(Gegenwind 184, Januar 2004)

 

Die Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein

Landesrabbiner Walther Rothschild
Landesrabbiner Walther Rothschild

Im November 2003 gründeten sich die Jüdischen Gemeinden Elmshorn und Ahrensburg. Beide Gemeinden haben etwas gemeinsam: Sie waren als Gruppierung seit längerer Zeit vorhanden und wollten ganz bewusst im November gründen. Es soll ein Zeichen des Neuanfanges nach einem geschichtsträchtigen Datum sein, und beide Gemeinden möchten an einem historischen Ort anknüpfen. In Elmshorn und Ahrensburg haben Juden gebetet, es gab eine kleine Synagoge bzw. einen Betsaal und es gibt noch heute jeweils einen jüdischen Friedhof. Die Gemeinden wurden also wieder-gegründet.

Es war der Wunsch, in der Nähe seines Wohnortes zu einem Gottesdienst gehen zu können. Diese Gründungen sind möglich geworden, weil die Bundesrepublik Deutschland jüdische Immigranten aufgenommen hat und somit die Jüdische Gemeinschaft an sich verstärkte. Es sind noch kleine Gemeinden, doch sie werden wachsen, das ist sicher. Kontakte zur Stadt sind aufgenommen, die Gründungen wurden herzlich begrüßt.

Dies waren mutige und aktive Schritte von zwei kleinen Gruppen von Juden zum oft erwähnten Wunsch nach "Normalität", dem selten Taten folgten. Die Ausrichtung dieser Gemeinden ist traditionell/konservativ.

Die erste in Schleswig-Holstein gegründete Jüdische Gemeinde nach der Shoah war die (orthodoxe) Jüdische Gemeinde Lübeck im September 2001. Jedoch sind die Abhängigkeiten von der Großgemeinde in Hamburg so erheblich, dass die Selbständigkeit eher eingeschränkt blieb, zumal die Lübecker Synagoge weiterhin im Eigentum der Hamburger steht. Die ebenfalls zur Hamburger Gemeinde gehörenden Gruppierungen in Kiel und Flensburg gründeten sich bis heute nicht.

Ganz anders entwickelten sich die Dinge in Bad Segeberg. Völlig losgelöst von einer anderen Gemeinde oder Organisation gründete sich die Jüdische Gemeinde Bad Segeberg im Februar 2002. Keine Erreichbarkeit zur nächsten Gemeinde, notgedrungene Beerdigungen von Juden auf christlichen Friedhöfen, Wunsch nach gemeinsamen Shabbatgottesdiensten und jüdischen Festen waren ausschlaggebend für die Gründung und Selbständigkeit.

Die Gemeinde entwickelte sich unerwartet schnell und ist heute bereits Eigentümer eines über 1000 Quadratmeter großen Gebäudekomplexes, das zum Gemeindezentrum mit Synagoge und Mikwe (rituelles Reinigungsbad) ausgebaut werden soll. Sogar ein neuer Jüdischer Friedhof wurde mit Hilfe der Stadt und der Kirche eingerichtet. Die klare Aussage der Kirche "Friedliches Nebeneinander ohne Ängste vor Missionierung oder Assimilation, Unterstützung und Freundschaft" gaben den Gemeindemitgliedern und Familien Mut und Sicherheit.

Mit der Hilfe eines Rabbiners und Rabbinerstudentinnen und -studenten des Abraham-Geiger-Kollegs Berlin wurden die religiösen Bedürfnisse der Gemeinde versorgt.

Der NDR begleitet die Gemeinde für eine zweijährige Langzeitreportage. Dabei werden alle Themen berührt, die Erfolge der Gemeinde, aber auch die Hindernisse und Probleme bei der Etablierung.

So war es denn eine Frage der Zeit, bis auch eine Gruppe in Elmshorn sich als Jüdische Gemeinde gründete. Der eigentlich unhaltbare Zustand, dass sich diese Menschen seit vielen Monaten heimlich in einem Keller trafen um zu beten, konnte dadurch beendet werden.

Aus dieser Gruppe ist nach einem Jahr eine stolze und selbstbewusste Gemeinde geworden, deren Mitgliederanzahl sich mittlerweile verdreifacht hat. Musiker und Köche, Lehrer und mehrsprachig aufgewachsene Schüler sorgen für einen einzigartigen Mix bei den Aktivitäten. Da auch hier mit einem Anwachsen zu rechnen ist, wird bereits zum zweiten Mal über die Suche nach größeren Räumlichkeiten nachgedacht.

