(Gegenwind 183, Dezember 2003)

Migrantenkinder an den Schulen

Erfolg oder Frust?

Migrantenkinder

Am 6. September fand in Kiel unter diesem Titel eine Tagung am Bildungszentrum Mettenhof statt. Das Hauptreferat hielt Dr. Ursula Boos-Nünning. Sie ist Professorin für Migrationspädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Wir geben hier einen überarbeiteten Mitschnitt des Vortrags wieder, der von der Autorin autorisiert wurde. Das vollständige Redemanuskript ist mehr als doppelt so lang, es kann bei der Redaktion angefordert werden.

Kiel 2002: Nur neun ausländische Jugendliche machen Abitur

Die Kinder, von denen ich hier spreche, sind Kinder mit ausländischem Hintergrund, die aber zu 80 bis 90 Prozent in Deutschland geboren wurden. Es gibt daneben auch Seiteneinsteiger und Seiteneinsteigerinnen, aber sie machen nicht die zahlenmäßig größte Gruppe aus. Die schlechten Bildungserfolge der Kinder aus zugewanderten Familien lassen sich in Schleswig-Holstein wie in allen anderen Bundesländern durch die Bildungsstatistik belegen. Die Pisa-Ergebnisse, die nicht nach der Schulform oder dem formalen Schulabschluss fragen, sondern dem tatsächlichen Lernstand zugrundelegen, machen ebenso deutlich den Lernrückstand dieser Gruppe klar.

Ich habe mir die Zahlen für die Stadt Kiel angesehen. Da werden vertraute Daten vorgestellt: Da gibt es Grundschulen, die nur zwei Prozent Schüler und Schülerinnen mit einem ausländischem Hintergrund haben, dann gibt es Grundschulen die haben 47 Prozent Kinder mit ausländischem Hintergrund. Eine der Schulen wird von 41 Prozent ausländischen Schülern und 6 Prozent aus Aussiedlerfamilien besucht. Auch bei den Gymnasien bestehen beachtliche, wenn auch im Verhältnis zu den Grundschulen deutlich geringere Unterschiede: Von 2 bis 16 Prozent der Schülerschaft sind ausländischer Herkunft. Wie überall in Deutschland sind die Übergänge von Grundschulen mit hohem Ausländeranteil auf ein Gymnasium besonders niedrig und auf eine Hauptschule besonders hoch. Umgekehrt sind die Übergänge auf das Gymnasium von Grundschulen mit niedrigem Ausländeranteil besonders hoch. Die Chance des Kindes, ein Gymnasium zu besuchen, hängt entscheidend von der besuchten Grundschule, von dem Wohnumfeld ab. Aber ein Punkt in der Schulstatistik von Kiel ist anders und irritierend: Die Stadt Kiel hat 2002 nur neun Jugendliche (sechs männliche und drei weibliche) mit ausländischem Hintergrund, die das Abitur geschafft haben, das sind 1,3 Prozent der ausländischen Schüler und Schülerinnen. Diese Zahl liegt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt und hätte längst in der Stadt oder im Land diskutiert werden müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass von den ausländischen Jugendlichen im Jahr 2002 nur neun befähigt waren, das Abitur zu schaffen. Diese Quote ist so niedrig, dass sie Aufmerksamkeit erwecken müsste.

Woran scheitern Kinder mit ausländischem Hintergrund? In der Fachdiskussion gibt es dazu unterschiedliche Erklärungen. Ein erster Erklärungsansatz sagt, sie scheitern, weil sie sozial benachteiligt sind. Ein zweiter Erklärungsansatz führt das Scheitern auf die Zugehörigkeit zurück und behauptet, sie kommen nicht klar, weil sie türkischen oder Aussiedler-Hintergrund haben.

