(Gegenwind 179, August 2003
Es handelt sich um einen der ältesten Konflikte auf unserem Planeten: Vor über hundert Jahren entstand die zionistische Bewegung in Europa, und europäische Juden begannen, Siedlungen in Palästina anzulegen. Doch die Frage, ob solch ein Siedlungskolonialismus auch friedlich verlaufen kann, blieb theoretisch. Denn in den letzten hundert Jahren waren fast alle Großmächte, Regionalmächte und Nachbarstaaten immer mit ihren jeweiligen Interessen präsent - angefangen vom Osmanischen Reich, Großbritannien über Frankreich und Deutschland bis hin zur Sowjetunion oder Russland und immer den USA.
Wer über den "Nahost-Konflikt" schreibt, bleibt selten neutral, auch bei noch so hohem Anspruch. Bei israelischen oder palästinensischen Autorinnen und Autoren ist das normal, aber auch fast alle anderen Autorinnen und Autoren kommen aus Ländern, die in der Vergangenheit oder der Gegenwart in den Konflikt verwickelt waren, meistens haben sie damit die Konflikte verschärft.
Erschwerend kommt hinzu, dass dieser Konflikt immer wieder religiös begründet wurde und wird. Zwar gibt es im Judentum keine "Verheißung" eines "heiligen Landes", das in Besitz zu nehmen wäre, genauso wenig wie der Islam irgendeinen "arabischen Boden" kennt. Politische Ideologen haben diese Ansprüche erfunden und sich darum bemüht, sie auch religiös zu begründen, und viele Beteiligte glauben nur zu gerne daran.
Im Folgenden sollen einige Bücher vorgestellt werden, die "den Nahost-Konflikt" behandeln oder zumindest einen Teilaspekt davon. Dabei fällt es mir auch selbst aus den oben genannten Gründen schwer, verschiedene Ansätze von Autorinnen und Autoren zu vergleichen - oft gibt es nicht ein "besseres" oder "schlechteres" Buch dazu. Und bei der Fülle der Literatur zum Nahost-Konflikt bleibt es auch zum großen Teil dem Zufall überlassen, welche Bücher einem in die Hände geraten.
Alain Gresh ist Chefredakteur von Le Monde diplomatique und hat dieses Buch für seine Tochter und alle Jugendlichen um die zwanzig Jahre herum geschrieben. Es soll eine einfache Einführung in die komplizierten Zusammenhänge sein, und das ist ihm sehr gut gelungen.
Im ersten Kapitel geht es um die Entstehung des Konfliktes, beginnend mit den britischen Versprechungen während des Ersten Weltkrieges. Das beginnt mit dem Versprechen an arabische Führer, mit ihnen zusammen gegen die Herrschaft des Osmanischen Reiches zu kämpfen und im Gegenzug die Gründung eines arabischen Königreiches mit Damaskus als Hauptstadt zu unterstützen, das von Ägypten bis zur Türkei reichen sollte. Gleichzeitig versprach man dem Jüdischen Weltkongress, sich für eine "Heimstatt der Juden" in Palästina einzusetzen (allerdings, so wurde wieder arabischen Führern versichert, ohne die Rechte der dort wohnenden Bevölkerung zu beieinträchtigen). Waren diese beiden Versprechen taktisch bedingt, um Verbündete im Weltkrieg zu gewinnen, wurde ein ernsthaftes Abkommen mit Frankreich abgeschlossen: Die Beute sollte geteilt werden. Irak, die Golfstaaten, Palästina und Jordanien sollten britische, Syrien und Libanon französische Kolonien werden.
Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, was ein Jude ist, was eine Nation ist und erläutert die Legende von den "Hebräern", dem angeblichen Ursprung der europäischen Juden. In einem längeren Abschnitt folgt eine Einführung in den Zionismus, der zur Zeit seiner Entstehung noch nicht von einem künftigen jüdischen Staat in Palästina ausging, sondern eher Madagaskar oder Uganda als Kolonialgebiet für europäische Juden sah.
