(Gegenwind 191, August 2004)
Lübeck und Elmshorn, Neumünster, Kiel und Flensburg sowie etliche andere Orte in Schleswig-Holstein sind in den vergangenen Jahren - zum Teil wiederholt - zum Schauplatz von Neonazi-Aufmärschen geworden. Gelegentlich gab es den Versuch der zuständigen Behörden, diese zu verbieten, oft zeigten Kommunal- und LandespolitikerInnen aber kein oder wenig Interesse an Gegenmaßnahmen. Vielmehr war die rot-grüne Landesregierung bundesweit führend darin, Neonazi-Aufmärsche mit erheblichen finanziellen und personellen Mitteln und gegen zum Teil starken Widerstand vor Ort durchzusetzen.
So wurden bereits im März 1998 über 450 TeilnehmerInnen einer antifaschistischen Bündnisdemonstration gegen einen Aufmarsch des "Lübecker Bündnis Rechts" in Gewahrsam genommen. Mittlerweile gehören ein massives Polizeiaufgebot, das wie z.B. bei den beiden Aufmärschen gegen die sog. Wehrmachtsausstellung in Hamburg Anfang diese Jahres auch mehrere tausend Beamte und Beamtinnen umfassen kann, zu einem Neonazi-Aufmarsch dazu - bei Bedarf werden ganze Stadtviertel abgesperrt, der öffentliche Nahverkehr eingestellt bzw. den Neonazis zur Anreise kostenlos öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung gestellt. Behörden und PolitikerInnen verweisen dabei stets darauf, dass sie natürlich auch gegen Neonazis seien, sie aber keine andere Möglichkeit hätten, da die Aufmärsche gerichtlich erlaubt seien, oft ergänzt um den Hinweis, dass eine Einschränkung des Demonstrationsrechts hier Abhilfe schaffen könne.
Schleswig-Holstein führend:
Umfangreicher Polizeischutz für Neonazi-Aufmärsche
(hier Neumünster im Jahre 2000)
Trotz der schlechten politischen Rahmenbedingungen gab es vor Ort meist antifaschistische Gegenaktivitäten. In manchen Städten wurde die antifaschistische Gegenwehr von breiten Bündnissen getragen - immer aber gab es Versuche unabhängiger antifaschistischer Gruppen, diese öffentlichen Auftritte der Neonazis möglichst stark zu behindern, wenn eine vollständige Verhinderung schon nicht möglich war. So mussten die Neonazis z.B. Ende Januar 1999 in Kiel und Anfang September 2000 in Neumünster ihren Aufmarsch abbrechen, weil sich ihnen viele Menschen in den Weg stellten, die zuvor an den dortigen antifaschistischen Bündnisdemonstrationen teilgenommen hatten.
Bei der Beurteilung, welche Maßnahmen gegen neofaschistische Aufmärsche zu ergreifen sind, darf nicht unberücksichtigt bleiben, welche Funktionen diese Aufmärsche für die Ausweitung der neonazistischen Aktivitäten haben und was sie über den Entwicklungsstand der neofaschistischen Bewegung aussagen. Als dem Aufruf der "Nationaldemokratischen Partei Deutschland" (NPD) und anderer neofaschistischer Gruppen zum Aufmarsch gegen die Ausstellung Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 in München am 1. Mai 1997 über 5000 Neofaschisten und andere extreme Rechte gefolgt waren, handelte es sich um die seit über 20 Jahren größte öffentliche Kundgebung dieses Spektrums in der Bundesrepublik.
In einer Bilanz dieses Neonazi-Aufmarsches schrieben die damaligen Funktionäre der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) und der NPD, Sascha Rossmüller und Steffen Hupka, in der JN-Zeitschrift "Einheit und Kampf": "Psychologisch ist durch München ein großer Durchbruch erzielt worden. Nach 4 Jahren Verboten und zunehmender Repression hat die Szene wieder Tritt gefaßt. Ansätze waren allerdings schon vor München erkennbar. Der Staat kann viele Jahre Einschüchterungsversuche zu den Akten legen und sich eine neue Taktik überlegen. München hat ein neues Selbstbewußtsein geschaffen, das sich auf jeden einzelne Teilnehmer ausgewirkt hat und noch größere Bahnen ziehen wird."
Inzwischen vergeht kaum ein Wochenende, an dem Neonazis nicht durch die Straßen ziehen, rassistische und antisemitische Parolen verbreiten, die verbrecherische Waffen-SS hochleben lassen und politisch Andersdenkenden mit Gewalt und Terror drohen. Dies hat zu einer gestiegenen Aktionsfähigkeit und zu einem gewachsenen Selbstvertrauen der gewalttätigen Neonazi-Szene geführt. So heißt es in dem Neonazi-Blatt "Hamburger Sturm", das bis zu deren Verbot im Jahr 2000 von der gleichnamigen "Freien Kameradschaft" herausgegeben wurde, resümierend: "Besonders zur Resignation besteht kein Grund, allein das in den letzten 20 Jahren erreichte zeigt uns, daß wir auf dem richtigen Weg sind. [...] Wenn es vor 10 Jahren nur ca. 100 Kameraden waren, die sich zu einer Demonstration zusammengefunden hatten, so erreichen wir heute problemlos das 50-fache an Gleichgesinnten und vom Wachsen einer Bewegung hängt der spätere politische Erfolg ab. Es war vor 10 Jahren auch noch ein sehr unangenehmes Erlebnis, wenn unsere Kameraden vom roten Mob angegriffen wurden. Heutzutage fiebern wir solch einen Angriff entgegen, um denen zu zeigen wer mittlerweile das Recht auf der Straße erobert hat. Außerdem ist es gar nicht so lange her, daß jeder Nationalist mit der Auschwitzkeule niedergeschlagen wurde. Jetzt regt sich der Normalbürger nicht einmal über einen bekennenden Nationalsozialisten auf, da man sich an uns gewöhnt hat. Diese ersten kleinen Erfolge zeigen uns, daß wir weiterhin so oft und so massiv wie möglich in die Öffentlichkeit gehen müssen."
