(Gegenwind 175, April 2003)
Als die USA in der Nacht vom 19. auf den 20. März den Irak angriffen, gingen Stunden später zehntausende Menschen auf die Straße. Zu Recht, dient der Krieg doch ausschließlich Großmachtinteressen - sicherlich nicht nur dem Öl, wie einige Parolen verkürzt sagen, aber das ist ein entscheidendes Motiv. Was auf Demonstrationen natürlich nur parolenartig, verkürzt gesagt werden kann, reicht aber nicht zur Problembeschreibung.
So ist zum Beispiel die Frage des Kriegsbeginns (dem "Tag X" der Demonstrationen) Definitionssache. Wer mit Flüchtlingen aus dem Irak, insbesondere Kurdinnen und Kurden, spricht, erfährt, dass sie seit den siebziger Jahren bis 1992 fast permanent "im Krieg" lebten, auch seitdem gibt es keinen Frieden, sondern nur einen sehr unsicheren Waffenstillstand. Zu hoffen ist also, dass sich viele derer, die sich gegen den Krieg der USA engagieren, ausführlicher informieren. Denn ein Engagement gegen den Krieg der USA ist noch kein Engagement für den Frieden im Irak. Zu einem Frieden gehört mehr - entscheidend ist zum Beispiel der Sturz des Diktators.
Das wohl gründlichste Buch über die Diktatur im Irak ist jüngst in der Reihe konkret texte erschienen. Im Sammelband Saddam Husseins letztes Gefecht? wird die Geschichte des noch jungen Staates Irak, von den Kolonalmächten England und Frankreich aus den Überresten des Osmanischen Reiches geformt, beschrieben. Gerade Großbritannien hatte damals sich widersprechende Zusagen gemacht, um Juden und Araber als Verbündete im Ersten Weltkrieg zu gewinnen. Während dem jüdischen Weltkongress eine "Heimstätte" (kein Staat!) in Palästina versprochen wurde, erhielten die arabischen Verbündeten Zusagen für einen großen arabischen Staat, der Palästina ohne fremde Siedler einschloss. Nach dem Krieg ging es, wie so oft: Beide Seiten wurden betrogen, der Nahe Osten unter den Mächten aufgeteilt.
Großbritannien gab dem Irak, entstanden aus drei Provinzen der Osmanen, bereits Ende der zwanziger Jahre eine Scheinselbständigkeit unter einem London-hörigen König, der erst 1958 gestürzt werden konnte. Dadurch entstand eine nationalistische, panarabische Bewegung, die seit Ende der sechziger Jahre der Alleinherrschaft der Baath-Partei zum Durchbruch verhalf. Entscheidend wurde hier der damals junge Geheimdienstchef Saddam Hussein, der die Aufgabe übernahm, durch ständige Säuberungen und der Einrichtung eines kleinteiligen Spitzel-Netzes die Herrschaft der Partei zu sichern.
Aus der Militärdiktatur und späteren Parteiendiktatur wurde dann eine Terrorherrschaft, die den Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu einer ständigen und unverzichtbaren Einrichtung machte. Beschrieben werden in dem Buch die beiden "Anfal"-Kampagnen, die Kriege gegen die kurdische Minderheit im Norden. beschrieben wird aber auch die Kampagne gegen die uralte Zivilisation in den Marschgebieten im Süden.
Diese inner-irakischen Kriege und Unterdrückungsfeldzüge wurden ebenso wie der Krieg gegen den Iran von der Sowjetunion wie den NATO-Staaten Deutschland, Frankreich und den USA unterstützt. Mit dem Angriff auf den Iran 1979, nach dem Sturz des Schahs von Persien, verhängte lediglich die Sowjetunion ein Waffenembargo, während die übrigen Staaten ihre Exporte erheblich steigerten. Frankreich konzentrierte sich auf die atomare Aufrüstung, den Ausbau der Luftwaffe und die Errichtung eines Atomreaktors. Deutschland kümmerte sich um die chemische Aufrüstung und die Weiterentwicklung von Raketen. Die USA lieferten biologische Waffen, z.B. Antrax-Kulturen, und unterstützten den Irak durch die Lieferung von Satelliten-Aufnahmen. Außerdem übernahm die US-Marine den Schutz irakischer Öltanker gegen iranische Angriffe.
Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit den "Flugverbotszonen" und der faktischen "Autonomie" des kurdischen Nordirak als Produkt der Flüchtlingsbekämpfung - die Autonomiebestrebungen werden soweit unterstützt, wie dadurch Flüchtlingsströme zum Stehen kommen und Asylanträge abgelehnt werden können, allerdings wird nichts zum effektiven Schutz und der wirtschaftlichen Absicherung dieser Autonomie getan.
Einige der Autoren/Herausgeber sind übrigens inzwischen zur US-Kriegsfraktion übergelaufen. Das wirkt sich zum Glück nicht auf die solide Qualität der sachkundigen Darstellungen aus. Lediglich im Vorwort wird Reklame für den (geplanten) Krieg der USA gemacht, und zwar mit der sehr dummen Begründung, die USA würden damit zum ersten Mal seit dem Sturz Hitlers den Versuch unternehmen, eine ausländische Regierung zu stürzen. Dass einige Befürworten der "neuen Weltordnung" der USA diese Parallele gerne ziehen wollen, ist klar - allerdings ist ebenso klar, dass Millionen von Hinterbliebenen der US-Kriege und Regierungsstürze zwischen 1945 und 2003 jubeln würden, wäre an dieser Behauptung auch nur ein Körnchen Wahrheit. Ebenso indiskutabel ist das Schlusswort von Andrea Woeldike, die der Friedensbewegung in Deutschland pauschal unterstellt, in Wahrheit Anhänger von Saddam Hussein zu sein. Sie belegt dies nicht, kann sie auch nicht, insbesondere weil es "die" Friedensbewegung überhaupt nicht gibt. Doch da dieser Quatsch nicht mehr als ein paar Seiten des Buches einnimmt, kann das nichts an der Empfehlung zum Lesen ändern.
Thomas v.d. Osten-Sacken / Arras Fatah (Hg.): Saddam Husseins letztes Gefecht. Der lange Weg in den III. Golfkrieg. KVV 2002, 283 Seiten, 14,80 Euro.
Dass im Norden des Irak, im kurdischen Gebiet, seit langem Krieg herrscht, ist weitgehend bekannt. Die Mehrzahl der Flüchtlinge, die aus dem Irak hierher kommen, sind schließlich Kurdinnen und Kurden. Bekannt ist auch der Angriff auf Halabja, wo an einem Tag über 5000 Menschen durch Giftgas getötet wurden. Übrigens: deutsches Giftgas wurde mit französischen Hubschraubern mit Hilfe US-amerikanischer Luftaufnahmen ins Ziel gebracht, und erst Jahre später, während des Golfkrieges der USA gegen den Irak, kam erste Kritik daran aus dem Westen.
Zwischen 1991 und 1996 besuchte die Schweizer Journalistin und afp-Korrespondentin Cristina Karrer zehnmal den Nordirak. Ihr Ziel waren jedes Mal die Barzani-Witwen in Seko. Dort hatte die irakische Armee im Zuge einer Offensive 1983 ungefähr 5000 kurdische Männer verschleppt, die seit dem spurlos verschwunden sind. Übrig blieben Dörfer wie Seko, in denen fast ausschließlich Frauen wohnen.
Cristina Karrer schildert das Leben im Nordirak, nicht nur in Seko, sondern auch Erbil, Zakho und anderen Orten. Sie gibt Gespräche mit KDP- und PUK-Vertretern wieder, beschreibt auch den Bürgerkrieg in Irakisch-Kurdistan 1994/95. Gute Freunde und Interviewpartner, der junge Gatte ihrer besten kurdischen Freundin und andere, die wir auf über 100 Seiten gut kennen gelernt haben, sterben in diesem Krieg. 1996 entscheidet die KDP den Krieg zu ihren Gunsten, indem sie sich mit Saddam Hussein verbündet und der irakischen Armee erlaubt, im Zuge einer Intervention in den Bürgerkrieg Hunderte von irakischen Oppositionellen zu verhaften.