In Deutschland sind die Schulabschlüsse stärker als in fast allen anderen Ländern von der sozialen Schicht abhängig

Für die erste Erklärung, die Bildungsbenachteiligung mit der Zugehörigkeit zur unteren sozialen Schicht erklärt, sprechen die Ergebnisse von Pisa. In Deutschland sind die Schulabschlüsse stärker als in fast allen anderen Ländern von der sozialen Schicht abhängig. Die Kinder und Jugendlichen aus oberen Schichten (z.B. aus Akademiker-, Selbständigenfamilien) machen deutlich häufiger das Abitur. Die aus unteren sozialen Schichten (z.B. aus ungelernten und Facharbeiterfamilien) bekommen häufiger keinen Schulabschluss oder nur den Hauptschulabschluss. Kinder und Jugendliche mit ausländischem Hintergrund sind - so sagt dieser Erklärungsansatz - benachteiligt, weil ihre Eltern den unteren sozialen Schichten angehören. Spielt dann der ethnische Faktor gar keine Rolle mehr?

Die wenigen, leider teilweise älteren Untersuchungen, die den Einfluss sozialer und ethnischer Faktoren prüfen, kommen zu einem differenzierterem Ergebnis: Kinder und Jugendlicher ausländischer Herkunft scheitern, weil sie aus unteren sozialen Schichten kommen. Aber die Schicht erklärt nicht alles. Die Schüler und Schülerinnen mit türkischem und italienischem Hintergrund scheitern auch, weil sie dieser ethnischen Gruppe angehören. Beides muss als Erschwernis in der Schullaufbahn berücksichtigt werden.

Welchen Anteil die Schule daran hat, dass die Kinder mit ausländischem Hintergrund so schlecht wegkommen?

Kommen wir zu einem anderen Punkt: Nach den Diskussionen in der Öffentlichkeit und teilweise auch in der Fachliteratur wird in den fehlenden deutschen Sprachkenntnissen die wichtigste Ursache für die Schulschwierigkeiten der Kinder und Jugendlichen mit ausländischem Hintergrund gesehen. Es wird folgende Argumentation vertreten: Da die Heiratsmigration zugenommen hat (d.h. dass ein Ehepartner aus dem Herkunftsland der Eltern neu einreist), da überwiegend die muttersprachlichen Medien gesehen werden und da die Kinder und Jugendlichen immer häufiger im ethnischen Ghetto aufwachsen, lernen immer weniger in ihrer Familie und in ihrem Umfeld die deutsche Sprache und kommen ohne solche Kenntnisse in die Bildungseinrichtungen. Erst im Kindergarten oder - was noch schwieriger ist - bei der Einschulung kommen ein Teil von ihnen erstmals mit der deutschen Sprache in Verbindung. Diese Erklärung ist nicht falsch, aber sie reicht nicht aus.

Fragen wir einmal anders und diskutieren wir: Welchen Anteil die Schule daran hat, dass die Kinder mit ausländischem Hintergrund so schlecht wegkommen, werden sie nicht in der Schule benachteiligt?

In Nordrhein-Westfalen wurden Untersuchungen durchgeführt, die belegen, dass sich die Schule, die Lehrer und Lehrerinnen wie die Schulleitung sich an der Standardvorstellung eines Schülers orientiert, der in einer vollständigen Familie lebt, deutsch spricht, dem christlichen Kulturkreis angehört und der letztlich deutsche Vorstellungen pflegt und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. In diesen Studien wird ferner belegt, dass Kinder, die solchen Vorstellungen nicht genügen, schneller in der Sonderschule für Lernbehinderte - heute euphemistisch Förderschule genannt - landen, dass sie häufiger Klassen wiederholen müssen und den geringer angesehenen Schulformen im gegliederten Schulsystem, vorwiegend der Hauptschule, zugewiesen werden und keine Ausbildungsstelle erhalten. Auch im Zugang zu einer beruflichen Ausbildung bestehen Diskriminierungen gegenüber Jugendlichen mit ausländischem Hintergrund, die in Konkurrenz mit deutschen Jugendlichen selbst dann nicht genommen werden, wenn sie gute Schulabschlüsse und solide Fähigkeiten haben. Sie haben deutlich geringere Chancen als gleich qualifizierte deutsche Jugendliche.