Zum Gründungsmythos Israels wurde erst der Krieg 1948/49, mit dem Palästina unterging. Jahrelang gehörte es zum Geschichtsunterricht an Israels Schulen, diesen Krieg als primitive jüdische Verteidigung gegen eine erdrückende arabische Übermacht darzustellen, erst seit den siebziger Jahren gibt es auch in Israel kritische Historiker, die die Fakten, die hinter diesem Mythos stehen, erforschen.
Völkermord und Vertreibung heißt ein weiteres Kapitel des Buches. Hier fasst der Autor den Völkermord an den Juden Deutschlands und der besetzten Gebiete zusammen, mehr noch geht es ihm aber um die heutige Diskussion dazu. Als französischer Redakteur setzt er sich schwerpunktmäßig mit gewissen "Auschwitz-Leugnern" Frankreichs auseinander. Mehr noch geht er aber auf den Stand der Diskussion in Israel und in arabischen Staaten ein. So gibt es in Israel die extremen Positionen, wegen des Völkermordes an Juden in Deutschland habe niemand das Recht, Israel wegen Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren. Andere vertreten, gerade wegen des Völkermordes in den deutsch besetzten Gebieten hätte Israel die Pflicht, die eigene Besatzungspolitik besonders kritisch zu beobachten. Hier geht der Autor auch gesondert auf die Massaker und die Vertreibungspolitik ein, die die Gründung des Staates begleiteten. Dreißig Jahre lang war das in Israel ein Tabuthema, und bis heute weigern sich viele Israelis, sich mit dieser dunklen Geschichte auseinanderzusetzen.
Im letzten Kapitel geht es um die israelische Besatzungspolitik 1950 bis 2002 und die Chancen für einen Frieden. Ausführlich geht der Autor dabei auf die Position von Ariel Scharon ein. Der neue Anlauf der USA, nach dem siegreichen Krieg gegen den Irak einen Friedensvertrag für Israel und Palästina durchzusetzen, wird in diesem Buch natürlich noch nicht berücksichtigt.
Alain Gresh: Israel - Palästina. Die Hintergründe eines unendlichen Konflikts. Rotpunktverlag, Zürich 2002, 192 Seiten mit einigen farbigen Karten, 19,80 Euro.
Israel ist, auch bedingt durch die Geschichte, ein militärisch organisierter Staat - die gesamte Organisation der Gesellschaft ist den militärischen Erfordernissen, wie der Staat sie definiert, untergeordnet. Uta Klein, Sozialwissenschaftlerin der Fachhochschule Kiel, hat untersucht, wie sich diese Gesellschaftsstruktur auf das Geschlechterverhältnis auswirkt.
Natürlich ist Israel eine offene, westliche Gesellschaft. Aber die tatsächlichen Verhältnisse differieren erheblich von dem Bild, das der Staat in der westlichen Welt gerne abgeben würde. Denn auch die Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein Punkt, den Israel gerne auch gerade als Unterschied zur palästinensischen oder islamischen Gesellschaft gerne betont.
Bekannt ist hierzulande sicherlich ebenfalls, dass in Israel auch Frauen zum Militär eingezogen werden. Unbekannter ist schon, dass das in der Praxis eher selten passiert. Religiöse Juden werden sowieso nicht zur Armee eingezogen, das ist bei Männern genauso, aber die gibt es in Israel relativ wenig. Frauen werden aber schon automatisch vom Militärdienst freigestellt, wenn sie verheiratet sind, und dass betrifft schon einen großen Teil der gemusterten Jahrgänge.
Die Begründung des Staates ist einfach: Sie sollen lieber Kinder bekommen. Aber auch die Frauen, die zur Armee kommen, werden von wichtigen Bereichen ausgeschlossen. Sie dürfen nicht zu Kampftruppen, dürfen keine Pilotenausbildung machen, und seit religiöse Parteien an der Regierung beteiligt sind, dürfen Frauen auch nicht mehr Auto fahren. Der Wehrdienst ist kürzer, ebenso die Ausbildung, und Frauen werden nicht später zu Reserveübungen einberufen.