Für NPD und sog. "Freie Kameradschaften" bzw. "Freie Nationalisten" haben diese öffentlichen Auftritte strategische Bedeutung: sie tragen maßgeblich dazu bei, den politischen Bewegungsspielraum der neofaschistischen Gruppen zu erhöhen. Die NPD nennt dies explizit den "Kampf um die Straße", der einer der drei Säulen ihres langfristigen Konzeptes ist. Erfolge in diesem Bereich, d.h. die Möglichkeit zur ungehinderten Verbreitung auch offen faschistischer Propaganda, werden als Voraussetzung gesehen, um den "Kampf um die Köpfe" und den "Kampf um die Parlamente" führen zu können.
Diese Passage spiegelt konzentriert wider, welche Funktionen die Aufmärsche - und seien sie zahlenmäßig noch so schwach besucht - für die Organisierung der neofaschistischen Szene haben:
Dass diese Politik in den letzten Jahren aus der Sicht der Neonazi-Szene erfolgreich war, kann nicht bestritten werden. Zur Erinnerung: mit ca. 150 Teilnehmern fand im Mai 1997 in Bad Segeberg der bis dahin größte Neonazi-Aufmarsch in Schleswig-Holstein seit Jahrzehnten statt. Die Bedeutung der Aufmärsche für die Neonazi-Szene nimmt selbst dann nicht ab, wenn die selbst gesteckten Erwartungen nicht erfüllt werden. So kündigte im Jahr 2001 die NPD Schleswig-Holstein in einem internen Strategiepapier mit dem Ziel, in Schleswig-Holstein bis spätestens 2004 flächendeckende Strukturen aufzubauen, sechs Aufmärsche pro Jahr an, die vor allem in Städten mit 20.000 bis 40.000 EinwohnerInnen in "schwachstrukturierten Kreisen" stattfinden sollten. Nach Aufmärschen in Oldenburg und in Eckernförde mit geringer Teilnehmerzahl sowie dem Verbot eines geplanten Aufmarsches in Flensburg - die Landes-NPD hatte sich zuvor positiv auf die Anschläge vom 11. September bezogen - wurde die Kampagne ohne nachhaltigen organisatorische Erfolg abgebrochen.
Treten die Faschisten bei ihren Aufmärschen meist diszipliniert auf, um keinen Anlass für Verbotsmaßnahmen zu liefern, so umgibt die Aufmärsche doch eine starke Aura der Gewalttätigkeit, die vom Erscheinungsbild der Teilnehmer, der Art der Durchführung der Veranstaltung und den Reden ausgeht. Die von führenden norddeutschen öffentlich verbreiteten Drohungen und Einschüchterungsversuche gegenüber politischen GegnerInnen und aktiven AntifaschistInnen, aber auch gegen den Staat und seine Repräsentanten, werden wie z. B. in Neumünster und Elmshorn flankiert von nächtlichen Überfällen, der Schändung von Gedenkstätten, Anschlägen und Morddrohungen. Als mögliche Verbotsgründe für Aufmärsche werden diese Aktivitäten bisher offenbar völlig unbeachtet gelassen.
Aufmärsche und der von ihnen verbreitete Terror sind zwei Seiten derselben Medaille. Mag der konkrete Anlass eines Nazi-Aufmarsches noch so lächerlich erscheinen wie etwa Anfang 2000 in Hohenweststedt nach der Absage einer Silvesterfeier durch einen Gaststättenwirt, so wenig darf die Bedeutung dieser Aktivitäten selbst bei geringer Teilnehmerzahl unterschätzt werden. Die Faschisten wollen sich ungestört organisieren können; wer sich ihnen politisch entgegenstellt, dem/der gilt die Botschaft: dann kommen wir erst recht. Die Schlussfolgerung stillzuhalten und wegzusehen ist daher keine Lösung. Bleiben sie unbeachtet und unbekämpft, so erleichtert dies ihre Ausbreitung und erhöht ihre Gewalttätigkeit. Wo immer die neofaschistischen Organisationen und Netzwerke öffentlich auftreten, gilt es daher, sich ihnen in den Weg zu stellen - mit möglichst vielen Menschen und mit echter Entschlossenheit, ihnen den politischen und praktischen Bewegungsspielraum wieder zu nehmen, den sie u.a. aufgrund der langjährigen Nichtbeachtung durch weite Teile der Öffentlichkeit erreicht haben. Ein legalistisches Vorgehen, das sich mit jeder Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten durch juristische Entscheidungen und polizeiliche Taktiken (Absperrungen, Platzverweise, Räumungsdrohungen, ...) abfindet, ist in dieser Situation fehl am Platze. Ziviler Ungehorsam, etwa in Form von Blockaden auf den den Neonazis staatlicherseits zugebilligten Straßen, und andere Aktionen, die den Faschisten ihr öffentliches Auftreten ungemütlich machen, müssen stärker als bisher zum festen Bestandteil auch der Aktionsplanung breiter Bündnisse werden. Wenn in Kiel, Neumünster und anderswo erfolgreiche Aktionen gegen neonazistische Aufmärsche haben stattfinden können, so deshalb, weil diese beiden Gesichtspunkte - Breite und Entschlossenheit - zusammengekommen sind. Daran gilt es bei zukünftigen Anlässen anzuknüpfen.