Auf der Grundlage vorhandener Untersuchungen lässt sich nicht belegen, dass die Ursache für die festgestellten Benachteiligungen in der Diskriminierung durch die Schule liegt. Die Untersuchungen weisen aber darauf hin, dass es nicht richtig ist, nur die eine Seite zu berücksichtigen: die Fähigkeiten und den sozialen und kulturellen Hintergrund der Schüler und Schülerinnen mit ausländischem Hintergrund, die Familienbedingungen, das Aufwachsen in zwei Sprachen und Kulturen. Wird die Bevölkerung, so auch die Kieler Bürgerinnen und Bürger, nach dem Zugewanderten gefragt, werden sie sehr schnell diese als problematische Gruppe bezeichnen. Erhalten Lehrer und Lehrerinnen die Namenslisten der Kinder der Klasse, die sie übernehmen sollen, und sind darunter zehn oder mehr ausländische Namen, wird die Klasse nicht selten von vorneherein als problematisch angesehen, obgleich ein ausländischer Name alleine heute in vielen Fällen nichts über die Biographie und die Fähigkeiten des Kindes aussagt.

Migrantenkinder

Zweisprachigkeit und Bikulturalität der Kinder finden in der monokulturell geprägten Bildungssituation keine Entsprechung

Gehen wir noch einen Schritt weiter und hinterfragen das deutsche Schulsystem grundsätzlicher. Wie wird in ihm mit Kindern ausländischer Herkunft umgegangen? Die Ministerin des Landes Schleswig-Holstein hat in ihrer Einführung von der persönlichen und kulturellen Identität gesprochen, und zwar in sehr beeindruckender Weise. Diesem Konzept kann ich ohne Einschränkung zustimmen, denn es führt weg von der Idee, die Zugewanderten den deutschen Vorstellungen anpassen zu wollen. Anpassung in kultureller oder in religiöser Hinsicht würde dem Grundverständnis einer pluralistischen Gesellschaft widersprechen. In einer pluralistischen Gesellschaft müssen wir - um z.B. im öffentlichen und beruflichen Bereich kommunizieren zu können - private Werte und Orientierungen ausklammern. Jeder muss mit Personen zusammenarbeiten können, die andere Werte vertreten und andere Interessen besitzen. Den Zugewanderten muss wie den deutschen Nachbarn und Arbeitskollegen das Recht auf eigene Werte und Orientierungen zugebilligt werden, ohne besondere Einschränkungen, aber selbstverständlich für alle Mitglieder der Gesellschaft im Rahmen der deutschen Rechtsordnung.

Die zugewanderten Kinder und Familien haben das Recht auf die Wahrung ihrer kulturellen Identität. Dazu gehört auch das Recht auf die Wahrung der Herkunftssprache der Eltern und Großeltern als Minderheitensprache. Es ist unstrittig, dass alle in Deutschland lebenden Zugewanderten und insbesondere die Kinder und Jugendlichen Deutsch lernen sollen und zwar so gut wie eben möglich. Familie, Schule und Öffentlichkeit sollen alles investieren, um den Prozess des Lernens der deutschen Sprache zu unterstützen. Es ist aber ebenso unzweifelhaft, dass Kinder aus zugewanderten Familien (fast) immer zweisprachig aufwachsen. Über die Familie, die Verwandten, die ethnische Gruppe, die Medien, erleben und lernen sie die Herkunftssprache. Die Bildungspolitik und das öffentliche Bewusstsein ignorieren diesen Teil des Aufwachsens der Kinder, ihre Herkunftssprache und darüber ihre Herkunftskultur, nahezu völlig. Die Zweisprachigkeit und Bikulturalität der Kinder finden in der monokulturell geprägten Bildungssituation, in der Schule wie im außerschulischen Kontext, keine Entsprechung. Es ist sonst nicht verständlich, dass der Muttersprachunterricht nicht als Teil der deutschen Schule behandelt, sondern den Herkunftsländern überlassen wird. Die Bewahrung und Förderung der Zweisprachigkeit muss wieder als Aufgabe von Schule und Bildung wahr- und angenommen werden. Zurzeit geht Deutschland mit dem ungeheuren Potenzial, das in der Zweisprachigkeit der Kinder und Jugendlichen aus Zuwanderfamilien liegt, äußerst leichtfertig um.