Auch der normale Dienst unterscheidet sich erheblich: Frauen werden in hoher Zahl als Lehrerinnen abgestellt, um zum Beispiel in Schulen für die Armee zu werden. Sie müssen bei Truppenbesuchen ausländische Soldaten, z.B. Besatzungen ausländischer Kriegsschiffe, betreuen. Erst nach massiven Protesten von Eltern gab die Militärführung 1996 einen Befehl heraus, dass Soldatinnen nicht mehr als "Hostessen" eingesetzt werden dürften. Außerdem haben fast alle Offiziere eine Assistentin, die "Kompaniesekretärin". "Eine andere Freundin, die auf einem Luftwaffenstützpunkt diente, erzählte mir, die neu eingerufenen Soldatinnen wurden wie Waren in einem Regal zur Schau gestellt und Vertreter der unterschiedlichen Einheiten kamen einer nach dem anderen - entsprechend ihrem Rang in der örtlichen Hierarchie - herein, um sich ihre Büroangestellten auszusuchen. Der erste nahm die hübscheste der jungen Frauen, der Rest bekam die weniger attraktiven."
Die Autorin beschreibt aber hauptsächlich die Wechselwirkungen, wie sich die zentrale Bedeutung der Armee in der Gesellschaft auf die Rolle der Frau auswirkt. Fast alle Arbeitgeber, nicht nur Rüstungsbetriebe oder Wachdienste, nehmen Einstellungen auch nach dem Entlassungszeugnis der Armee vor. So gut wie alle führenden Politiker des Landes sind ehemalige erfolgreiche Offiziere, meistens zu irgend einer Zeit im Stab der Armee gewesen. Das bedeutet umgekehrt, dass für Frauen alle höheren Stellen im Zivilleben ungleich schwerer zu erreichen sind - denn außerhalb der Kampftruppen gibt es viele Beförderungsmöglichkeiten überhaupt nicht. Insofern bleibt den Frauen, die in der Armee dienen, nur die abhängige Rolle: Sie müssen Kompaniesekretärin eines erfolgreichen Offiziers gewesen sein, um im Zivilleben ebenfalls eine höhere Stellung erreichen zu können.
Der heutige Staat Israel ist aber nicht nur durch die starke Stellung des Militärs geprägt, sondern die "offizielle" Geschichtsschreibung reduziert auch viele geschichtliche Ereignisse auf die militärischen Geschehen, alle vorkommenden Akteure sind deshalb auch männliche Helden. Das prägt die meisten Schülerinnen und Schüler, so dass jungen Frauen es auch häufig ganz normal finden, dass sie sich eben drum bemühen müssen, bei der zweiten Musterung nach der Grundausbildung eine "gute Figur" zu machen. Denn sie können durch den Armeedienst kein Prestige erringen, sondern nur hoffen, dass das Prestige "ihres" Offiziers auf sie abfärbt.
Die Autorin nimmt auch an, dass diese Rollenklischees ein Grund dafür sind, dass Frauen in Israel gerade in der Friedensbewegung führend sind. Umgekehrt führt das auch dazu, dass rechtsradikale Politiker ihre auch männlichen Gegner von der Friedensbewegung mit Vorliebe als "weiblich" bezeichnen und damit auch beleidigen wollen.
Die Rolle, die Frauen in der israelischen Armee zugewiesen wird, unterscheidet sich kaum von der in anderen Armeen, die Frauen einberufen oder einstellen (USA, Großbritannien, Niederlande, Dänemark...). Aber in kaum einem anderen Land ist der Militärdienst so zentral für die Position, die Jugendlichen im späteren Zivilleben erreichen können wie in Israel.
Übrigens berichtet die Autorin auch darüber, dass keineswegs alle Frauen sich klaglos in diese Rolle fügen. Öffentlich wahrnehmbare Proteste gibt es allerdings erst seit 1982. Bis dahin war die Rolle des Militärs in Israel unumstritten, KritikerInnen erreichten Zustimmung im Promillebereich. Erst seit dem Angriff auf den Libanon und die furchtbaren Massaker dort, für über zwei Drittel aller Israelis "ein Krieg zuviel", wird auch über die prägende Rolle dieser Institution für die Gesellschaft offener diskutiert. Allerdings sind die Kritiker, vor allem aber die Kritikerinnen noch immer in einer nahezu hoffnungslosen Minderheitsposition.