Um die Interessen vor übergeordneten Institutionen vertreten zu wissen, traten beide Gemeinden der Union Progressiver Juden in Deutschland bei, einer Vereinigung nichtorthodoxer Gemeinden. Ausschlaggebend war, dass die weiblichen Gemeindemitglieder entschieden, in jeder Hinsicht gleichberechtigt sein zu wollen. Diese Union versorgt die Gemeinden mit allem, was für ein religiöses und soziales Gemeindeleben erforderlich ist. Ob es sich um Gebetsbücher, rechtliche Unterstützung, Gemeindesatzungen, Lehrgänge für Sozialarbeit, Gottesdienstleitungen/Liturgielehrgänge, Teilnahme an Jahrestagungen oder jüdische Ferienlager für Kinder und Jugendliche im Sommer und Winter handelt, die Angebotspalette der Union ist nahezu unbegrenzt.

Heute sind die Gemeinden Bad Segeberg und Pinneberg geprüfte und anerkannte Religionsgemeinschaften und Mitglieder der weltgrößten Vereinigung jüdischer Gemeinden, der World Union For Progressive Judaism mit Sitz in Jerusalem. Es existieren nunmehr in Schleswig-Holstein die fünf offiziellen Jüdischen Gemeinden Bad Segeberg, Pinneberg, Elmshorn, Ahrensburg und Lübeck.

Zur orthodoxen Gemeinde Lübeck bestehen freundschaftliche und kooperative Kontakte. So war es eine Selbstverständlichkeit, dass zum Gedenkgottesdienst des 9. Novembers Mitglieder der Gemeinden des Landesverbandes in der Lübecker Synagoge beteten.

Toleranz möchte man zeigen und besonderen Respekt vor dem Mut eines Überlebenden des Warschauer Ghettos; der 2. Vorsitzende der Gemeinde hielt dort eine bewegende Rede seines tragischen Lebensweges.

Zu allen Gemeinden gibt es Förderkreise oder nahe stehende Kulturvereine, die allen Bürgern des Landes die Möglichkeit geben sollen, ihre jüdischen Nachbarn kennen zu lernen. So sollen mögliche Vorbehalte gar nicht erst entstehen und die Gemeinden von ihren Freunden und Fördern unterstützt werden.

Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein

Vor Jahren übernahm die Jüdische Gemeinde in Hamburg Verwaltungs- und Betreuungsaufgaben für die Juden in Schleswig-Holstein. Dass es mit der bisherigen alleinigen Zuständigkeit der Großgemeinde Hamburg ein Ende hat, ist unausweichlich geworden und mehrfach begründet.

Durch den Zustrom von Immigranten aus den ehemaligen GUS-Staaten bildeten sich Gruppen, die ihre Geschicke selber in die Hand nehmen wollten. Ferner waren die Entfernungen nach Hamburg aus allen Orten Schleswig-Holsteins einfach zu groß. Es ist für die Masse der finanziell schwach gestellten Familien nicht möglich gewesen, religiöse Betreuung in Anspruch nehmen zu können. Improvisierte Shabbatabende in Kellern, nicht-jüdische Beerdigungen, kulturelle Entwurzelung, aber auch massive Kritik vieler jüdisch/russischer Immigranten an der mangelhaften Betreuung durch die Hamburger Gemeinde gaben den Ausschlag.

So war es ausschließlich eine Frage der Zeit geworden, dass Gruppen in diesem förmlichen "Vakuumzustand" ihre Geschicke selber in die Hand nahmen. Nach der Gründung des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein vor fast einem Jahr durch die Gemeinden Bad Segeberg und Pinneberg traten die Gemeinden Elmshorn und Ahrensburg diesem sofort bei.

Eine Anfrage der Gruppierung aus Flensburg zeigt das Interesse an dieser neuen Struktur. Eine Kontaktaufnahme mit der Kieler Gruppierung scheiterte; vor dem Gemeindezentrum stand auf russisch "Vorübergehend geschlossen". Doch sind mitt­lerweile auch Kieler Juden Gast in den Gemeinden des neuen Landesverbandes.