Ausländische Eltern haben ein sehr hohes Interesse an der Bildung und an dem Schulerfolg ihrer Kinder

Kommen wir zu einem Thema, das uns alle bewegt: die Eltern der zugewanderten Kinder. Es ist richtig, dass wir an die Eltern Forderungen stellen können und müssen. Nur: wer sagt ihnen eigentlich, was sie tun sollen? Die ausländischen Eltern - so wird vieler Ort verkündet - sollen mit ihren Kindern im familiären Raum deutsch sprechen. Halt, sagen die Pädagogen und Pädagoginnen, das sollen sie nur dann, wenn sie selbst einwandfrei Deutsch sprechen, gemessen an der sozialen Schicht. Sonst lernen die Kinder ein falsches Deutsch und die Bildungseinrichtungen stehen vor der Aufgabe, dieses zu korrigieren. Bei einem Teil der Familien ist es sinnvoller, den Bildungsinstitutionen und den Medien die Aufgabe der (Erst)Vermittlung der deutschen Sprache zu übertragen.

Ein zweiter Gedanke ist mir im Bezug auf die Eltern wichtig: Familien mit Migrationshintergrund wissen sehr wohl, dass sie ihre Kinder in der deutschen Gesellschaft platzieren müssen. Sie wissen, dass sie Basiskompetenzen legen, Motivationen hervorrufen und adäquate Lernbedingungen schaffen müssen. Seit nahezu dreißig Jahren belegen eine Vielzahl von Untersuchungen, dass ausländische Eltern ein sehr hohes Interesse an der Bildung und auch an dem Schulerfolg ihrer Kinder haben. Dieses kommt aber nicht in der Form zum Ausdruck, wie es Lehrer und Lehrerinnen erwarten und erhoffen: sie kommen nicht zu den Elternabenden, nicht zu den Sprechstunden, erkundigen sich nicht nach den Schulleistungen ihrer Kinder und anderes mehr. Sie sind bildungsorientiert, aber sie setzen diese allgemeine Wertschätzung von Bildung und den Wunsch, dass ihr Kind "etwas werde, einen guten, möglichst akademischen Beruf lerne" nicht in das Handeln um, das die Schule von ihnen erwartet. Sie besitzen Distanz zur Schule und die Schule bietet ihnen wenig Raum, ihre Vorstellungen und Ängste zu thematisieren. Nicht wenige Eltern lassen ihren Kindern sogar bezahlten Nachhilfeunterricht zukommen, was für eine hohe Bildungsorientierung spricht.

Das Verhältnis zwischen Eltern mit ausländischem Hintergrund und Schule ist hoch kompliziert. Den Eltern fehlt teilweise der Zugang zu der Bildungseinrichtung Schule und ihren Formen der Mitbestimmung. Das schulische Personal hat nicht selten ein Bild von Eltern ausländischer Herkunft, das einen Zugang zu ihnen verhindert. Dieses Bild teilen sie mit vielen Deutschen, die in der Beratung von Zugewanderten tätig sind sowie mit der Öffentlichkeit. Dieses Bild teilt die Eltern in zwei Gruppen ein: Die erste Gruppe von Eltern ist nicht ausreichend über das Schulsystem und über die deutsche Gesellschaft informiert, mit Hintergründen nicht vertraut, so dass unterstützende Maßnahmen notwendig sind. Es gibt eine zweite Gruppe von Eltern, die hat (und vor allem: macht) keine Probleme; sie werden als "wie Deutsche" eingeordnet, sie werden als integriert angesehen. Es gibt selten völlig uninformierte und noch seltener völlig angepasste Elternteile.