Uta Klein: Militär und Geschlecht in Israel. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2001, 353 Seiten, 34,90 Euro.
Die meisten Kritiker Israels sehen nur die Besatzungspolitik, beschuldigen die Armee, Kinder zu ermorden oder Demonstranten ohne Gerichtsurteil festzuhalten. Damit stößt man in der israelischen Öffentlichkeit vielfach auf Unverständnis. Denn die Armee gilt als einzige Institution des Staaten, die Sicherheit garantiert - und nach dem Völkermord an sechs Millionen Juden zwischen 1941 und 1945 ist Sicherheit die zentrale Frage.
Das Buch von Pedi Lehmann untersucht diese Sicherheits-Ideologie. Sie beschreibt, wie es dazu gekommen ist, dass Sicherheit in Israel fast ausschließlich als militärische Frage gesehen wird, obwohl sich im Rest der Welt heute SozialwissenschaftlerInnen weitgehend einig sind, dass das Militär nicht einmal eine zentrale Rolle beim Herstellen von Sicherheit spielen kann. Man muss aber natürlich sagen, dass sich auch in anderen Teilen der Welt PolitikerInnen und Offiziere selten um solche Erkenntnisse scheren.
Die Autorin beschreibt aber hauptsächlich, welche Wandlungen die Definition von "Sicherheit" in Israel seit 1948 durchgemacht hat. So war nach 1948 unumstritten, dass Israel zu klein sei, um einen Angriff zu überstehen - jeder drohende Krieg musste deshalb von Israel rechtzeitig angefangen werden. 1967 wurde Israel durch die Besetzung der Sinai-Halbinsel, des Westjordanlandes und der Golanhöhen so groß, dass es sich vor Überraschungsangriffen sicher glaubte - und stellte 1973 fest, dass die Grenze so nahe an den arabischen Zentren in Ägypten, Jordanien und Syrien lag, dass der Krieg ohne Vorwarnzeit begann.
Außerdem waren die Entfernungen zwischen den Fronten so groß, dass weder Treibstoff noch Munition reichten - obwohl Israel durch den Eroberungskrieg von 1967 glaubte, endlich die ersehnte Sicherheit durch ein großes Staatsgebiet erreicht zu haben, war man 1973 auf die Luftbrücke aus den USA angewiesen, also zu 100 Prozent abhängig geworden.
Damals begann auch in Israel eine Wende in der Diskussion: Mit Ägypten wurde, allerdings erst Jahre später, ein Friedensvertrag abgeschlossen. Er sah vor, die Sinai-Halbinsel wieder zu räumen. Im Gegenzug sagte Ägypten zu, die eigenen Truppen nicht in Grenznähe zu stationieren - für Israel stellte das eine Sicherheit dar, weil ein möglicher ägyptischer Truppenaufmarsch an der Grenze frühzeitig bemerkt werden könnte.
So entstand das Konzept "Land für Frieden" als neues Sicherheitskonzept neben der militärischen Verteidigung. Die Diskussion über die Ausdehnung des Landes als Voraussetzung für "Sicherheit" war sowieso mit der Entwicklung und Stationierung von Raketen in allen arabischen Nachbarländern erledigt. Die Armee blieb allerdings in ihrer Größe erhalten, die es Israel bis heute unmöglich macht, sie zu finanzieren - die hundertprozentige Abhängigkeit von den USA ist bis heute bestehen geblieben.
Der Fortschritt in der israelischen Sicherheitsdebatte zeigte sich auch 1982. Mit Ägypten war ein Friedensvertrag geschlossen, der das Prinzip der "strategischen Tiefe" (Besetzung der Sinai-Halbinsel) gegen das Prinzip "Land für Frieden" (Entmilitarisierung der Sinai-Halbinsel) getauscht hatte. Mit dem Angriff auf den Libanon versuchte die Rechte noch einmal, den Angriffskrieg als einzige Möglichkeit darzustellen - und scheiterte. Über zwei Drittel der israelischen Bevölkerung waren gegen diesen Krieg, und nach dem Tod von über tausend Soldaten der Besatzung musste Israel sich überstürzt zurückziehen.
