(Gegenwind 188, Mai 2004)

Zur Gesundheits-"Reform"-Politik

Der verantwortungslose Staat

Aua! Wenn Sozis zu sehr reformieren

Zur Gesundheits-"Reform"-Politik: Der verantwortungslose Staat Am 20.1.2004 meldete die taz den Tod eines gehbehinderten Dialysepatienten. Er konnte das Geld nicht aufbringen, um sich zu seiner Behandlung fahren zu lassen. Mit der Gesundheitsreform werden u. a. auch die Fahrtkosten nicht mehr vollständig übernommen. Daher erstattete ein Taxifahrer gegen die Verantwortlichen der Gesundheitsreform eine Anzeige wegen fahrlässiger Tötung.

Die Reformprojekte der letzten 15 Jahre sind kaum überschaubar. Die Agenda 2010 fasst die Reformbestrebungen der SPD zusammen. Sie wurde auf dem Sonderparteitag am 1. Juni 2003 in Berlin verabschiedet und setzt konsequent den Weg fort, den die Sozialdemokraten bereits in ihrem Wahlprogramm 1998 beschrieben haben (siehe auch Likedeeler Nr. 9).

Die Notwendigkeit der Agenda 2010 wird mit dem demographischen Wandel (Erhöhung des Rentneranteils an der Gesamtbevölkerung), dem geringen Wirtschaftswachstum und dem internationalen Wettbewerb begründet.

Um den erhöhten Anteil von Rentnern weiterhin zu versorgen, müssten die Arbeitenden und Arbeitsfähigen einen erhöhten Anteil leisten. Von einer Erhöhung des Wirtschaftswachstums erhofft man sich neue Arbeitsplätze, die notwendig für den Bestand des Sozialstaates seien. Das nationale Wirtschaftswachstum ist jedoch abhängig vom internationalen Wettbewerb. Nach Ansicht verschiedener Parteien und Unternehmervertreter kann diese Konkurrenzfähigkeit nur durch verschiedene Reformen im Land erreicht werden.

In der Praxis führen die Reformen zu einer wachsenden Belastung der privaten Haushalte und einer sinkenden Belastung von Unternehmen und Staat. Neu ist die Entwicklung nicht. Sieht man sich die Finanzierungsquellen des Sozialbudgets an, kann man erkennen, dass die Belastung der privaten Haushalte seit 1960 nahezu kontinuierlich zunimmt. Staat und Unternehmen schieben sich gegenseitig Belastungsanteile zu. Der Gesamtbelastungsanteil beider nimmt aber in der Tendenz ab.

Diese Entwicklung wird mit den Reformen fortgesetzt. Durch die von der Wirtschaft geforderte und vom Staat durchgesetzte Senkung der Lohnnebenkosten werden die Unternehmen in Zukunft in geringerem Maße an der Finanzierung des Sozialsystems mitwirken. Das Beispiel der Gesundheitsreform zeigt, wie gravierend die sozialen Einschnitte sind.

Gesundheitsreform

Bereits 1989 wurde das erste Gesundheitsreformgesetz in Kraft gesetzt. Ab 1993 wurden unter Seehofer z.B. die Zuzahlungen bei der medizinischen Versorgung verstärkt. In der Gesundheitspolitik nahm die rot-grüne Regierung die christdemokratisch-liberalen Sparmaßnahmen in vielen Bereichen zurück: Es wurden die 1996 und 1997 festgesetzten Zuzahlungen gesenkt, ausgegrenzte Leistungssegmente erneut in den Leistungskatalog integriert, das Krankenhausnotopfer wurde abgeschafft und für Ärzte und Krankenhäuser vorläufige Ausgabenbudgets fixiert.

Nach dem anfänglichen scheinbar sozialen Engagement ist jedoch auch die SPD nun eifrig mit der Demontage der sozialen Marktwirtschaft beschäftigt. Die Maßnahmen sind vielfältig und schwer durchschaubar. Einen guten Überblick bietet die Homepage www.lebenshilfe.de.

