diese Ausschüsse sollen aber die Entscheidungen des Landtags vorbereiten. Im Kieler Landtag trat jetzt erstmals das Problem auf, das Funktionieren des Tolerierungsmodells vorausgesetzt, dass die Fraktionen von CDU und FDP in den Ausschüssen, die Fraktionen von SPD und Grünen dann aber im Plenum (gemeinsam mit dem SSW) eine Mehrheit hätten. So können Ausschüsse die Plenumsentscheidungen nicht vorbereiten, außerdem ist ein solcher Zustand verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hatte nämlich bereits einmal festgelegt, dass die Ausschüsse in ihrer Zusammensetzung die Mehrheitsverhältnisse im Plenum widerspiegeln müssen.

Also wurde kurz vor der Wahl einer Ministerpräsidentin die Geschäftsordnung geändert, alle Parteien haben jetzt ein "Grundmandat" in den Ausschüssen. Das kommt natürlich auch FDP und Grünen zugute. Die CDU stimmte gegen diese Änderung und damit auch gegen die Befolgung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes.

Nachdem allerdings Heide Simonis am 17. März in vier Wahlgängen die Mehrheit viermal verpasst hatte, erklärte der SSW sehr schnell, das vereinbarte Modell der Tolerierung einer Minderheitsregierung habe sich nun erledigt, jetzt müssten die Fraktionen im Landtag eine neue Lösung vereinbaren.

Neuwahlen?

Diskutiert wurden eigentlich nur drei Lösungen. Denn mit der Erkenntnis, dass es doch nur 28 SPD-Abgeordnete gab, hatten sich die Hoffnungen auf eine tolerierte rot-grüne Regierung erledigt.

Problematisch war dieser Erkenntnisprozess in der SPD. Die Partei wirkte tagelang gelähmt, nach monatelanger Konzentration auf eine Person und tagelangen Verhandlungen über Koalition und Tolerierung mit feierlichen Vertragsunterzeichnungen waren erst mal andere Modelle nicht denkbar. Viel mehr Energie galt der Suche nach der Verräterin oder dem Verräter. Die schnelle Entscheidung von Heide Simonis, die einen Tag nach der gescheiterten Wahl ihren Rückzug aus der Politik bekannt gab, gab der Partei ihre Bewegungsfreiheit zurück. Allerdings wurde beschlossen, erst am 30. März, also nach Ostern, über die Aufnahme neuer Koalitionsverhandlungen zu entscheiden.

Dass die SPD Neuwahlen ablehnte, war klar. Sie hätte hier nur zu verlieren - ein möglicher Mitleidseffekt für Heide Simonis würde der Partei ohne die Spitzenkandidatin nicht zu Gute kommen. Neuwahlen kann das Parlament aber nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschließen, also nicht gegen die SPD.

Ampel-Koalition?

Rein rechnerisch wäre eine Ampel-Koalition (28 + 4 + 4 Abgeordnete) in der Lage, eine Regierung zu wählen. Dann könnte sogar Heide Simonis wieder Ministerpräsidentin werden, die FDP und die Grünen müssten sich einigen, wer ihre Stellvertreterin oder ihr Stellvertreter wird.

Schon an dieser Debatte würde das Modell scheitern - deshalb gaben die beiden kleinen Parteien schon vor jeder Verhandlung bekannt, das ginge nicht, weil man nicht miteinander könne.

Solange die SPD Angst vor Neuwahlen haben muss, bedeutet diese Absage aber lediglich eine Reihenfolge: Erst Verhandlungen über eine große Koalition, dann eine neue Entscheidung. Denn für die FDP und die Grünen ist eine Absage an eine Ampelkoalition eine Absage an eine Regierungsbeteiligung, was sie nicht wirklich gerne machen. Insbesondere für die Grünen bedeutet diese Absage nach der Unterzeichnung der Koalitions- und Tolerierungsverträge einen tiefen Sturz.

Große Koalition?