In der heutigen Besatzungspolitik geht die Entwicklung langsamer voran. In der ersten Intifada überwog der Ansatz, sie durch militärische Repression niederringen zu können. Der Ansatz lag auch nahe, weil die Intifada spontan ausbrach und es auf palästinensischer Seite keine zentrale militärische Koordinierung gab, die PLO bemerkte die Entwicklung in der palästinensischen Gesellschaft zu spät. In der zweiten Intifada sorgten blutige Selbstmordattentate dafür, dass Israel die militärische Repression zurückschraubte. Hier zeigte sich erstmal, dass der Armeeeinsatz die Sicherheit im Kernland nicht größer, sondern im Gegenteil kleiner machte.
Die Abhängigkeit Israels von den USA, die die israelische Armee ausrüsten und bezahlen, macht sich jetzt stärker bemerkbar. Während des Kalten Krieges war Israel der einzige sichere Verbündete des Westens im Nahen Osten und konnte sich darauf verlassen, nie alleine zu stehen. Nach 1990 nahm die Bedeutung Israels für die USA rapide ab, und mit der Besetzung des Irak haben die USA jetzt selbst eine Armee im Nahen Osten stationiert, die der israelischen an Kampfkraft überlegen ist - wenn ein Angriff auf Syrien oder den Iran geplant wird, geht das völlig ohne Israel. Auch deshalb ist Israel heute darauf angewiesen, auf eine US-Forderung nach einem unabhängigen palästinensischen Staat einzugehen, zumal die eigene Bevölkerung mehrheitlich dafür ist. Gerade in der israelischen Bevölkerung hat sich die Meinung darüber, was der Sicherheit dient und was ihr schadet, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Selbstmordattentate geändert. Man ist zwar nicht mehrheitlich für eine Gleichberechtigung der Palästinenser, weiß aber inzwischen, dass das Militär die Sicherheit vor diesen Angriffen nicht garantieren kann.
Pedi D. Lehmann: Suche nach Sicherheit. Israel und der Friedensprozess in Nahost. Leske und Budrich Verlag, Opladen 2001, 315 Seiten, 24,90 Euro.
... hat das Buch von Georges Corm. Nicht nur das, beschrieben wird im Eingangskapitel der Zustand des Osmanischen Reiches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das betraf die Situation von Ägypten bis zum Balkan. Und hier wurden auch Vorentscheidungen getroffen, die den späteren Nahostkonflikt zumindest verschärften: Die Einführung der Wehrpflicht auch für palästinensische Untertanen der Hohen Pforte, sofern sie Land besaßen, führte zur Eintragung vieler Dörfer durch das "Dorfoberhaupt", um mit der Verpflichtung, jeweils nur einen Soldaten pro Dorf zu stellen, davon zu kommen. Als später die jüdischen Agenturen Land für Siedlungen ankauften, agierten die Erben dieser Dorfoberhäupter, inzwischen teilweise in Südfrankreich ansässig, plötzlich als Großgrundbesitzer: Während die jüdischen Siedler, die oft ihr letztes Hemd verpfändet hatten, vom ehrlichen Erwerb des Landes ausgingen, waren die palästinensischen Bauern häufig völlig überrascht durch die als Enteignung empfundene Inbesitznahme ihrer Felder.
Ausführlich untersucht der Autor die "Friedensregelungen" nach dem Ersten Weltkrieg, in dem Großbritannien Arabern und Juden weitgehende Zusagen gemacht hatte, letztlich aber der Nahe Osten zwischen britischer und französischer Kolonialherrschaft geteilt wurde. Besonderen Wert wird in dem Buch auf die Analyse der parallelen Entwicklung des Zionismus und des Wahabismus gelegt, die zu den beiden religiös begründeten Staaten Israel und Saudi-Arabien führten - als Reaktion betrogener Nationalismen, wie der Autor meint. So scheint es auch kein Zufall, dass diese beiden Staaten, die sich als Gegenpart zur britisch-französischen Kolonialherrschaft etablierten, die engsten Verbündeten der Konkurrenzmacht USA wurden. Denn schon Präsident Wilsons Prinzip vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1917 proklamiert, war ja nicht zuletzt zur Schwächung der europäischen Kolonialmächte und Weltmarktkonkurrenten bestimmt gewesen.