Die Orientierungen der SchülerInnen mit ausländischem Hintergrund sind eher ausgefächerter und differenzierter als die der deutschen

Es ist notwendig, die Elterngruppe auszudifferenzieren. Eine mögliche Differenzierung ist die nach der Wanderungsgeschichte. Schüler und Schülerinnen können Eltern haben, von denen Vater und Mutter ihre Sozialisation in einem anderen Land erfahren haben, bei anderen ist ein Elternteil in Deutschland, der andere in einem anderen Land mit anderer Kultur und Sprache aufgewachsen, bei wieder anderen sind beide Elternteile als Kinder von Zugewanderten in Deutschland geboren worden und aufgewachsen. Die Bedingungen für das Aufwachsen sind in diesen drei Fällen deutlich unterschiedlich. Noch komplizierter wird es, wenn andere Differenzierungen zusätzlich berücksichtigt werden: Eltern, die eine weitgehende Anpassung an die deutsche Gesellschaft anstreben, um ihren Kindern in dieser Gesellschaft Chancen zu eröffnen, Eltern, die eine Balance zwischen den Werten der deutschen Gesellschaft und der in der ethnischen Subkultur geltenden Vorstellungen versuchen und Eltern, die sich an den Werten der eigenen Ethnie orientieren, schaffen unterschiedliche Sozialisationsbedingungen. Daneben und zusätzlich gibt es Unterschiede nach ethnischer (nationaler) Herkunft und Wohnkontext (ethnisches Ghetto, Zuwanderungsmilieu, deutsches Umfeld, sowie Stadt - Land), aber auch nach dem Bildungshintergrund der Eltern und der sozialen Schicht der Familien.

Die Lebensbedingungen und die Orientierungen der Schüler und Schülerinnen mit ausländischem Hintergrund sind eher ausgefächerter und differenzierter als die der deutschen. Eine Reduzierung auf "Ausländer" oder gar "Türke" entspricht nicht der Wirklichkeit und erschwert den Zugang. Daher muss das Bild von Eltern und Kindern mit ausländischem Hintergrund ständig überprüft und korrigiert werden. Es ist sinnvoll und notwendig, im Dialog mit den Eltern ein gemeinsames Bild vom Bildungsprozess, den Voraussetzungen und den Schwierigkeiten der Kinder zu erarbeiten.

Es ist ferner notwendig, die kulturellen Vorstellungen der zugewanderten Eltern ernst zu nehmen. Die Erziehungsvorstellungen mancher, wahrscheinlich vieler Eltern weichen von denen deutscher Eltern ab: Sie sind mehr auf die Familie ausgerichtet, weniger individualistisch orientiert. Die Orientierungen sind in vielen Familien anders, aber sie sollten nicht in einer Art Vorverurteilung als schlechter, als der Integration hinderlich eingeordnet werden. Die deutsche Öffentlichkeit und nicht selten auch die Lehrer und Lehrerinnen leisten sich Widersprüche: Der Individualismus der deutschen Jugend, deren fehlende Einbindung in Normen und Werte wird beklagt, gleichzeitig wird die Wertbindung und der Traditionalismus der Eltern sowie Kinder und Jugendlichen mit ausländischem Hintergrund als Integrationshemmnis beklagt. Ebenso wird mit einer religiös geprägten Lebenseinstellung umgegangen: Bei den deutschen Jugendlichen wird fehlende religiöse Bindung als Mangel bedauert, bei den Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund wird eine orthodoxe religiöse Bindung als trennend behauptet. Traditionalistische und wertorientierte Grundhaltungen sowie religiöse Bindung und auf diesen beruhende Wertvorstellungen sind Potenzial und sollten Ausgangspunkte für Dialoge zwischen Elternhäusern und Schule darstellen. In der Abwertung der anderen Religion mag bei machen Personen die Trauer über den Verlust der eigenen Religion, insbesondere bei den Jugendlichen, mitschwingen. Gerade dann könnte ein nicht von Vorurteilen verstellter Dialog zwischen Menschen verschiedener Religionen und - was weitaus wichtiger ist - verschiedener religiöser Bindungen produktiv sein.