Bei der Satzung des Landesverbandes sind mehrere Angebote sorgfältig geprüft worden. Den Zuschlag erhielt die Satzung eines jüdischen Rechtsanwaltes der Gemeinde Hannover. Diese Satzung betont die Autonomie der Mitgliedsgemeinden und garantiert jeder Jüdischen Gemeinde (orthodox oder liberal) den Beitritt. Viele alteingesessene Gemeinden bezeichnen sich zwar als "Einheitsgemeinden", die Praxis sieht leider oft anders aus. Dieser Landesverband hat bereits jetzt den Charakter der "Einheitsgemeinde" und wird ihn ausdrücklich bewahren.

Der Landesverband besteht am 5. Dezember 2003 erst ein Jahr und kann bereits auf eine erfolgreiche Arbeit zurückblicken:

Die Gemeinden haben sich vergrößert, alle feiern ihre Gottesdienste in festen Räumlichkeiten und sind mit hebräisch/deutsch/russischen Materialien für die Gottesdienste versorgt.

Der Landesverband sorgte für die Möglichkeit der Bestattung nach jüdischem Ritus auf einem neuen Jüdischen Friedhof in Bad Segeberg und zukünftig auch in den Orten mit einer Jüdischen Gemeinde. Für alle Gemeinden ist ein Rabbiner als Ansprechpartner vorhanden.

Da Bad Segeberg Sitz des Landesverbandes geworden ist, kommt dem Bau des dortigen Gemeindezentrums mit Synagoge eine besondere Bedeutung zu. Von hier aus sollen weitere, neu gegründete Gemeinden versorgt werden. Die Synagoge soll allen Gemeinden für jüdische Hochzeiten, Feste und die Hohen Feiertage offen stehen.

Der Landesverband steht in direkter Nachfolge zu seinen Vorläufern,

Er ist in konstruktiven Gesprächen mit den verantwortlichen Ministerien des Landes Schleswig-Holstein.

Um auch auf dieser Ebene "Normalität" zu erreichen, sind die Körperschaftsrechte beim Kultusministerium beantragt, die dem Landesverband den Weg in den Zentralrat der Juden in Deutschland öffnen. Dann kann auch Schleswig-Holstein endlich wieder einen Delegierten in das Direktorium des Zentralrates entsenden und von den Leistungen des Staatsvertrages partizipieren. Dieser Sitz ist nämlich leider zur Zeit unbesetzt.

Die Ziele des Landesverbandes sind bereits festgesteckt:

Landesrabbiner von Schleswig-Holstein

Pünktlich zum einjährigen Jubiläum nimmt jedoch die wichtigste Person des Landesverbandes ihre Arbeit auf: Herr Rabbiner Walther Rothschild, der neue, offiziell und korrekt bestellte "Landesrabbiner von Schleswig-Holstein".

Seine Aufgabe ist es, die religiöse Grundversorgung der Mitgliedsgemeinden zu sichern und die Strukturen weiter aufzubauen und zu verstärken.

Auch hier lagen verschiedene Angebote vor. Den Zuschlag erhielt Herr Rabbiner Rothschild jedoch, weil er gegenüber anderen Bewerbern die klare Aussage gemacht hat, dass er mit allen Rabbinern und Stellen zusammenarbeiten werde. Doch ihn kennzeichnet noch mehr: Er gilt als erfahren, kompromissbereit, äußerst hilfsbereit in jeder Beziehung und er hat Mut. Mut zum Aufbau, Mut um Probleme zu bewältigen und Mut, sich gegenüber anderen zu behaupten. Ausschlaggebend ist nicht nur sein eindeutiges Bekenntnis zum respektvollen Nebeneinander sondern vor allem zur "Einheitsgemeinde Schleswig-Holstein" .

Doch sind die Mitgliedsgemeinden deshalb nicht pauschal an ihn weisungsgebunden, im Gegenteil: Jede Gemeinde kann sich weiterhin selbst ihren eigenen Rabbiner und ihre religiöse Ausrichtung (orthodox oder liberal) bestimmen.

Einer besonderen Erwähnung bedarf des Logos des Landesverbandes: Ein blauer Davidstern auf weißem Grund mit rotem, hebräischem Schriftzug darunter soll die eindeutige Verbindung zu unserem Land Schleswig-Holstein darstellen. Und der Spruch unserer Heimat "Up ewig ungedeelt" soll nunmehr auch für die Jüdischen Gemeinden des nördlichsten Bundeslandes gelten.

W. Seibert / L. Budnikov / W. Blender

(Vorstand des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein)

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