Cristina Karrer schreibt strikt aus Frauensicht, auf Seiten der Frauen, die von Interviewpartnerinnen zu Freundinnen wurden. Sie nimmt keine Rücksicht darauf, ob Täter Kurden oder Araber, Oppositionelle oder Regierungsanhänger sind. So entsteht kein Schwarz-Weiß-Gemälde, von denen es in Zeiten des Krieges ohnehin viel zu viele gibt, sondern ein vielfarbiges Bild vom Leben (und Sterben) in Kurdistan.
Cristina Karrer: "Sie haben unsere Männer verschleppt..." Frauen und Krieg in Irakisch Kurdistan. eFeF-Verlag, Bern 1998, 190 Seiten, 17,20 Euro.
Im ganzen Kriegsgetöse geht eine Analyse über die wirtschaftliche Struktur des Irak sicherlich unter. Aber genau diese muss man kennen, wenn man über die Zukunft des Landes nach dem Krieg diskutieren will.
Herbert Strunz beschreibt die Geschichte des Irak seit der Herauslösung aus dem Osmanischen Reich durch die britische Armee bis heute. Noch mehr Wert legt er aber auf eine Beschreibung der Wirtschaftsgeschichte. Irak wurde seit den zwanziger Jahren zu einem Erdöl-Exportland. Unter Saddam Hussein begann dann die große Aufrüstung, gleichzeitig aber auch die Einrichtung eines Sozialstaates, der dem Diktator bis heute einige Loyalität sichert und von einer Besatzungsmacht auch berücksichtigt werden muss. Der Erdölreichtum war es auch, der die NATO-Länder durch die Bank zu begeisterten Waffenlieferanten machte, und zwar für konventionelle, atomare, biologische und chemische Waffen - schließlich war der Irak in der Boom-Zeit der OPEC schlicht und einfach Barzahler, und für illegale Geschäfte gab es keine Ausschreibungen und keine Sonderangebote.
Gleichzeitig wurde der Irak aber auch in schneller Geschwindigkeit vom Agrarland zu einem in gewisser Weise künstlichen Industrieland umgeformt. Das Land musste und muss Lebensmittel importieren, und auch die Industrie ist von Importen von Maschinen und Ersatzteilen abhängig. Als dies alles so organisiert wurde, schien der Ölreichtum endlos und jeder Krieg gewinnbar.
Mit der Niederlage gegen den Iran, mehr noch mit der Niederlage gegen die USA im Krieg um Kuweit (der aus der Niederlage gegen den Iran entstand) änderte sich diese Situation drastisch. Der Irak unterlag für über zehn Jahre einem Embargo. Durch die Importabhängigkeit in der Nahrungsmittelversorgung, aber auch bei den Maschinen, also auch der Versorgung mit Strom und Trinkwasser, dem Gesundheitswesen und so weiter wirkte sich das Embargo verheerend auf die Bevölkerung aus, führte zu Hunderttausenden von Toten.
Den 120 Seiten des Buches folgen dann 170 Seiten Anhang. Hier finden sich zum Beispiel alle UNO-Resolutionen, die das Embargo begründeten und die Abrüstung vorschrieben. Hier finden sich aber auch die Lieferbedingungen, die für Importeure gelten, denn das Buch wurde für die österreichische Wirtschaft geschrieben. So findet man zum Beispiel, selten genug, die Information, dass im von den USA genehmigten "Oil-for-Food-Programm" nur Firmen beteiligt werden, die Israel boykottieren, ausführlich wird das Risiko beschrieben, das Embargo-Brecher eingehen, die auf dem Landweg über Jordanien oder Syrien Geschäfte mit dem Irak machen.
Ansonsten ist es ein angenehm sachliches und "neutrales" Buch, was besonders denen entgegen kommt, die präzise und überprüfbare Informationen suchen, sich aber gerne ihre Gedanken und Meinungen selbst machen.
Herbert Strunz: Irak. Wirtschaft zwichen Embargo und Zukunft. Peter Lang Verlag, Frankfurt 1998, 307 Seiten, 57 Euro.
Reinhard Pohl
Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Rezension des Buches Göbel / Guelliard / Schiffmann: Der Irak. Ein belagertes Land im Gegenwind 169, Seite 33.