Es genügt nur selten, die Kinder und Jugendlichen ausländischer Herkunft über ihre Eltern in ihren Kompetenzen wahrzunehmen und zu beschreiben. Kinder ausländischer Herkunft sind überwiegend Personen, die zweisprachig und mehrkulturell aufgewachsen sind. Es sind überwiegend Personen, die es schaffen, ihre Identität trotz der Behinderung durch Diskriminierung und trotz widriger Umstände des Umfeldes zu bewahren und zu finden. Wenn wir erreichen, dass die Eltern merken, dass wir die Zweisprachigkeit und Bikulturalität ernst nehmen, dass wir sie kennen und hoch schätzen, dann haben wir schon viel erreicht. Die Kompetenzen der Eltern in der Erziehung der Kinder müssen aufgegriffen und gestärkt werden. Die Eltern haben Kompetenzen. An diesen Kompetenzen muss angesetzt werden und nicht an dem, was die Eltern nicht können (sie können nicht die deutsche Sprache vermitteln, nicht die Kinder auf die deutsche Gesellschaft vorbereiten, so wird behauptet). Und dann kommt noch etwas ganz Schwieriges: Die Eltern müssen befähigt werden, sich gegen negative Zuschreibungen zu wehren. Unsere Bilder über Türken in Deutschland sind negativ, wie durch Untersuchungen belegt wird. Diese negativen Bilder haben Rückwirkungen auf die Eltern. Die Eltern setzen sich ständig damit auseinander, ebenso die Kinder, die wissen, wie deutsche Mitschüler und Mitschülerinnen sie wahrnehmen und (negativ) bewerten. Wir müssen uns fragen, wie wir erreichen können, dass die Eltern mit ausländischem, insbesondere mit türkischem Hintergrund, obwohl sie die durchgehend schlechte Meinung eines Großteils der deutschen Bevölkerung auch in der näheren Umgebung über ihre ethnische Gruppe kennen, sich dennoch mit den Werten und Orientierungen dieser Gesellschaft und den Bildungseinrichtungen auseinandersetzen.

Die Kinder mit Migrationshintergrund werden in Deutschland in zehn, zwanzig Jahren 60 Prozent der Kinder ausmachen

Im Moment bedeutet Schule für die Kinder mit Migrationshintergrund genauso wie für ihre Eltern deutlich mehr Frust als Lust. Wenn Schleswig-Holstein es schaffen würde, dass etwas mehr Lust Raum gewinnt - es muss ja nicht nur Lust sein - und diese Überlegungen ernsthaft diskutiert, würde es mir schon reichen.

Die Kinder mit Migrationshintergrund werden in Deutschland in zehn, zwanzig Jahren 60 Prozent der Kinder ausmachen, nicht weil die Eltern mit Migrationshintergrund viele Kinder kriegen, sie folgen überwiegend dem Zwei-Kinder-Modell wie die Deutschen auch. Aber 30 Prozent der deutschen Frauen (40 Prozent der Akademikerinnen) bekommen keine Kinder. Deutschland wird in zwanzig Jahren völlig anders als heute aussehen. Eine Katastrophe für unsere Gesellschaft wäre folgendes Szenario: Ein erheblicher Teil von Kindern mit Migrationshintergrund und einige deutsche bekommen weder Beruf noch Arbeit, weil ihnen die schulischen Voraussetzungen fehlen, und gleichzeitig kommen 300.000 Ausländer pro Jahr als angeworbene Arbeitskräfte in das Land, die dann die entsprechenden Positionen einnehmen. Wir alle haben die gesellschaftspolitische Verantwortung dafür zu sorgen, dass wir die Bildungsreserven, die wir in den Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben, ausschöpfen. Wir alle können uns an dieser Frage nicht mehr vorbeimogeln.

Ursula Boos-Nünning

Das vollständige Redemanuskript kann bei der Gegenwind-Redaktion angefordert werden: redaktion@gegenwind.info.

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