Die Deutsche Gesellschaft für Versicherte und Patienten (DGVP) zieht bereits jetzt eine düstere Bilanz. So hätten die Bürger nicht, wie prognostiziert, mehr Geld in der Tasche, um die Zuzahlungen und Extra-Ausgaben aufbringen zu können. Die Beitragssätze der Kassen seien entweder überhaupt nicht oder nur unwesentlich gesunken, verschiedene Kassen hätten ihre Beiträge sogar angehoben. Steuerentlastungen fielen kaum ins Gewicht. Auch Arzneimittel sind nach Beobachtung der DGVP nicht billiger geworden, vielmehr sehen sich die Patienten in den Apotheken mit erstaunlichen Aufschlägen konfrontiert. Ein schwerer Fehler sei auch die Streichung der Härtefallregelung, wodurch wirtschaftlich schwächere Patienten in skandalöser Weise belastet würden.

So müssen z.B. Sozialhilfeempfänger künftig alles selbst bezahlen, was nicht mehr im Leistungskatalog der Krankenkassen steht. Das bedeutet: Sie müssen z.B. für Brillen oder nichtverschreibungspflichtige Medikamente selbst aufkommen. Derartige Ausgaben sind jedoch in den pauschalen Regelsätzen nicht enthalten. Noch ist vollkommen unklar, wie die Schnittstellenprobleme zwischen Sozialhilferecht und gesetzlicher Krankenversicherung gelöst werden sollen. Ein Beispiel wäre der Abschluss einer privaten Zahnersatzversicherung ab dem Jahr 2005. Sozialhilfeempfänger können diese Beiträge nicht aus dem Regelsatz finanzieren, der eigentlich das soziokulturelle Existenzminimum abdecken soll. Die ebenfalls in der Beratung befindliche Reform der Sozialhilfe bietet hier zwar grundsätzlich die Möglichkeit zu sozialverträglichen Regelungen - ob es dazu kommt, ist jedoch völlig ungewiss.

Teure Pillen

Gewinner bleibt die Pharmaindustrie. Einzelne Arzneimittelhersteller stoppten bereits vor einigen Jahren gerichtlich den Arzneiverordnungsreport 1997, der neben Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen auf dem Arzneimittelmarkt auch Hinweise für eine "rationale Arzneimitteltherapie" enthielt, mit der rund 4,2 Milliarden Mark hätten eingespart werden können. Dem Arzneiverordnungs-Report 2002 war zu entnehmen, dass für die Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung mit insgesamt 742 Millionen Verordnungen zwar 1 % weniger Arzneimittel verschrieben wurden als noch im Jahre 2000, dass aber die Ausgaben um insgesamt 10,4 % auf den Rekordwert von 21,3 Milliarden Euro anstiegen. Auch 2003 konnte dieser Trend nicht gestoppt werden und der Gesamtumsatz lag bei 22,7 Mrd. Euro. Obgleich die Arzneimittelkosten den 2. Platz bei der Kostenverteilung in der gesetzlichen Krankenversicherung einnehmen, wird nichts wirksames unternommen, um teure Markentabletten durch billigere Generika, d.h. nahezu inhaltsgleiche Medizin, zu ersetzen.

Zwar konnte die Anzahl der Verordnungen von Generika erhöht werden, gleichzeitig stiegen jedoch die Arzneimittelpreise. Kostete eine Arzneimittelpackung im Jahr 1992 durchschnittlich 16,12 Euro, liegen die mittleren Kosten zehn Jahre später mit 29,80 Euro fast doppelt so hoch. Der Grund für diese Verteuerung liegt im steten Umbau der Arzneimittelversorgung mit einem Trend zu neuen patentgeschützten Me-Too- und Analogpräparaten. Diese sind z. T. viel teurer als die bisherigen Medikamente, haben aber lediglich die gleiche Wirksamkeit. Der Patentschutz verhindert einen Ersatz durch Generika. Dadurch sinkt der Umsatzanteil der Generika, obwohl sie häufiger verschrieben wurden.

