(Gegenwind 195, Dezember 2004)
Jahrelang herrschte in der Bildungspolitik die große Flaute. Nur direkt Betroffene wie Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern und die GEW schienen sich für sie zu interessieren. Anlässe waren meistens Verschlechterungen von Arbeitsbedingungen, größere Klassen oder Unterrichtsausfall. Für die politischen Parteien jedoch galt die Bildungspolitik be-stenfalls als ein Feld, auf dem man Wahlen verlieren, aber nicht gewinnen konnte. Das war zu Zeiten, als Pisa noch eine Stadt in Italien mit einem schiefen Turm war und nicht das Synonym für das Versagen des deutschen Bildungssystems.
Seit der ersten PISA-Untersuchung ist vieles anders. Zu groß ist der Schock: Schlechte Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler in Breite und Spitze, dazu noch der Nachweis sozialer Ungerechtigkeit, wie sie in der westlichen Welt kein zweites Mal zu finden ist.
Die Defizite des deutschen und ebenso des schleswig-holsteinischen Bildungssystems sind unübersehbar: Zu wenig junge Menschen machen einen Hochschulabschluss (19 Prozent gegenüber 32 Prozent im OECD-Durchschnitt). Viele bleiben gar ganz auf der Strecke. 25 Prozent gelten als "Risikogruppe". Aufgrund von Bildungsdefiziten laufen sie Gefahr, minimalen beruflichen Anforderungen nicht gerecht zu werden.
Wenn wir hier nicht systematisch Abhilfe schaffen, drohen nicht nur der ökonomische Abstieg Deutschlands, sondern ebenfalls massive soziale Probleme. Ganz davon abgesehen, dass Bildungsdefizite sicherlich keine günstigen Voraussetzungen für selbstbewusste, aufgeklärte Menschen sind.
Doch selbst wenn die Politik jetzt endlich das Richtige täte, können wir uns schon heute auf die nächsten deprimierenden OECD-Untersuchungen einstellen. Veränderungen im Bildungssystem greifen nämlich nicht von heute auf morgen. Kurzfristige Erfolge sind also nicht möglich. Es wird aber höchste Zeit, ernsthafte Maßnahmen zu ergreifen, um Deutschland wenigstens langfristig an die Spitze der OECD-Staaten zu bringen. Wer jedoch weiterhin zu wenig Geld in Bildung investiert und wie die Kultusminister hektische Betriebsamkeit und Herumdoktern an Symptomen als Lösungen verkauft, wird auch noch in fünfzehn Jahren nur am Ende der Länderskala herumkrebsen.
Diese Erkenntnis scheint nunmehr langsam aber sicher zu greifen. Noch vor zwei Jahren plädierte die sozialdemokratische Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave für Bildungskosmetik. Leistungsvergleiche hier, Lernpläne da. Die "Systemfrage" jedoch mochte sie nicht stellen. Immer wieder angestoßen vom SSW, der seit Jahrzehnten nicht müde werdend für eine skandinavische Wende in der Bildungspolitik plädiert, und von den Grünen forciert, vollzog sich allerdings im Vorfeld des SPD-Parteitages im März eine überraschende Kurskorrektur in der sozialdemokratischen Bildungspolitik.
Die Schwächen des dreigliedrigen Schulsystem mit der viel zu frühen Entscheidung in Klasse 4 über die weitere Schullaufbahn der Kinder wurden thematisiert. Die Schule für alle von Klasse 1 bis Klasse 10 lautet nun das Ziel, ohne dass die SPD bei den Umsetzungsschritten allzu konkret wird. Sinkende Schülerzahlen und eine auf Kooperation und Integration angelegte Schulentwicklungsplanung sollen es in den kommenden Jahren richten. Einträchtig treten Partei, Ministerpräsidentin und Bildungsministerin nachdrücklich für die Schule für alle ein, so dass sich dem unvoreingenommenen Beobachter die Frage stellt, wer eigentlich in Schleswig-Holstein seit 16 Jahren regiert.
Die bildungspolitischen Fronten in Schleswig-Holstein sind jetzt klar: Auf der einen Seite SSW, Grüne und SPD, die für Veränderung stehen, auf der anderen Seite CDU und FDP, die das drei-gliedrige Schulsystem nach wie vor für das Nonplusultra halten. Eine von der SPD in Auftrag gegebene Infratest-Umfrage bestärkt diejenigen in ihrem Kurs, die Veränderung wollen. Für mehr als zwei Drittel der Schleswig-Holsteiner stellt die Schule für alle nämlich die richtige Richtung dar. Nicht aber für die CDU! Wollen SSW, Grüne und SPD den Übergang nach Klasse 4 ganz abschaffen, möchten die Christdemokraten den Zugang für die weiterführenden Schulen verschärfen. Prüfungen für Kinder, deren Eltern sich nicht an die Übergangsempfehlung für die weiterführende Schule halten, sollen eingeführt werden. Studiengebühren und zentrale Abschlussprüfungen an den Schulen runden das Bild einer antiquierten Bildungspolitik ab.