Den größten Raum im Buch nimmt die Entwicklung der arabischen Staaten und Gesellschaftsordnungen ein. Der Autor erläutert, wie die Herrschaftselite von 1950 bis 1970 praktisch ausschließlich durch Putsche an die Macht kam, parallel dazu entstand eine andere Elite aus "Ölmillionären". Die Revolution im Iran ist deshalb auch für den Autor untypisch.
Bei der Analyse der Entwicklung der arabischen Gesellschaften steht nie der Konflikt mit Israel im Vordergrund, der Autor streift das Thema aber immer wieder. Denn die Kriege mit Israel haben in die beschriebenen Entwicklungen immer wieder eingegriffen, und arabische Eliten, die bei der Regierung ihrer Länder versagten, haben denn auch immer die "Bedrohung" durch Israel zur eigenen Legitimation zu nutzen gewusst.
Das letzte Kapitel ist der Entwicklung im Libanon gewidmet. Hier handelt es sich um ein Land mit sehr gemischter Bevölkerung, aber großen Entwicklungschancen. Es hatte das "Pech", dass sich auf seinem Gebiet eine palästinensische Revolution und beginnende Staatenbildung abspielte, danach wurde das Land von der israelischen Luftwaffe und Armee völlig zerstört.
Der Autor analysiert hundert Jahre Geschichte mit der These, es könne eine Parallelität geben: So wie die "Balkanisierung" in Europa zum Ersten Weltkrieg führte, der einige Voraussetzungen für den Zweiten Weltkrieg schuf, genauso könne die "Libanisierung" die Gefahr eines Dritten Weltkrieges in sich bergen, weil mit Israel eine Atommacht an diesen Konflikten beteiligt ist. Der Autor plädiert entschieden dagegen, für den Nahost-Konflikt religiöse Wurzeln zu suchen, sei es im Judentum oder im Islam. Er sieht die größte Gefahr in den deformierten arabischen Gesellschaften und plädiert dafür, die Kräfte im arabischen Raum zu unterstützen, die in der Lage sind, einen "lebensfähigen Pluralismus" zu etablieren.
Georges Corm: Europa und der Nahe Osten. Modernisierung oder Barbarei? Horlemann Verlag, Bad Honnef 1997, 364 Seiten, 25 Euro
Die Marxistischen Blätter haben vor einem Jahr eine Schwerpunktnummer zum Nahen Osten herausgegeben. Es handelt sich hier nicht um eine umfassende Darstellung, sondern um ein Mosaik. In einzelnen Artikeln wird der Zionismus dargestellt, ebenso die verschiedenen Friedenspläne und ihre Aussichten. Ein weiterer Artikel stellt das Potential an Massenvernichtungswaffen vor, das Israel unterhält. In mehreren Beiträgen geht es um das deutsch-israelische Verhältnis: Die sogenannte "Wiedergutmachungspolitik" Adenauers etwa oder die Kehrtwende einiger Ex-Linker in Deutschland, die sich als "Antideutsche" jetzt Bush und Scharon als neue Helden erwählt haben, aber doch nur den traditionellen Antisemitismus in Form eines "Krieg dem Islam" wiederkäuen.
Am interessantesten sind für mich die beiden israelischen Beiträge in diesem Band: Amos Oz stellt die Ideologie der israelischen Rechten vor, Tanya Reinhart portraitiert Präsident Arafat und geht der Frage nach, ob Arafat eine Bedrohung für Israel darstellt bzw. welche Funktion diese These in der politischen Auseinandersetzung in Israel hat.
Marxistische Blätter 3-02: Brandherd Naher Osten. Essen 2002, 7,50 Euro
Reinhard Pohl