Wenn man bei den Gesundheitsausgaben sparen will, gäbe es neben dem konsequenten Einsatz von Generika auch weitere sozialere Alternativen als die Gesundheitsreform der Regierung. So seien die Diagnose-Ausgaben oft übertrieben. Der bundesdeutsche Sachverständigenrat stellte zum Beispiel in einem Gutachten zur Versorgungssituation von ausgewählten chronischen Erkrankungen ein Überangebot medizinisch-diagnostischer und akut interventioneller Maßnahmen fest. Dagegen gäbe es Defizite in den pflegerischen und rehabilitiven Maßnahmen. In Greifswald berichteten Medizinstudenten, dass bei der Analyse des Blutbildes oft das komplette Programm durchanalysiert wird, obwohl für die entsprechende Untersuchung nur bestimmte Parameter interessant seien. Ein Behandlungskatalog für eine sinnvolle Analyse, wie es ihn in anderen Ländern schon gibt, wäre hier wichtig.

Greifswald und die Welt

Gerade in wirtschaftlich schwachen Städten wie Greifswald, haben Reformen fatale Auswirkungen. Die wachsende Armut lässt sich in der Hansestadt am Beispiel der Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt) verdeutlichen. In absoluten Zahlen betraf dies im Jahr 2002 insgesamt 2657 Menschen. Besonders bedrückend ist dabei die Anzahl der Kinder, deren Eltern auf Sozialhilfe angewiesen sind. Jedes achte Greifswalder Kind befand sich in dieser Situation. Rudi Duschek, Mitverfasser der Sozialanalyse Greifswalds für das Jahr 2000, weist in diesem Zusammenhang auf die unerträgliche persönliche Belastung hin, die sich durch die gestiegenen Kosten in verschiedenen Bereichen ergeben. So sei erst kürzlich das Essengeld an Schulen erhöht worden. Auf Sozialhilfe angewiesene Menschen müssen in dieser Situation entscheiden, ob sie das Geld für die Versorgung der Kinder oder für die Gesundheit ausgeben, und wo sie es an anderer Stelle einsparen.

Die Reformen im Gesundheitsbereich zeigen in besonderem Maße die unverantwortliche Organisationsform des Kapitalismus. Diese Erkenntnis steckt auch verschlüsselt im Weltbankbericht von 1993, in dem ein "Marktversagen" des Gesundheitssektors beschrieben wird. Der Patient tritt hilfesuchend an den Arzt heran und verfügt nicht über das Wissen eines Mediziners. Die "richtige" Wahl des "Produktes für die Gesundheit" durch den Patienten ist damit schlecht möglich. Daher bestimmen die Ärzte den Umfang ihrer Dienstleistungen weitgehend selbst. Dessen ungeachtet stehen die Krankenkassen in Deutschland bereits seit 1992 im Wettbewerb um zahlungskräftige Patienten. Wenn nun aber einige Krankenkassen versuchen, wirtschaftlich schlechter gestellte Menschen nicht aufzunehmen, wird sich in anderen Krankenkassen der Anteil dieser Menschen erhöhen. Der Finanzausgleich zwischen den Kassen ist für den sozialen Ausgleich unzureichend, die schlechtere Gesundheitsversorgung für wirtschaftlich Schwache ist das Ergebnis.

Der Sozialabbau findet jedoch nicht nur in Greifswald oder Deutschland statt, sondern weltweit. Und da beißt sich wohl die Katze in den eigenen Schwanz: die Industriestaaten sparen, um mit den weniger entwickelten Ländern konkurrieren zu können, und diese lassen keine Sozialstandards zu, damit sie von Internationaler Währungsfond (IWF) und Weltbank (WB) Kredite aus den Industriestaaten bekommen. Die internationalen Kreditgeber, wie IWF und WB, zwangen den ärmeren Staaten neoliberale "Strukturanpassungsprogramme" auf, die neben der Export- und Devisenorientierung der Ökonomie gerade die Ausgabensenkung für Bildung und Gesundheit vorschrieben. So wurden in den 37 ärmsten Ländern die pro Kopf Ausgaben für Gesundheit in den 1980er Jahren um 50 Prozent reduziert. Das hat unter anderem direkte Folgen für die Lebenserwartung. In den afrikanischen Ländern Botswana und Zimbabwe sank z. B. die durchschnittliche Lebenserwartung in den 90er Jahren bis heute von etwa 60 auf 45 - 50 Jahre.