Deutlich und unmissverständlich ist die Ankündigung des CDU-Spitzenkandidaten Peter Harry Carstensen, die Situation in den Schulen auf dem Rücken der Lehrkräfte verbessern zu wollen. Eine Methode, der sich auch schon die bisherige rot-grüne Landesregierung in der Vergangenheit bedient hat. Versteckte Mehrarbeit, Präsenzzeiten am Nachmittag und größere Klassen liegen dem CDU-Mann am Herzen, der ganz klar "Ja" zu Mehrbelastungen für Lehrerinnen und Lehrer sagt, obwohl die Belastungen der Lehrkräfte in den vergangenen Jahren bereits über das erträgliche Maß hinaus gestiegen, wie Arbeitszeituntersuchungen zweifelsfrei belegen.
Ein ganz wichtiges Element auf dem Weg aus der Misere des deutschen Bildungssystems ist die Stärkung der frühkindlichen Bildung. In den Kindertagesstätten werden die Weichen für die weitere Bildung der Kinder gestellt. Deshalb brauchen wir hier erstklassige Bedingungen. Um ihren Bildungsauftrag ausfüllen zu können und Kinder besser individuell zu fördern, müssen die Gruppen in den Kitas kleiner und das Personal besser ausgebildet werden.
Wenn die schleswig-holsteinischen Parteien, was die Stärkung des Bildungsauftrages der Kitas betrifft, auch rhetorisch für eine Stärkung eintreten, ist in der Praxis doch erhebliches Misstrauen angebracht. SSW und Grüne treten für Verbesserungen der Rahmenbedingungen in den Kitas ein. Bei der SPD ist die Lage diffus. Einerseits will auch sie Verbesserungen, andererseits hat die Landesregierung in den vergangenen Jahren immer wieder den Versuch unternommen hat, die landesweiten Standards gleichsam an die Kommunen zu verschachern, was erst am Widerstand von Beschäftigten, Eltern und GEW scheiterte. Die CDU will die Standards am liebsten sofort aufheben.
Wenig konkret sind bei allen Parteien die Vorstellungen, wie eine bessere frühkindliche Bildung konkret aussehen soll. Am deutlichsten noch die CDU: Sie will alterseinheitliche Gruppen einführen. Darüber hinaus laufen ihre Ideen quasi auf Mathe- und Deutschunterricht in den Kindertagesstätten hinaus. Das einzige was noch fehlt sind Klausuren und Sitzenbleiben.
Schuldig bleiben alle Parteien die Antwort darauf, wie denn die höheren Anforderungen an die Kitas, gut nachzulesen in den Leitlinien für Kitas des Bildungsministeriums, ohne Verbesserungen der Rahmenbedingungen umgesetzt werden sollen. Sprachförderung mit 25 Kindern in der Gruppe wird zur Farce, umfassende Elternarbeit bei nur 3 Stunden Verfügungszeit zur Unmöglichkeit.
Eine Verschiebung der parteipolitischen Fronten gibt es bei der Frage der ErzieherInnenausbildung. FDP, SSW und Grüne haben sich hier die jahrelange GEW-Forderung nach einer ErzieherInnenausbilduung auf Hochschulniveau zu eigen gemacht, während die beiden großen Parteien am deutschen Sonderweg in Europa, einer Ausbildung auf Berufsfachschulniveau, festhalten wollen. Dass wachsende Anforderungen auch eine höherwertige Ausbildung verlangen, wird von ihnen aus vordergründigen finanzpolitischen Gründen abgelehnt. Das trifft auch auf den gebührenfreien Kitaplatz zu. FDP und CDU wollen ihn sowieso nicht, die SPD will ihn irgendwann. SSW und Grüne sind hier schon weiter.
Bei den Landtagswahlen im kommenden Februar haben Wählerinnen und Wähler in der Bildungspolitik klare Alternativen. CDU und FDP stehen für den Status quo im Bildungssystem, SSW, Grüne und SPD für Veränderungen, wenn auch die konkreten Schritte etwas nebulös bleiben. Die Schule für alle jedoch ist nicht das Allheilmittel für eine gute Bildungspolitik, sie ist nur eine Voraussetzung dafür, wie z.B. Finnland und Schweden zeigen, die bei PISA in der Spitzengruppe landeten.
Ohne bessere Bedingungen in Schulen, Kindertagesstätten und Universitäten sowie eine verbesserte Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung wird aber auch die Schule für alle keine guten Ergebnisse erzielen. Schließlich und endlich brauchen wir mehr Geld für Bildung. Um bei den Bildungsausgaben auf den Stand von Schweden zu kommen, müsste Deutschland rund 40 Milliarden Euro zusätzlich investieren. Nicht zu bezahlen? Aber ja: 16 Milliarden Euro würde die Einführung einer Vermögenssteuer auf große Einkommen bringen, 4 Milliarden Euro die Erhebung einer Erbschaftssteuer und gar 20 Milliarden Euro die Rückführung der Besteuerung für Aktiengesellschaftten und GmbHs auf den Stand von 2001. Mehr Geld für Bildung wäre also da.
Bernd Schauer
Der Autor ist Geschäftsführer der GEW Schleswig-Holstein.
Der Artikel stellt seine persönliche Meinung dar.