Bleibt noch die Möglichkeit, die vor den Wahlen von allen Beteiligten mit guten Argumenten abgelehnt worden ist. Denn eine große Koalition, so wussten vorher alle, bedeutet Stillstand und das Fehlen einer handlungsfähigen Opposition.

Verhandeln wollen SPD und CDU (dieser Artikel entstand am 20. März) bereits unmittelbar nach Ostern, offiziell dann ab dem 1. April. Stehen muss das Bündnis spätestens am 27. April, der nächsten regulären Landtagssitzung - die beiden können aber auch bereits vorher eine Sondersitzung beschließen.

Die beiden können theoretisch alles: Mit 59 Abgeordneten im Landtag, die SPD hätte ja vermutlich wieder 29 Mitglieder an Bord, können sie jedes Gesetz bis hin zu jeder Verfassungsänderung und die Auflösung des Landtages beschließen. Die drei kleinen Parteien sind mit zehn Abgeordneten machtlos, zumal zwei Fraktionen ja schon erklärt haben, sie könnten nicht zusammenarbeiten. Es ist auch schwer erkennbar, welche Maßnahmen einer großen Koalition von FDP, SSW und Grünen glaubwürdig kritisiert werden könnten, hatten doch zwei bereits Vereinbarungen mit der SPD und eine Vereinbarung mit der CDU über die zukünftige Politik vereinbart.

Denn eine große Koalition ist immer Politik auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Keiner der beiden Bündnispartner kann wirklich grundlegende Dinge durchsetzen, die gegenseitige Rücksicht aufeinander verhindert jede wirkliche Reform.

Eine Verwaltungsreform und Gebietsreform, nach den Gutachten des Landesrechnungshofes seit 20 Jahren überfällig, kann von beiden großen Parteien mit ihren vielen Bürgermeisterposten nur fünf Jahre Appelle zu freiwilliger Zusammenarbeit bedeuten. Die Einführung der Gemeinschaftsschule, schon wegen sinkender Zahl von Einschulungen einzige Möglichkeit zum Erhalt vieler Schulen, wird auf die bessere Zusammenarbeit zwischen Haupt- und Realschule zurechtgestutzt.

Die beste Möglichkeit, das Ausbleiben von Entscheidungen zu rechtfertigen, wird der Verweis auf knappe Finanzen werden. Eine Haushaltssperre kann schwerer kritisiert werden als das Streichen von bisher gewährter Zuwendungen, in einer großen Koalition ist niemand schuld.

Wer profitiert?

Bei einer großen Koalition, so zeigt es die Erfahrung, profitieren die Kleinen. Fraglich ist, wie glaubwürdig die Kritik an den Regierungsmaßnahmen wirkt, wenn die FDP und die Grünen ihre vorgesehenen Koalitionspartner kritisieren.

Der SSW hätte von schnellen Neuwahlen profitiert, schon weil viele Schleswig-HolsteinerInnen sich nicht gerne von Ministerpräsidenten aus Bayern und Hessen darüber belehren lassen, wer sich hierzulande wie zu benehmen hat. Ansonsten hat es die Partei jetzt wirklich schwer: Das Grundmandat in den Ausschüssen ist beschlossen, hier müssen zwei Abgeordnete die Arbeit machen, die sich in den großen Fraktionen zwanzig MandatsträgerInnen teilen. Mit der Selbstverpflichtung, in Holstein keinen aktiven Wahlkampf zu machen, hat der SSW seine Möglichkeiten, von der großen Koalition zu profitieren, selbst beschränkt.

Mit Sicherheit profitieren diejenigen, die landesweit handlungsfähig und nicht im Landtag vertreten sind, wenn dort die Langeweile Einzug hält. Das bedeutet, dass der Gegenwind von einer großen Koalition profitieren wird. Und das ist eine gute Nachricht.

Reinhard Pohl

(Dieser Artikel entstand am 20. März kurz vor Druckbeginn der April-Ausgabe des Gegenwind.)

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