Paradebeispiel für eine gezielte Zerstörung des öffentlichen, solidarischen Gesundheitssystems ist Chile. In den 70er Jahren wurden unter der Diktatur Pinochets die Beiträge des Staates und der ArbeitgeberInnen radikal gekürzt und der Wechsel zu Privatversicherungen massiv gefördert. Heutzutage müssen die PatientInnen mehr als 80 Prozent der Gesundheitsausgaben selbst tragen, 1974 waren es nur 19 Prozent.

Aber kehren wir zur internationalen Konkurrenz zurück. Denn diese wird zur Begründung der Reformen in unserem Land herangezogen. Einer der "günstigen" Wirtschaftsstandorte sind die Philippinen. Dort werden unsere Klamotten häufig genäht. Der weltweite Trend der Kostensenkung im Gesundheitsbereich fand auch in diesem Staat statt. Er steigerte sich noch 1997, als die asiatische Finanzkrise als Frucht der neoliberalen Globalisierung ausbrach. Die Philippinen sind heute weltweit die Nummer 1 bei Keuchhusten, Diphtherie und Tollwut; weltweit die Nummer 3 bei durch Vitamin-A-Mangel ausgelöster Blindheit sowie die Nummer 1 im westpazifischen Raum bei Tuberkulose, der Wurmerkrankung Schistosomiasis und bei Kinderlähmung.

Für die meisten von uns wäre es möglich, mit dem Argument, uns gehe es doch vergleichsweise gut, die Hände in den Schoß zu legen. Dies scheint aber nicht nur egoistisch, sondern auch in Anbetracht des Konkurrenzdrucks kurzsichtig zu sein. Die Gesundheitsstandards sinken eben bei uns auch.

Den Spieß umdrehen

Freuen können sich dagegen die Spitzenverdiener. Josef Ackermann zum Beispiel: Der Chef der Deutschen Bank konnte mit einem Jahresgehalt 2003 von 11,1 Mill. Euro 60 Prozent zulegen. Da sind die Lohnforderungen der Gewerkschaften geradezu lächerlich. Aber das Bewusstsein für die soziale Ungerechtigkeit wächst. Längst glauben nicht mehr alle das Märchen von angeblich notwendigen Sparmaßnahmen. Und neben der Verteidigung der sozialen Errungenschaften im Inland werden auch Forderungen zur Verbesserung der sozialen Lage im Ausland laut. Die Kampagne gegen Kinderarbeit wird z. B. von klassischen Dritte-Welt-Organisationen und hiesigen Gewerkschaften gemeinsam organisiert. Zu Demonstrationen, wie der vom 3. April 2004, mobilisieren Attac, Gewerkschaften und viele andere Organisationen gemeinsam. Die Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung fehlt der Bewegung allerdings noch. Noch sind es zu wenige, noch fehlen gemeinsam getragene, soziale Konzepte für die Zukunft. Noch hält Schröder an seinen Reformplänen fest, noch hat die Opposition aus CDU/CSU und FDP die Chance, bei Neuwahlen den Sozialabbau weiterzuführen.

Aber auch auf parlamentarischer Ebene tut sich was. Unter der Homepage www.wahlalternative.de wird die Gründung einer neuen sozialen Partei diskutiert. Nicht eine linke Schill-Partei, wie behauptet, sondern eine Partei, die aufklärend in die politische Diskussion eingreift, ohne zu verdummen oder Sündenböcke zu erfinden, so ist es auf der Homepage zu lesen. Bleibt zu wünschen, dass ihnen die Entwicklung der Grünen erspart bleibt.

Frank Effenberger

Aus: Likedeeler, Greifswald
(www.likedeeler-online.de)

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